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Dezember 2000

Mephisto meets Karl Lagerfeld
Strawinskys Oper "The Rake īs Progress" in Darmstadt

Das uralte Thema des weltsüchtigen Jünglings, der auf der Suche nach Ruhm und Glück seine Seele dem Teufel vermacht, alles verliert und dennoch am Ende diesem nicht zum Opfer fällt, steht auch im Mittelpunkt von Igor Strawinskys im Jahr 1951 uraufgeführten Oper "The Rakeīs Progress". Bei der Auswahl stand zwar eine Bilderfolge des englischen Kupferstechers William Hogarth Pate, die Librettisten Hugh Auden und Chester Kallman haben diese jedoch in eine allgemeine Parabel über die zwei Seiten des Menschen erweitert.

Der junge Tom Rakewell steht zwar vor der Heirat mit der jungen Anne Trulove, wünscht jedoch eigentlich ein freies, aufregendes Leben ohne den Zwang Geld zu verdienen. Kurz: er wünscht sich (viel) Geld. In diesem Augenblick tritt Nick Shadow - Nomen est Omen - mit der Geschichte eines verstorbenen Erbonkels auf und entführt Tom zu angeblichen Erbverhandlungen in die sündige City. Dort führt er ihn umgehend in das Bordell von Mutter Goose ein, wo Tom schnell den Reizen der Halbwelt erliegt.

Während Anne ihrer Liebe nachweint und sich auf die Suche nach Tom macht, langweilt dieser sich im Wohlstand und beschließt schließlic auf Anraten des mephistophelischen Nic in einem Anfall von übermütiger Dekadenz, die bärtige  Zirkusdame Baba zu heiraten, weil nur eine weder von Leidenschaft noch von Vernunft getriebene Tat reine Freiheit ausdrücke. Anne muss den öffentlichen Hochzeitsumzug der beiden mit ansehen und wird von Tom weggeschickt, ohne jedoch ihrer Liebe zu entsagen.

Tom findet jedoch auch mit Baba kein Glück und wünscht nun, eine welterlösende Tat zu vollbringen, um sein Gewissen zu beruhigen. Nick redet ihm eine Maschine zur Verwandlung von Steinen in Brot ein, mit der Tom schließlich bankrott geht. Auf der Versteigerung seines Hab und Guts wird beinahe noch die buchstäblich von Tom sitzengelassene Baba versteigert, die dann jedoch dem Spuk ein Ende macht und der ebenfalls angereisten Anne rät, sich um Tom zu kümmern.

Diesem präsentiert Nick derweil die Rechnung: seine Seele. Er gewährt dem Verzweifelten jedoch noch eine letzte Chance in Gestalt eines Kartenspiels, das Tom schließlich durch die Kraft seiner wieder erweckten Liebe zu Anne gewinnt. So muss Nick sterben, lässt Tom jedoch noch wahnsinning werden, so dass auch er stirbt.


Anne mit Tom Rakewell und Vater Trulove

So einfach und beinahe märchenhaft diese Handlung erscheint, so pointiert bringt sie jedoch  menschliche und gesellschaftliche Strukturen zum Vorschein. Nick tritt zwar als Teufel auf, stellt in Wahrheit jedoch Toms "Alter Ego" dar, das seine verborgenen Wünsche in die Realität umsetzt.So ist Nick eigentlich nicht Toms Gegenspieler sondern sein untrennbarer Begleiter. Die Wünsche Toms sind als Kritik an einer Überflussgesellschaft zu verstehen. Der Wunsch nach der menschheitserlösenden Wohltat mit einer Geschäftsidee entlarvt einerseits den Antagonismus zwischen Kapitalismus und Altruismus und verweist gleichzeitig auf den untauglichen aber immer wieder unternommenen Versuch, ein Geschäft als soziale Wohltat zu verkaufen.

Die Inszenierung setzte auf hohes Tempo und deutlichen aber nicht überzogenen Zeitbezug. Viele aktuelle Assoziationen konnte der aufmerksame Zuschauer sowieso der Handlung und dem gut verständlichen englischen Text entnehmen, der überdies noch optisch in Deutsch eingeblendet wurde. Darüber hinaus hatte die junge Regisseurin Karoline Gruber auf optische und szenische Akzente gesetzt. So erschien zur Hochzeit von Tom und Baba die gesamte Schicki-Micki-Prominenz mitsamt Mafia-Bodyguards, und ein leibhaftiger Karl Lagerfeld mit grauem Pferdeschwanz und schwarzer Brille schaute traurig dem schönen Tenor nach. Grotesk auch die Versteigerung von Toms Hausstand, der nur aus eindeutig erotischen Versatzstücken aller Größenordnung bestand, oder die Lasterhöhle der Mutter Goose, die durch eine Kombination aus schwarzem Hintergrund und roten Dreieckselementen das Rotlicht-Milieu stilecht widergab.

Besonders beeindruckend war jedoch Toms abschließende Wahnsinnsszene , in der ein großer Block, einem Gebäude nicht unähnlich, weit in die Bühne ragt. Aus dem schwarz-roten Material ragen Köpfe und Arme von Geistern, die Tom in seinem Wahn sieht und die zu ihm sprechen. Aus einem der Löcher spricht auch Anne zu ihm, er aber sieht sich nur noch als Adonis, den Venus liebt, und sinkt schließlich tot neben dem bereits verschiedenen Nick nieder. Der Block und die Köpfe versinken langsam im Dunklen, und die letzten Akkorde des Orchesters beschließen die Aufführung.

