Darmstädter Echo
29.9.2000

Ausblick auf "Tristan und Isolde" im Staatstheater Darmstadt

Von H.R.

Richard Wagners "Tristan und Isolde" hat am Samstag (30.) um 17 Uhr im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt Premiere - in der Inszenierung von Friedrich Meyer-Oertel, in den Bühnenbildern von Hans-Martin Scholder und den Kostümen von Eva Dessecker. Die Leitung hat Generalmusikdirektor Marc Albrecht. Gut viereinhalb Stunden soll die Aufführung (zwei Pausen inbegriffen) nach Angaben des Theaters dauern. Am Dienstag (3.) spricht Peter Wapnewski um 11 Uhr im Kleinen Haus über Wagners Werk: "'Tristan und Isolde': Ein traurig Stück".

"Liebe macht blind", sagt der Volksmund. Doch in Wagners "Tristan und Isolde" sei das Gegenteil richtig: "Liebe macht sehend", betont Friedrich Meyer-Oertel, Regisseur und Operndirektor am Staatstheater Darmstadt. Der Liebestrank sei ein Wahrheitselixier, ein Trank der Erkenntnis, ein Trank, der alle Sinne öffne, sagt Meyer-Oertel in einem Gespräch über seine Inszenierung. Der Liebestrank, den Tristan und Isolde zu sich nehmen, drücke nur aus, dass sie zu sich selber kommen.

Der Regisseur geht noch einen Schritt weiter, wenn er meint: "Eigentlich könnten Liebestrank und Todestrank identisch sein, denn die Menschen sagen angesichts des Todes die Wahrheit." Vor diesem Hintergrund ist den Liebenden klar: "Die Absolutheit ihrer Liebe ist in diesem Leben nicht zu erfüllen und mit der bürgerlichen Existenz in Einklang zu bringen." Sie sterben an ihrem Unvermögen, Liebe und Leben miteinander zu verbinden.

Ihre Liebessehnsucht ist zugleich Todessehnsucht; erst im Tod glauben sie ihre Liebe erfüllen zu können. Daher transzendiert Isolde am Ende der Oper ihre Liebe ins Kosmische hinein: "Soll ich schlürfen, untertauchen? Süß in Düften mich verhauchen? In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Weltatems wehendem All ertrinken (...)?"

Wagner sei es in seinem "Tristan" mehr um die Sehnsucht nach Liebe als um deren Erfüllung gegangen, sagt Meyer-Oertel. Denn Wagner habe einmal bekannt, er habe in seinem ganzen Leben das Liebesglück nie richtig erlebt. Sein Werk ist für den Regisseur vor allem ein Stück Sublimierung. Wagners "Tristan"-Musik besitze in einem kaum vorstellbaren Maß die Fähigkeit, diese Sehnsucht mit den Mitteln des Klangs, der Harmonik und der "unendlichen Melodie" auszudrücken. Tristan werde, erläutert der Regisseur, auch von der Sehnsucht verzehrt, "aus der Enge seines bürgerlichen Denkens herauszukommen". Er sei geradezu wahnsinnig vor Sehnsucht.

Marc Albrecht sieht das ähnlich. In der Partitur könne man heute noch spüren, welcher Sprengsatz in der musikalischen Sprache Wagners liege. Für ihn stoße Wagners "Tristan" das Tor zur Neuen Musik auf, gerade dieses Werk habe die Komposition der Zukunft maßgeblich verändert. Die Tonalität sei nicht mehr eindeutig und täusche daher die Hörerwartungen. Wagner gelänge es hier, die extremsten Ausdruckssphären zusammenzubringen. Das stete Verlassen tonaler Zentren erzeuge eine schwebende, nicht fixierbare Tonalität und führe zur unendlichen Melodie beim Hinübergleiten von einer Harmonie in die andere.

