Frankfurter Allgemeine Zeitung
17. Juni 2002

Jedermann im Irrenhaus
Von Ellen Kohlhaas

Das Leben mit einem Idioten, das in Schnittkes polystilistischer Musik passend mit einem Zitat aus Bachs Matthäuspassion beginnt, ist eine verrückte Leidensgeschichte in einer Welt als Irrenhaus. Die Erzählung vom debilen Monster, das dem irgendwie dissidenten Intellektuellen als Strafe von der allmächtigen Partei zum Hausgenossen aufgezwungen wurde und nun stufenweise das bürgerliche Privatleben demoliert bis zu Vergewaltigung und Mord, hat Meyer-Oertel so weit stilisiert, daß dem Zuschauer allzu unappetitliche Einzelheiten erspart bleiben.

Zwei Dutzend Sänger aus dem Darmstädter Staatstheater-Chor schafften ihr Riesenpensum an stimmlicher und körperlicher Beweglichkeit samt ausgeklügelter Gruppenchoreographie mit nimmer müder Agilität.

Glänzend besetzt war das infernalische Trio, sehr respektabel ergänzt durch Werner Volker Meyers Marcel Proust, Thomas Fleischmanns bärbeißigen Irrenwärter und Christopher Ryans Burschen. Christian Elsner war ein Pfundskerl an äußerem und stimmlichem Gewicht, obwohl das animalische Riesenbaby Wowa außer primärer Triebbefriedigung nichts als „Äch“ äußert. Aber welchen Reichtum legte der Tenor in diese einsilbigen Orgien: frenetische Aggressionen, seligen Wohllaut, liedhafte Belcantoformen. Doris Brüggemann war eine ideale Frau zwischen hysterischer Zwitscherei und balsamischem Wohllaut. Thomas Mayer portraitierte mit baritonalem Fieberfeuer beklemmend den obrigkeitlich verordneten, kafkaesken Abweg in die Psychatrie, wo die sozialistischen Wohltäter Abweichler wie „Ich“ kaltzustellen beliebten.

 

Frankfurter Rundschau
18 Juni 2002

Groteskes Requiem
Schnittkes Oper "Leben mit einem Idioten" in Darmstadt

Von Hans-Klaus Jungheinrich

Viktor Jerofejew gehört zu den russischen Schriftstellern, die in den Jahren des politischen Umbruchs wie Kometen aufstiegen und, in einem maroden Land, einer gründlich ausgenüchterten Generation und ihrem Lebensgefühl Stimme gaben - voller Aufbruchsenergie, gleichwohl gebannt von den Erfahrungen der eigenen Erniedrigung. Gut zwanzig Jahre nach der Entstehung seiner Erzählung Leben mit einem Idioten, zehn Jahre nach der (Amsterdamer) Uraufführung der gleichnamigen Oper von Alfred Schnittke, mutet beides in gewissem Sinne als historisch an. Jerofejew sieht sein Sujet als "Requiem auf die Sowjetunion"; eher retrospektiv wohl auch der Blick auf ein anarchistisches Potential, das als künstlerischer Stromstoß angesichts widersprüchlicher Realitäten schnell verpuffte.

Die Darmstädter Neubegegnung mit der Schnittke-Oper bestätigte aber auch die Traditionsbindung des Stückes, das an russische Burlesken wie Die Nase (Schostakowitsch) oder Der Meister und Margerita (Bulgakow, vertont von York Höller) anknüpft. Leben mit einem Idioten ist eine aberwitzig finstere, rabiat ins Eklige hineinspielende Dreiecksgroteske, bei der ein debil-gewalttätiger Hausgenosse sich ein Ehepaar hörig macht und alles Erreichbare demoliert; am Ende köpft er die Hausfrau. Der Ehemann, kein Wunder, wird selbst verrückt und kommt ins Irrenhaus. In seinem Libretto behält Jerofejew die erzählende Haltung bei. Die Akteure tun also so, als ob sie die einzelnen Stationen der Geschichte in der Aktion nachstellten. Die Distanzierung nimmt der Handlung nichts von ihrer hyperrealistischen Deftigkeit.