Das Orchester unter der Leitung von Rüdiger Bohn bestach durch hohe Akkuratesse und Transparenz, ein besonders bei Strawinsky wichtiger Aspekt. Jede Stimme ließ sich einzeln verfolgen und die einzelnen Instrumente konnten ihre Klangfarbe und Intonation voll zur Geltung bringen. Das Zusammenspiel mit den Sängern auf der Bühne bewahrte in jeder Situation volle Synchronität.

Den einzigen Schwachpunkt dieses Premierenabends stellte die Technik dar: fiel doch durch einen Kabelbrand in der Pause die Drehbühne aus, so dass fortan alle Szenenwechsel per Hand durchgeführt werden mussten. Das Publikum nahmīs jedoch dank der spitzzüngig-humorvollen Ansprache von Intendant Umberg in der Pause ("Dieses Theater ist 30 Jahre alt!") mit Humor und Gelassenheit und dankte am Schluss allen Beteiligten vom Chor bis zur Regie mit begeistertem Beifall.

Strawinskys Musik setzt die Handlung in einer für die Entstehungszeit unerwartet harmonischen musikalischen Form um. Statt der von ihm aus früheren Stücken - man denke nur an "Le sacre du printemps" - gewohnten Radikalität findet man hier ausgearbeitete Motive und Themen, die zudem von einer Orchesterkonfiguration wie für eine Mozart-Oper intoniert werden. Und in die Arien und Zwischenspiele schleichen sich bisweilen Motive und Harmonien, die mal nach Mozart, mal nach Verdi und mal nach Händel klingen. So feiert auch das alte Rezitativ mit Cembalo-Begleitung eine Auferstehung und das Orchester bewegt sich manchmal im gravitätischen Tempo einer Barock-Oper. Alle diese Assoziationen wirken jedoch nie aufgesetzt oder gar epigonal, sondern sind sorgsam in Strawinskys musikalischen Duktus eingebettet und sind eher als musikalische Reverenz an die großen Vorgänger zu verstehen.


Andreas Wagner als Tom und Mary Anne Kruger als Anne

Doch zwischendurch bricht immer wieder der typische Strawinsky durch, wie man ihn zum Beispiel aus der "Petruschka" kennt. Dabei ist viel Humor und musikalischer Witz im Spiel, und das Orchester begleitet nicht nur die Sänger auf der Bühne sondern interpretiert die Handlung mit den eigenen Mitteln. Handlung und Musik sind so geschickt ineinander verwoben, dass nie Längen aufkommen und die Zuschauer bis zum Schluss in Bann geschlagen sind.

Die Solisten der Premiere komplettierten die beeindruckende Wirkung durch hervorragende Leistungen. Allen voran ist Andreas Wagner als Tom Rakewell zu nennen, der nicht nur stimmlich sowohl in den "Bravour"-Passagen als auch in verzagten, verzweifelten Momenten überzeugte sondern vor allem mit seinem schauspielerischen Einsatz bestach. Sowohl als übermütiger, lebenssüchtiger "Rake" wie auch als Verzweifelter, vom Glück und dem Teufel Verratener überzeugte er in jeder Sekunde  und beherrschte die Bühne.

Hans-Christoph Begemann stand ihm als sein "Schatten" nicht nur zur Seite sondern auch in der Leistung kaum nach. In der für ihn ungewohnten Rolle des abgebrühten und skrupellosen Teufels fühlte er sich offensichtlich wohl und kehrte die ambivalente Innenwelt dieser Rolle glaubwürdig nach außen: äußerlich den Interessen seines Schützlings verpflichtet, verfolgt er letztlich nur seine eigenen Ziele. Auch hier ist der Verweis auf die moderne Geschäftswelt nicht zu übersehen. Seine stimmliche Präsenz machte besonders die gemeinsamen Auftritte mit Andreas Wagner zu einem Erlebnis.

Mary Anne Kruger als Anne Trulove brillierte mit einer in allen Lagen samtweichen und dennoch raumfüllenden Stimme. Die Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Rolle waren zwar - bis auf den Beginn - auf das Leiden der verlassenen Frau beschränkt, aber dieses Leiden stellte sie mit hoher Intensität und ohne falsche Sentimentalität dar. In dem "Dreiecksverhältnis" der drei Hauptpersonen wirkte sie als weiblich-weicher Kontrast zu der rauhbeinig-bösartigen Männerwelt von Tom und Teufel.

Elisabeth Hornung entledigte sich des Parts der bärtigen Türkendame Baba mit Bravour und Witz. Ihre stimmlichen Qualitäten kennt man in Darmstadt zur Genüge, auch wenn sie diese an diesem Abend mangels großer Soloauftritte nicht in vollem Umfang ausspielen konnte.

Bliebe noch Dan Karlström als hinreißender Auktionator Sellem ("sell them"!) zu nennen, der die Versteigerung von Toms Hab und Gut zu einem wahren gesellschaftlichen "Event" werden ließ. Mit gefärbtem Haar und der typischen Verkäufer-Chuzpe wirbelte er den Haufen der gierigen Gläubiger gekonnt durcheinander.

Hans-Joachim Porcher hatte als Vater von Anne nur einen begrenzten Auftritt, der ihm natürlich kaum Gelegenheit gab, sein gesamtes Können zu demonstrieren.