5. November 2001

Von der Diva zum Engel
Anouk Nicklischs fesselnde Tosca am Mainzer Staatstheater

Von Andreas Hauff

"Mehr Theater" hat man in Mainz zur Wiedereröffnung des Großen Hauses versprochen; und in der Tat jagen sich auf den drei Bühnen des Staatstheaters derzeitdiePremieren.AchtWochen nach Tosca an der Frankfurter Oper gibt es nun Puccinis Oper auch hier zu sehen. Keines der Häuser braucht sich für die Doublette zu schämen; beide Inszenierungen wissen zu fesseln. Und es nimmt der Frankfurter Aufführung nichts von ihren Qualitäten, wenn man feststellt, dass ihr Mainzer Pendant noch stärker unter die Haut geht.

Auch Anouk Nicklisch und ihr Bühnenbildner Ulrich Schulz bringen im ersten Akt ein Kirchenschiff auf die Bühne. Es scheint nach hinten eingesackt, und durch drei Risse in der Kuppel dringt anfangs noch die Sonne, als ob in die Welt der Kirche St. Andrea das Licht der Aufklärung schiene. Immerhin ist hier mit dem Maler Cavaradossi ein Freigeist und Voltaire-Leser am Werk, Doch zusehends verdüstert sich die Stimmung; der Mesner (Hans-Otto-Weiß) straft den Maler mit der Verachtung eines religiösen Eiferers. Der erste Tosca-Akt zeigt die Indienstnahme des Christentums zu ideologischen und persönlichen Zwecken.

John Wegner gibt den Scarpia nicht als ungehemmten Bösewicht, sondern als durchaus attraktive Erscheinung, als gewieften Profi mit taktischen Geschick und rücksichtslosem Machtinstinkt. Tosca, die Sängerin, kommt aus einer anderen Welt, wie ihr Geliebter Cavadarossi. Nicht nur erotische Anziehung verbindet die beiden, sondern auch die Begeisterung für Schönheit, Farben und Klänge, für unbeschwerte Heiterkeit. Dass die Kunst ihre Unschuld schon verloren hat, ist beiden so recht nicht bewusst.

Selten aber kann man so deutlich aus dem Orchestergraben hören, wie Brutalität und Zartheit aufeinandertreffen. Sorgfältig arbeitet GMD Catherine Rückwardt mit dem Philharmonischen Orchester des Staatstheaters Kontraste heraus, dämpft die Dominanz der Streicher, entfaltet die Akzente und Linien von Blech- und Holzbläsern. Auch an den exponierten Stellen im 2. und 3. Akt, an denen solistisch eingesetzte Streicher von den Gefühlen der Liebenden künden, wird im Mainzer Orchestergraben kein satter Schönklang abgerufen; mit Beklemmung erlebt man, wie erst Tosca und dann Cavaradossi eine bisher unerschlossene Dimension von seelischer Zerbrechlichkeit zuwächst.

Die Regisseurin konzentriert sich vor allem auf die Entwicklung der Titelfigur. Während Mitmenschlichkeit und politisches Bewusstsein Cavaradossi sagen, dass er den Flüchtling Angelotti zu schützen hat, ist die naive Diva schutzlos den physischen und psychischen Foltermethoden Scarpias ausgeliefert. Deutlich wird im zweiten Akt die quälende Nähe, die bei Verhören zwischen Opfer und Peiniger entsteht. Wie ihr Scarpia zum Gebet die Hände führt und sich dann sichtbar an die Stelle des angerufenen Gottes setzt, gehört zu den beklemmendsten Momenten dieser Inszenierung.

Mit Elizabeth Hagedorn steht eine hervorragende Hauptdarstellerin auf der Bühne, die mit jedem Ton und jeder Bewegung die dargestellte Rolle beglaubigt. Alexander Spemann (mit starker tenoraler Ausstrahlung, aber noch nicht ganz bruchlos geführter Stimme) ist als Cavardossi ein beachtlicher Partner. Auch die übrigen Rollen sind stark besetzt.

Auch Nicklisch lässt Tosca schließlich nicht von der Brüstung springen; freischwebend steht Elizabeth Hagedorn da, wie ein Engel, der zum Flug anhebt. Dass diese symbolische Überhöhung durch erheblichen technischen Aufwand an Wirkung verliert, ist eine der wenigen Schwächen einer starken Aufführung.

 


5. November 2001

Unter einer zerfallenden Kuppel
Anouk Nicklisch inszeniert Puccinis "Tosca" am Staatstheater Mainz

Von Klaus Trapp

Eine Kirchenkuppel, aus der wie nach einem Erdbeben Steine sich lösen, bildet in perspektivischer Verzerrung den Hintergrund für die Neuinszenierung der Puccini-Oper "Tosca" am Staatstheater Mainz. Dieses Bühnenbild von Ulrich Schulz begleitet alle drei Akte. Eine solche Beschränkung der bildnerischen Mittel gestattet der aus München stammenden Regisseurin Anouk Nicklisch, die zugleich die stilistisch freien Kostüme entworfen hat, sich ganz auf die inneren Vorgänge zu konzentrieren und ein Psychogramm der Hauptfiguren zu entfalten. Darin unterscheidet ihre Version sich von Alfred Kirchners Sichtweise, der vor zwei Monaten in Frankfurt eine plakativere Version der "Tosca" zur Diskussion gestellt hatte.