Schnittke, oft ein tiefgründiger "Bekenntnismusiker", schlägt in diesem Stück einen ganz anderen, für ihn fast atypisch leichten, exquisit frivolen Ton an. Raffiniert schwebende Tanzszenen, kess bis martialisch kommentierende Chöre, mit deutlichem satirischen Unterton, der den offiziellen "Kollektivklang" persifliert. Die großen, dankbaren Chorpartien wurden in Darmstadt ebenso ansprechend gemeistert (Einstudierung: Andreas Weiss) wie der "polystilistische" Orchesterpart unter der Leitung von GMD Stefan Blunier.

Die Gesangssolisten sind unterschiedlich gezeichnet. Das Erzähler-Ich (als Schriftsteller kenntlich) ergeht sich in ans Exaltierte grenzenden Lyrismen - lohnende Aufgabe für den ebenso stimmmächtigen wie spielgewandten Tenor Thomas J. Mayer. Die Frau (Doris Brüggemann, in schöner Mimesis russischer Vokalformate) wird vor allem ins Schrille, Keifende, bisweilen auch ausgreifend Hochdramatische gelenkt. Das Paradox eines bramarbasierenden Ruhepunkts bot der Idiot Wowa, von Christian Elsner als tumber Fleischberg imaginiert, der, in vielerlei Varianten, nichts weiter von sich gibt als das einzige (Un-)Wort "Äch"...

Dieter Flimm leitete einschlägig zum Thema mit einer grellbunten "sozialistisch-realistischen" Prospektmalerei und Interieurs mit verschiebbaren halbhohen Wänden und vielen Türen. Der Hausregisseur Friedrich Meyer-Oertel setzte ganz auf die derbe Komik, erzielte mit versiert lebhafter Personenführung eine die anderthalbstündige Aufführungsdauer der deutschsprachigen (pausenlosen) Aufführung nicht überstrapazierende Kurzweil. Ernstere, hintersinnigere Facetten des Stoffes wurden dabei nicht beleuchtet (die Markierung eines "Passionsspiels" blieb auf das Programmheft beschränkt). Schnittke ist ebenso tot wie Lenin und Marcel Proust, zwei im Stück berufene Geister. Jerofejew, noch immer kein alter Mann, konnte neben den Ausführenden den Premierenapplaus entgegennehmen.

Oper Darmstadt, 19.,22.,26. Juni.

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2002
Dokument erstellt am 17.06.2002 um 21:06:37 Uhr
Erscheinungsdatum 18.06.2002

 

Frankfurter Neue Presse
20.6.2002

Das Darmstädter Staatstheater zeigt Alfred Schnittkes Oper „Leben mit einem Idioten".
Alle leben im Irrenhaus einer brutalen Diktatur

Von Andreas Bomba

„Ech, ech, ech": Mehr kann Wowa, der Irre, nicht sagen. Christian Elsner findet viele Töne, dieser komponierten Sprachlosigkeit Andeutungen eines Seelenlebens einzuhauchen. Am Ende tönt der Laut aus allen Ecken des Staatstheaters.

Alle sitzen im Irrenhaus, alle gehören zum Potenzial derer, die in Diktaturen mundtot gemacht wurden und werden.

Viktor Jerofejews Libretto und Alfred Schnittkes Musik – die Oper kam 1992 heraus – reagieren auf die Zustände in der Sowjetunion. Wo alles zur Sonne und zur Freiheit strebte, waren sogar menschliche Beziehungen Bestandteil des Plans. Weil „Ich", der Schriftsteller (Thomas J. Meyer) sein Soll nicht erfüllt hat, muss er einen Idioten bei sich aufnehmen.

Immerhin darf er ihn selbst aussuchen. Rot leuchtet dabei die Szene, rot sind auch die Fesseln der kommunistischen Zwangsjacken – markante Anspielungen der Regie (Friedrich Meyer-Oertel), gedeckt durch die allegorische Anlage des Textes und seiner Vertonung. Wowa ist der Spitzname Lenins.