Auf diese Kunst des Übergangs, berichtet Albrecht, sei Wagner besonders stolz gewesen. Ganz nach innen gerichtet sei das Stück und damit ausgerichtet auf die unstillbare Sehnsucht des Protagonistenpaares. Deshalb gäbe es im "Tristan" weniger Dramatik als vielmehr Innenspannung. Bewusst habe Wagner sein Werk nicht Oper oder Musikdrama genannt, sondern nur "Handlung in drei Aufzügen". Der "Tristan" ist die letzte szenische Operneinstudierung, die Albrecht vor seinem Weggang im Januar 2001 betreut.

Nacht, Liebe und Tod sind die drei Begriffe, um die herum Meyer-Oertel seine Inszenierung anlegt. Kostüme und Mobiliar deuten auf die Wagnerzeit hin, in der er den "Tristan" spielen lasse, erklärt der Regisseur. Der erste Akt führe in eine kühle, der zweite in eine recht farbige Welt, gegenüber dem Grau des dritten Aktes, der einen leidenden Tristan vorstelle. Für Meyer-Oertel ist der zweite Akt mit seinen psychedelisch wirkenden Farben und Lichtspielen der Kern seiner Inszenierung, die sich seiner Ansicht nach manchmal auch dem Kammerspiel nähere.

 

Darmstädter Echo
5.10.2000

Darmstadt: Vortrag über "Tristan und Isolde"

Von Albrecht Schmidt

"Mein Kind, von Tristan und Isolde kenn' ich ein traurig Stück", hält Hans Sachs dem jungen Evchen vor, als diese in "kokett-fragender Provokation" dem ergrauten Witwer in dessen Schusterstube Avancen macht. Für Peter Wapnewski gehört jene Passage, bei der der "Tristan-Akkord im Orchester aufrauscht", zu den schönsten Stellen in Wagners "Meistersingern" und lieferte auch den Titel für seinen Vortrag "Tristan und Isolde: Ein traurig Stück" im Kleinen Haus des Staatstheaters Darmstadt.

Rhetorisch geschliffen, mit bildhafter, sich ins Poetische ausweitender Sprache beschreibt Wapnewski die ersten Takte des Tristanvorspiels als einen "tönenden Spannungskomplex", als Musik, die das herrschende musikalische System in Frage gestellt und Grenzen und Normen gesprengt hat. Der inzwischen 78 Jahre alte Professor, Mitglied der in Darmstadt beheimateten Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, verdeutlichte die Analogie solch radikaler musikalischer Umwälzungen mit der Thematik des Tristanstoffes: Auch Tristan und Isolde stehen außerhalb jeder Norm. Sie sind "unbürgerliche Bürger einer anderen Welt", nur ihrer Liebe verpflichtet, einer "Liebe, die nicht sein darf". Zur "erodierenden Sprengkraft der Liebe" markiere die "Gesellschaft eine Gegenmacht, personifiziert durch König Marke, der für Gesetz und Ordnung stehe, aber Gewalten ausgesetzt sei, die über seine Kräfte gingen.

Nach Ausführungen über die Wagnersche Werkgeschichte, die Einflüsse Schopenhauers und Novalis' auf das "Opus metaphysicum aller Kunst" (Nietzsche) ging Wapnewski auf die Allegorie des Liebestrankes ein, der den Ausweg aus der Unmöglichkeit einer gesellschaftsnonkonformen Liebe zeige: zunächst ein aphrodisierendes Mittel, bei Gottfried von Straßburg jedoch bereits eines der Entschuldung, werde er von Wagner konsequent mit dem Todestrank schicksal- und verhängnisvoll verbunden - ein Kunstgriff Wagners, den Wapnewski als wahren Geniestreich wertet.

Seinen immensen Überblick und seine Fähigkeit, mannigfache Verbindungen herzustellen, bewies der Literaturhistoriker mit einer Fülle von Bezügen aus der Literaturgeschichte: Wapnewski erwähnte bretonische, britannische, französische und altitalienische Tristan-Versionen, setzte den Schwerpunkt bei der "künstlerisch vollkommensten Ausprägung" durch Gottfried von Straßburg (um 1210) und erinnerte an Dantes Tristan-Replik sowie an spätere Adaptionen wie zum Beispiel durch Jonathan Swift, Yeats, Shaw, Joyce und Beckett.