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theatersaison 2000/2001

Gewagter Spagat
Tanz/Theater-Premiere im Doppelpack

Birgitta Trommler hat sich in Darmstadt im Laufe der letzten Jahre den Ruf einer mutigen Vertreterin des modernen Tanz/Theaters erworben, unter anderem mit der viel beachteten Inszenierung von "Gegenwart - ich brauche Gegenwart" über Ingeborg Bachmann. Die laufende Saison hat sie jetzt mit einer "Doppel-Inszenierung" eröffnet, die aus zwei weder inhaltlich noch formal verwandten Choreographien besteht: In dem ersten Stück - "Stronger than Fiction: M.M." - beschreibt sie mit den speziellen Ausdrucksmitteln des Tanz/Theaters das Leben der Maria Malibran, einem Opernstar des frühen 19. Jahrhunderts. Das zweite Werk setzt die bekannte Erzählung "Der Untergang des Hauses Usher" von Edgar Allen Poe mit den Mitteln der modernen Oper auf die Bühne.

[…] Nach einer zwecks Umbesinnung bewusst länger gehaltenen Pause begann die Oper "Untergang des Hauses Usher" von Philip Glass mit einer quälend langen Video-Installation auf dem großen Gaze-Vorhang vor der Bühne. Über zehn Minuten lang erscheint auf diesem transparenten Vorhang ein für das Fernsehen typisches Störungsbild in Schwarz-Weiß, während sich hinter diesem Vorhang schemenhaft Personen bewegen und im Orchestergraben das reduzierte Orchester die minimalistische Musik von Philip Glass wie eine Ouvertüre präsentiert. Trotz der monoton wiederkehrenden und selten wechselnden kurzen Motive wirkt diese Musik sehr melodisch und geradezu harmonisch. Der Tanz spielt in dieser Inszenierung keine Rolle, sieht man einmal von einigen pantomimischen Einlagen ab. Die Hauptpersonen - der erzählende Besucher Roderick (Peter Grønlund) und die Bewohner Madeline (Rosamund Cole) und William (Christoph Johannes Kögel) des "Hauses Usher" - artikulieren sich vor allem durch sparsame Gestik und einen Sprechgesang, der sich eng an die Musik anlehnt. Im Gegensatz zur klassischen Oper brillieren hier nicht die Solisten auf Kosten der Musik, sondern diese gibt ihnen ihren Part vor und erlaubt ihnen nur die Rolle eines Instruments. Die Personen treten als Individuen hinter das Geschehen zurück, das sich im Wesentlichen um die Wiedergabe der typisch Poe´schen Atmosphäre dreht.

Das Unheimliche, nicht Benennbare dieses Hauses, das sich nicht simpel auf die "Verrücktheit" seiner Bewohner reduzieren lässt, beherrscht das Bühnengeschehen. Die Geschwister William und Madeline scheinen Gefangene eines unentrinnbaren Schicksals zu sein, das den Besucher auslässt und diesem auch unverständlich bleiben muss, dem Geschwisterpaar jedoch vertraut und akzeptierter Teil ihres fast schon jenseitigen Lebens scheint.

Die Musik beschwört mit ihrem eindringlich-monotonen Klang eine unwirkliche und zunehmend bedrohliche Stimmung herauf. Alles schwebt, nichts ist sicher, und auf der Empore drehen sich die Tänzer in kleinen Verschlägen wie Spieluhren-Figuren umeinander und fügen sich gegenseitig in lustvoller Zeitlupe subtile Folterqualen zu. Diese der Fantasie Rodericks sich aufdrängenden Figuren runden das psychische Umfeld des so geheimnisvollen wie morbiden Hauses ab. Priester und Nonne in verboten- verdrängter Erotik, zwei Brüder im Matrosenanzug, die Jugend symbolisierend, ein bürgerliches Ehepaar: sie alle spiegeln die Obsessionen einer versinkenden Gesellschaft wider. Madeline stirbt erst geistig-seelisch und dann physisch, nachdem sie einsam vor sich her singend auf der Galerie entlang gewandelt ist. William folgt ihr am Schluss in einer inzestuösen Apotheose. Die Musik intoniert den bei Poe im Gewitter stattfindenden Untergang des Hauses mitsamt seinen Bewohnern mit bedrohlich aufwallender Instrumentation, am Schluss erstirbt das Bild in Dunkelheit.

Auch wenn man die englisch gesungenen Texte nur selten verstand, tat dies der Wirkung keinen Abbruch, wenn auch eine rudimentäre Kenntnis des Stoffes von Vorteil ist. Die unheimlich-bedrohliche Atmosphäre der Poe´schen Erzählung kommt überzeugend zum Ausdruck, und nur langsam erholt man sich am Ende von diesem Eindruck.

Das Publikum nahm diese Aufführung mit zwiespältigen Gefühlen auf. Neben Bravo-Rufen waren beim Defilé der Choreographen - vorneweg Birgitta Trommler - auch kräftige "Buuhs" zu vernehmen. Diese waren nicht zuletzt auf den breiten Spagat zwischen zwei so unterschiedlichen Stücken und die mangelnde Verständlichkeit der Usher-"Texte" zurück zu führen.