Genußvoll probiert er irgendwann einmal die Gesten der Diktatur: Hand zur Faust geballt, rechte Hand hoch zum Gruß, Daumen rauf, Daumen runter. Marcel Proust tritt auf (Werner Volker Meyer), leibhaftiger Vertreter seiner Bücher, der westlichen Dekadenz und zugleich Chiffre der abhanden gekommenen Zivilisation. Er ist der Lieblingsschriftsteller der ziemlich hysterischen Frau (schrill genug: Doris Brüggemann), die von Wowa vergewaltigt und doch lustvoll geschwängert wird. Da ist die Wohnung aber schon fast zerstört, das Telefon herausgerissen, das Klo verdreckt, die Wanne, in der Wowa und „Ich" eindeutige Männerspiele treiben, zum Lebensmittelpunkt geworden.

Die Handlung spielt gestern, heute und morgen. Sie ist schon vergangen, als sie simultan auf der Bühne vollzogen wird. Emotionslos, im schulterzuckenden Akzeptieren des Geschehenen schreibt und schildert „Ich" das anarchische Chaos. Der Idiot ist auch nicht ein bemitleidenswertes Wesen, sondern Normalität in einem irrsinnigen System. Der Chor spielt Freund und Spitzel, Kommentator und Drahtzieher, Zuschauer und Akteur. Die Begriffe Groteske, Ironie, Karikatur greifen zu kurz. Zwei persönliche Schicksale werden grimmig, drastisch und wirklich beklemmend verarbeitet.

Stefan Blunier treibt das martialisch aufspielende Darmstädter Opernorchester durch die derbe Kraft und Gewalt, die sarkastischen Lyrismen und den kammermusikalisch dichten Ingrimm der Partitur. „Brüder zur Sonne und Freiheit" klingt an, und zu Beginn Bachs Matthäuspassion: Symbole für von Menschen anderen zugefügtes Leid. Und für die Lüge, es durch Ideologien und Heilsversprechen abschaffen zu können.

 

egotrip.de

Alfred Schnittkes Oper "Leben mit einem Idioten"

Der Intellektuelle und das Böse

Zum Ausklang der Saison präsentierte das Staatstheater Darmstadt in der Oper noch einmal "schwere Kost". Kein Mozart, kein Verdi, kein Pucchini stand auf dem Programm, sondern Alfred Schnittkes in den neunziger Jahren nach einer Erzählung des Russen Viktor Jerofejew entstan- dene Oper "Leben mit einem Idioten". Zum Verständnis dieses Werkes muss man wissen, dass Schnittke selbst in der Sowjetunion aufgewachsen ist und seine Werke dort lange nicht aufführen konnte. Dasselbe gilt für Jerofejew, der ursprünglich zur privilegierten Nomenklatura gehörte, sich dann jedoch mit seiner wenig linientreue Literatur selbst ins Exil schrieb.


Christian Elsner (Wowa) und Doris Brüggemann (Die Frau)

In dieser Oper wird ein Schriftsteller - also ein Intel- lektueller - mit dem programmatischen Namen "Ich" aus nicht näher erläuterten Gründen von der Gesellschaft gezwungen, einen Idioten aus dem Irrenhaus bei sich aufzunehmen. Geradezu freudig nimmt er diese Strafe auf sich, da er sie einer von ihm unter- stützten Idee (oder Utopie) zu schulden meint. Die Vorhaltungen seiner eher auf die Normalität der häuslichen Verhältnisse bedachten Frau wischt er beiseite. Er sucht sich den zwar etwas monströ- sen, jedoch scheinbar gutmütigen Wowa aus. Spätestens hier ahnt der historisch bewanderte Zuhörer die Botschaft, da Wowa auch Lenins Kosename war...

Wowa fügt sich anfangs brav in den Haushalt ein, trägt jedoch zur Unterhaltung lediglich das Wort "Äch" bei, eine Verballhornung von "Ich", womit er sozusagen den Hausherrn spiegelt und karikiert. Doch bald beginnt Wowa "auszurasten", räumt Küche und Badezimmer aus, verteilt seine Exkre- mente in der Wohnung und zerreißt die Proust- Sammlung der Ehefrau. Letztere Handlung symboli- siert Regisseur Friedrich Meyer-Oertel sehr schön an Hand einer "echten" Proust-Figur (Werner Volker Meyer), die Wowa aus dem Bücherschrank zerrt und durch die Wohnung schleudert.