Die Symbolkraft der zerfallenden Kuppel wird - unnötigerweise - noch verstärkt durch weitere Sinnbilder: So fördert Tosca im Kirchenakt nicht nur ein Kruzifix, sondern auch einen Totenschädel zutage. Wie ein sich steigernder Pas de deux nimmt sich die Begegnung aus, die schließlich in der Ermordung des Polizeichefs gipfelt. Den Hirtengesang zu Beginn des Schlussaktes verweist Anouk Nicklisch ins Vorspiel bei geschlossenem Vorhang, so dass der in der Partitur vorgegebene Stimmungskontrast kaum zum Tragen kommt. Bewegend dagegen die letzte Szene, wenn Tosca nach der tückischen Erschießung des Geliebten nicht spektakulär in die Tiefe springt, sondern im Sprung gleichsam schwebend verharrt.

Catherine Rückwandt zielt mit dem Philharmonischen Orchester Mainz auf eine scharf konturierte Deutung der Musik. Es fehlen aber der Aufbau der großen Spannungsbögen und Differenzierungen in den lyrischen Momenten. Die Sopranistin Elizabeth Hagedorn gestaltet die Titelpartie mit ausdrucksstarker, variabler Stimme. Alexander Spemann als Cavaradossi beeindruckt im mittleren Register mit seinem klangvollen Tenor. Überzeugend in sängerischer wie darstellerischer Hinsicht ist John Wegner als Scarpia. Eine solide Leistung bieten die von Sebastian Hernandez-Laverny und Christoph Klemm einstudierten Chöre. Nach der Premiere am vergangenen Freitag gab es begeisterten Applaus für die Dirigentin, die Sänger und das Orchester, Regisseurin und Bühnenbildner bekamen neben Bravos aber auch Buhrufe zu hören.

 
Mainzer Allgemeine Zeitung
5. November 2001

Die Tragödie einer extravaganten Künstlerin
Giacomo Puccinis "Tosca" in der Inszenierung von Anouk Niklisch im Großen Haus des Mainzer Staatstheaters

Von Siegfried Kienzle

Starr wie eine Ikone steht Tosca an der Rampe und singt ihr Bekenntnis "Vissi d'arte" (Nur der Kunst weiht' ich mein Leben!). Unterdessen hantiert Polizeichef Scarpia an ihr herum, als wäre sie eine Gliederpuppe. Er probiert an der Sängerin die verschiedensten Posen aus, mal rührselig, mal pathetisch, ohne dass sie es bemerkt. Das ist die Schlüsselszene zu einer spannend neuen Sicht auf die Figuren. Die Regie von Anouk Nicklisch bei Giacomo Puccinis "Tosca" im Großen Haus des Mainzer Staatstheaters erreicht bei diesem im Repertoire arg verschlissenen Politschocker aus Liebe, Eifersucht und Tod ein Höchstmaß an Vergegenwärtigung. Eine ebenso inspirierte wie konsequente Theaterleistung.

"Tosca" wird zur Tragödie einer Künstlerin, die nur in ihrer Theaterwelt lebt, sich nur in den übersteigerten Emotionen und Posen ihrer Rollen ausdrücken kann und deshalb der erstbesten plumpen Intrige ihres Widersachers Scarpia zum Opfer fällt. Nicklisch verlegt die Geschichte aus dem Rom von 1800 in die Gegenwart. Faszinierend der Einfall, dass die Diva im ersten Akt auftritt wie die wiedererstandene Maria Callas: Extravagant und mondän unter übergroßem Hut, mit dem manierierten Händespiel der Callas.

Elizabeth Hagedorn hat das Glück, in schlanker Erscheinung und dramatischer Intensität bis zur lodernden Emotion der Aufschreie sich das Zitat einer solchen Legende leisten zu können. Ergreifend gelingt das Diminuendo am Schluss von "Vissi darte". Ihren Todessprung von der Engelsburg ersetzt die Regie durch ein Theaterzeichen: Tosca erstarrt mit abgewinkelten Armen vor der Tiefe. Dagegen bringt Scarpias Ende, nachdem Tosca ihm das Messer in den Leib rammt, den Rückfall in einen kruden Verismo: Eine Mischung aus Vergewaltigungsversuch und Todeskampf.

Auch Cavaradossi ist als Maler mehr in der Welt der Illusionen als in der Wirklichkeit zu Hause. Alexander Spemann zeichnet ihn jungenhaft und naiv mit strahlenden Spitzentönen und lyrischem Schmelz. Statt des militärischen Erschießungskommandos tauchen zur Hinrichtung Killer auf, bis Spoletta (Jürgen Rust) als Geheimdienstler den Fangschuss setzt. John Wegner, der im gefeierten Stuttgarter "Ring des Nibelungen" als markanter Alberich auffiel, zeigt Scarpia als eleganten Kavaliersbariton: Ein Genießer und Zyniker, geschmeidig im Parlando, das umschlägt in wütende Fortissimo-Ausbrüche. Zur Liebesszene mit Tosca kleidet er sich in den goldbestickten Frack höfischer Vergangenheit. Er spielt Theater mit seinem Theatergeschöpf, umpirscht es tänzelnd. Hans-Otto Weiß als Mesner ist nicht der skurrile Stänkerer, sondern trotz Puccinis tapsigem Leitmotiv ein tückischer Schnüffler.

Eindrucksvoll der Raum von Ulrich Schulz: die nach hinten gekippte, von Bombentreffern zerrissene Kuppel einer Kirche. Schwaden durchziehen den Raum, düstere Grautöne statt barocker Farbigkeit. Schemenhaft begrenzen diese Kirchenmauern auch die folgenden Schauplätze. Ungemein differenziert durchleuchtet Catherine Rückwardt auch noch kleinste rhythmische Akzente, das Geflecht der Nebenstimmen, den Dialog der Glockenschläge zu Beginn des Schlussaktes. Umso brachialer hebt sie die orchestralen Ausbrüche ab. Beifall und Jubel für diese packende Erneuerung eines alten Opernknüllers.