Damit nicht genug, vertreibt Wowa das Ehe- paar aus dem Schlafzimmer, vergewaltigt die Frau, die sich daraufhin in ihn verliebt (!), schwängert sie und enthauptet sie schließlich mit einer Gartenschere, als sie sein Kind abtreibt. Dann verschwindet er. Der mittler- weile dem Wahnsinn verfallene Ich sitzt nun seinerseits im Irrenhaus und singt immerfort das Lied von der einsamen Birke, die im Feld steht.

Die metaphorische Aussage dieses Werkes liegt auf der Hand: Wowa ist das Böse der Ideologie, der gerade die Intellektuellen im Glauben an eine verklärte Utopie verfallen. Wie in "Biedermann und die Brandstifter" werden alle Anzeichen des Bösen, des Chaotischen und der Zerstörung ignoriert, bagatellisiert oder schöngeredet. Nur das Eingeständnis des eigenen Irrtums will dem Intellektuellen nicht über die Lippen. Rings um ihn redet die Um- welt auf ihn ein: die Partei, die echten und vermeintlichen Freunde, Fremde und Kollegen. Diese Rolle übernimmt in der Darmstädter Inszenierung der Chor, der meist in düsterem Schwarz auftritt, der Farbe der radikalen politischen Ideologen. Die Frau als Symbol des Bodenständigen behauptet sich anfangs noch gegen den Einfluss des Idiotischen Prinzips, verfällt jedoch schließlich selbst dem erotischen Reiz der Gewalt. Die Intellektuellen einer solchen Gesellschaft, unfreiwillig Förde- rer des Unheils, verstehen bis zum Schluss nicht, was vor sich geht, und fallen in die Bedeutungslosigkeit. Diese letzte Szene karikiert damit die europäischen Intellektuel- len, die immer noch hartnäckig den Zusam- menbruch des Sozialismus leugnen. Den Hinweis auf die politische Dimension verdeut- licht Meyer-Oertel unmissverständlich, wenn er Wowa zwischenzeitlich mit einer weißen Uniformjacke (gern von Göring und Stalin getragen), einem Schnauzbart und einem Stöckchen über die Bühne stolzieren lässt.

Doch es ist nicht nur die Rückschau auf die Jahre des Realen Sozialismus in der Sowjet- union, sondern gleichzeitig ein Menetekel für die westlich-freie Gesellschaft, das Regisseur Meyer-Oertel hier an die Bühnenwand "malt". Ein solches Monstrum kann leicht den Namen Antisemitismus oder Fremdenhass tragen, beides Erscheinungen, die sich unabhängig von einer politischen Ideologie ausbreiten. Jede Gesellschaft hat ihren Idioten, den sie nur zeitweilig unter Verschluss halten kann, und der sich dann irgendwann in den Häusern und Gedanken der Menschen festsetzt, sie sie von innen aushöhlt und zerstört. Auch der Terrorismus der letzten Zeit zeigt sich als eine Abwandlung dieses Idioten, den sich die menschliche Gesellschaft als Lebensgefähr- ten ins Haus holt.

Die Musik Schnittkes folgt einer eigenen Linie, hat sich schon früh von der puristischen Linie der Zwölf- töner oder seriellen Experimenten verabschiedet, und vereint tonale Elemente mit ausgefallenen rhythmischen Elementen und moderner Instrumen- tierung. So stellt sich beim Zuhörer auch mit dieser doch modernen Musik ein nachvollziehbarer Zusammenhang zwischen Bühnenhandlung und Musik ein. Schnittkes Musik setzt Emotionen und Ereignisse in adäquate musikalische Motive und Klangformen um, ohne deswegen in eine falsch- romantische oder gewollt expressionistische Atti- tüde zu verfallen. Dabei verwendet er Material aus dem russischen Volkslied - so das Lied von der Birke, das bereits Tschaikowsky zum sinfonischen Hauptmotiv veredelt hat - und Motive aus verschie- denen Epochen der Musikgeschichte, die jedoch nur skizziert werden. Auch wenn sie den tonalen Bereich verlässt, wirkt Schnittkes Musik nie schrill oder unerträglich.


Doris Brüggemann als Frau und Christian Elsner als Wowa

Das Bühnenbild zeigt Ichs häusliche Umgebung in weit gehend realistischer Ausprägung mit einem System aus verrückbaren Wandelementen, die - z.B. bei der Vergewaltigungsszene - zu beliebigen Formen zusammengeschoben werden können. Diese unterschiedlichen Konstellationen erlauben es, den Charakter einer Szene auch baulich zu veranschaulichen, so das Einengende und Erstickende der Ideologie. Die Kostüme prägen dagegen weniger die Wirkung der Handlung, wie ja auch ausgefallene Kleidung in totalitären Systemen eher Seltenheitswert hat. Eindrucksvoll dagegen die schwarze Kostümierung des Chors, der dadurch etwas bedrohliches erhält.

Die Darsteller meisterten ihre schwierigen Partien durchweg bewundernswert. Doris Brüggemann glänzt als "Die Frau" mit einem Hang zur Hysterie, was ihr vor allem in den hohen Lagen das Äußerste abverlangt, Das geht natürlich auf Kosten der Verständlichkeit. Damit hat Thomas J. Mayer als Ich keine Schwierigkeiten, da sich sein Part überwie- gend in der Nähe des Sprechgesangs bewegt und daher sehr gut zu verstehen ist. Er über- zeugt vor allem durch seine Bühnenpräsenz und die Darstellung des langsam und ungläu- big verzweifelnden Intellektuellen Ich. Christian Elsner gelingt das Kunststück, als Wowa mit dem einzigen Wort "Äch" dennoch durch unterschiedliche Nuancierung das Innenleben des Idioten darzustellen. Vor allem galt ihm angesichts der stickigen Wärme im sommerlich aufgeheizten Großen Haus das Mitleid aller Zuschauer, da er durch Kissen und überdimensionierten "Strampelanzug" zum beleibten Monstrum aufgepeppt worden war.

Ein besonderes Lob ist auch dem Chor zu zollen, den André Weiß nicht nur gesanglich wieder einmal sehr gut eingestellt hatte, son- dern der auch sehr agil den Handlungsablauf mitgestaltete, sei es als gesichtslose, schwarz gekleidete Menge, als Voyeure des häuslichen Unglücks bei Ichs oder als die Insassen des Irrenhauses, die sich in Verren- kungen wälzen oder singend umhertorkeln.

Das Orchester hatte bei den herrschenden Temperaturen ebenfalls Schwerstarbeit zu verrichten und präsentierte Schnittkes scharf konturierte und an Extremen reiche Musik äußerst exakt und immer mit der notwendigen Balance zwischen Bühne und Orchestergraben. Denn eine menschliche Stimme lässt sich leicht durch einige Blechbläser erschlagen. Dass dies nicht geschah, ist Generalmusikdirektor Stefan Blunier zu verdanken.

Das Publikum dankte allen Beteiligten mit geradezu begeistertem Beifall für die außer- gewöhnliche Leistung, und selbst für die Regie gab es dieses Mal kein einziges "Buh"!

 

Offenbach Post
17 Juni 2002

Große Oper um einen gnadenlosen Wüterich

"Das Leben mit einem Idioten ist voller Überraschungen," deklamiert der Chor. Und prompt schwebt eine kleine Lenin-Puppe herunter auf die Bühne, dem Dichter in die Arme, dem Dichter, den das Libretto einfach nur "Ich" nennt: So beginnt im Staatstheater Darmstadt das "Leben mit einem Idioten", eine Oper, die grell und kaum verschleiernd abrechnet mit dem, was man heute den real existierenden Sozialismus nennt: Der vor vier Jahren verstorbene Komponist Alfred Schnittke und sein Librettist Viktor Jerofejew haben in der Sowjetunion erlebt, wie Polit-Funktionäre als Leichenverwalter der einstigen Utopie unangepassten Künstlern das Leben schwer machten.

In der Oper, 1992 in Amsterdam uraufgeführt, erzählt der Dichter im Rückblick: Als Strafe für Mangel an Mitgefühl soll er in seiner Wohnung einen Idioten aufnehmen. Er sucht sich einen Irren aus, der "Wowa" heißt (Lenins Rufname!) und, wie sich bald herausstellt, nichts anderes sagen kann als "Äch". Wowa stellt das Leben seines Gastgebers auf den Kopf. Er versaut mit seinen Exkrementen die Wohnung und zerstört sie, er vergewaltigt die Ehefrau und liebt den Dichter wie einen Sohn. Schließlich schneidet er der Gattin mit einer präzise arbeitenden DDR-Gartenschere den Kopf ab. Zum Schluss landet der Dichter selbst im Irrenhaus.

Ja, es geht derb zu in dieser anderthalb Stunden dauernden, zweiaktigen Oper, und natürlich wird auch auf der Darmstädter Bühne kopuliert, gemordet und gesungen von allen Säften des menschlichen Körpers. Doch dabei belässt es Regisseur Friedrich Meyer-Oertel, tritt nicht in die Falle, sich mit diesem Stück einmal so richtig ekelhaft austoben. Das ist gut so, denn "Leben mit einem Idioten" ist eine Parabel. Darauf, wie die vom politischen System verordnete "Strafe" den Einzelnen in den Untergang treibt, aber auch, wie er sich in den Untergang treiben lässt.

Bereits das Bühnenbild von Dieter Flimm schafft dafür den passenden Rahmen: Die private Wohnung wird überragt von einem massiven Mast, der mit dem Programmheft als "Entwurf für eine Lenin-Tribüne" zu entschlüsseln ist. Einen letzten gedanklichen Schritt lässt Meyer-Oertel das Publikum allein gehen: Die Loslösung des Stoffs von seiner Ausstattung Marke Sowjetunion. Bereits vor Beginn der Oper dominiert ein kitschiges Bild im Stil des Sozialistischen Realismus die Bühne. Abstrakter schon: Das Irrenhaus, dessen leuchtendes Rot auch den Zuschauerraum einhüllt.

Die Personenführung ist in dieser Inszenierung des Darmstädter Operndirektors durchdacht, korrespondiert exakt zu Schnittkes Musik mit ihren reichen Stilzitaten - Stefan Blunier arbeitet sie am Pult des Staatsorchesters unaufdringlich heraus. Der stark geforderte Chor ist von André Weiss exzellent vorbereitet worden. Schlüssig lässt Meyer-Oertel die Solisten sich bewegen: Die exaltierte Ehefrau (mit treffend gellenden Höhen: Doris Brüggemann), den tumben Koloss Wowa (mit passender Figur: Christian Elsner), den dandyhaften Marcel Proust (sonor: Werner Volker Meyer), der in der Wohnung herumstreift. Den heftigsten Applaus hat sich jedoch Thomas J. Mayer als facettenreicher, bis ins Falsett sicher intonierender Dichter verdient. Am Ende starker Beifall neben wenigen "Buh"-Rufen, auch für den anwesenden Librettisten.

AXEL ZIBULSKI

 

Mannheimer Morgen
21 Juni 2002

OPER: Alfred Schnittkes "Leben mit einem Idioten" am Hessischen Staatstheater Darmstadt

Von der verherenden Faszination der Macht

Von unserer Mitarbeiterin
Susanne Kaulich

Auch wenn er die Gartenschere benutzt: Der Mörder ist nicht immer der Gärtner. Eine erotische Dreiecksgeschichte scheint dem bestialischen Mord an der Frau zu Grunde zu liegen, mit dem Alfred Schnittkes 1992 entstandene Oper "Leben mit einem Idioten" beginnt, die jetzt am Staatstheater Darmstadt zu sehen ist. Doch was der Ehemann, einfach nur "Ich" genannt, dem Publikum anschließend im Rückblick umständlich erzählt, ist keinesfalls nur eine banale, private Beziehungstragödie, es ist die tiefgründige politische Parabel auf die totalitären Macht-Mechanismen in der Sowjetunion (oder auch anderswo).

Denn Wowa heißt der Mörder, und dieser zärtliche Name steht in der Sowjetunion für Lenin. Wowa ist in Viktor Jerofejews Erzählung aber auch ein nur "Äch" stammelnder Idiot. 1980 hatte der mit Publikationsverbot belegte russische Schriftsteller in seiner trotz oder gerade wegen ihrer Absurdität und Komik entlarvenden Erzählung "Leben mit einem Idioten" beschrieben, wie Aggression, Brutalität, Destruktion und rücksichtsloses Machtstreben, aber auch Dummheit und animalische Instinkte derer, die die Herrschaft an sich reißen, die Massen genauso erotisieren und ruhig stellen, wie sie die Intellektuellen außer Gefecht setzen.

Dabei verhelfen gerade jene - bewusst oder unbewusst - solchen Ungeheuern überhaupt erst zur Macht. Auch der wegen antisozialem Verhalten gegenüber dem Kollektiv bestrafte Schriftsteller "Ich" hat sich jenen Idioten Wowa selbst ins Haus geholt. Und was zunächst als interessante Fallstudie verwertbar scheint, entpuppt sich als tödliche Zerstörungsmaschinerie. Nicht nur Hab und Gut sowie die Ehe fallen dem Wüterich zum Opfer, sondern auch geistige Werte, wie Marcel Prousts Gesamtausgabe als Ausdruck westlich-individualistischer Dekadenz.

Die Frau - Symbol für die Volksmasse - erliegt schnell Wowas gleichermaßen destruktiver wie erotisierender Attraktivität. Aber der Idiot buhlt auch um den intellektuellen "Ich", um ihn nach allen Regeln der Kunst manipulieren zu können. Eifersüchtig setzt die Frau Wowa deswegen unter Druck und besiegelt so ihr Todesurteil. Doch während der Idiot nach dem Mord verschwindet, landet der Schriftsteller im Irrenhaus, nicht ohne den Idioten weiterhin abgöttisch zu verehren.

Friedrich Meyer-Oertel und Bühnenbildner Dieter Flimm beleuchten das "Leben mit einem Idioten" von oben. Ein hohes schmales Metallgestänge mit Riesen-Farbscheinwerfer dominiert die Darmstädter Bühne, auf der verschiebbare Wandsegmente ständig abwechslunsgreiche und realistisch möblierte Räume bilden. Der darstellerisch äußerst agile und musikalisch flexible Chor hat jede Menge zu tun: Als "sozialistisches Kollektiv" setzt er sich und das puzzleartige Bühnenbild in Szene, unterhält sich mit "Ich", mimt ein Panoptikum an Irren, das dem Film "Einer flog übers Kuckucksnest" Konkurrenz macht, oder aber er kommentiert wie ein antiker Chor, ist anfeuernder Mauerschauer wie bei der grandiosen Verwaltigungsszene, die so sehr an Schostakowitschs "Lady Macbeth" erinnert, oder begafft das skurrile Geschehen.

Ein ausgesprochen sensibles und geschmackvolles Händchen beweist Meyer-Oertel in der homoerotischen Szene, in der Wowa den Intellektuellen für sich gewinnt, und auch sonst zeigt sich der Regisseur als Meister des doppelbödigen komödiantischen Theaters, das niemals verhehlt, wie sarkastisch und allenfalls absurd übertrieben Schnittke und Jerofejew die Realität im totalitären System nachgezeichnet haben.

Der Polystilist Schnittke verlangt Extremes von den drei Protagonisten: Doris Brüggemann tiriliert in höchsten Höhen und Koloraturen das hysterische Weib, Christian Elsner tapert und wütet als expressiver Idiot mit einem Sammelsurium an "Äch"-Kantilenen durchs Bild, und der mit edlem und kernigem Bariton ausgestattete Thomas J. Mayer (Ich) besticht durch ungeheure Präsenz und abenteuerliche Kopfstimmen- und Falsett-Passagen - eine imponierende Leistung. Stefan Blunier trifft den Schnittkeschen Stilmix, ohne ihn zur Parodie verkommen zu lassen, hat er doch mit all seinen Zitaten und Verfremdungen Methode. Das Darmstädter Orchester folgt seinem Chef mit Verve, Engagement und Überzeugung. Ein großer Abend für Darmstadt, den man sich nicht entgehen lassen sollte.

Weitere Vorstellungen am 22. und 26. Juni, dann wieder ab 13. September.
Karten unter 06151/29 38 38.

© Mannheimer Morgen 2002

 

Allgemeine Zeitung
18.06.2002

Staatstheater Darmstadt zeigt Schnittke-Oper „Leben mit einem Idioten"
Ferkeleien eines Dickwanstes

Will man an einem sommerheißen Juniabend eine Polit-Parabel auf das bankrotte Sowjetreich hören? Noch dazu eine, in der ein fetter, sexgeiler Debiler mit Kefir, (imaginärem) Kot und anderen Accessoires um sich schmeißt, das Klo aus der Verankerung reißt, die Dame des Hauses vergewaltigt, ihr zum Dank für den Liebesdienst die Rübe mit der Gartenschere vom Rumpf zwiebelt, um sie dann in den Müllcontainer zu stopfen? Nicht wirklich.

Starker Tobak, was jetzt am Darmstädter Staatstheater Einzug gehalten hat – in Nachbarschaft zur poesievollen Vivaldi-Oper „Orlando". Aber Theater, so lautet die sozialkritisch bewegte Theorie, soll ja nicht nur schön und fein sein, es soll auch anecken und verstören; soll Traumbilder auch mal zerschlagen. Doch grau ist alle Theorie. Alfred Schnittkes Musiktheater „Leben mit einem Idioten" basiert auf der gleichnamigen Erzählung des russischen Literaten Viktor Jerofejew. In den 80-er Jahren war er mit Publikationsverbot belegt, erst 1992 konnte das von Schnittke vertonte „Requiem auf die Sowjetunion" in Amsterdam uraufgeführt werden. Man kann sich dieses brachiale Kuriosum, zu dem Bühnenbildner Dieter Flimm ein bieder-konkretes Interieur beisteuert, gut auf einer Werkstattbühne vorstellen – in einem Opernspielplan knirscht es wie Sand.

Zumindest in Friedrich Meyer-Oertels Regie, die ein wenig mit heißer Nadel gestrickt wirkt: Wowa (Christian Elsner) sagt nur „Äch", auch „Äch-Äch" und ist ein nur gelegentlich komischer Idiot, der den leibhaftigen Proust aus dem Bücherregal reißt. Der Ich-Erzähler und Schriftsteller (stimmlich stark: Thomas J. Mayer), der sich Wowa zur Strafe für seine egoistische Attitüde ins Haus holen musste, bleibt abstrakt. Der Chor klettert auf Leitern umher und ist irgendwie dauernd im Weg, das Ende sackt auch akustisch weg und ist vor dem Hintergrund des Parabelgehalts – ein Plädoyer für gemeinwohlorientiertes Denken – diffus. Absurdes Bürgerschrecks-Theater, das nie so richtig provoziert. Interessant ist Schnittkes collagenhaft-verschachtelte Musik, mit der GMD Stefan Blunier klug umzugehen weiß.

Aufführungen: 19., 22., 26. Juni.
Karten: 06151/293838

jb

 

Wiesbadener Kurier
17.6.2002

Darmstadt: „Leben mit einem Idioten"
Parabel auf den Untergang

Von Kurier-Mitarbeiter
Axel Zibulski

„Das Leben mit einem Idioten ist voller Überraschungen", deklamiert der Chor. Und prompt schwebt eine kleine Lenin-Puppe herunter auf die Bühne, dem Dichter in die Arme, dem Dichter, den das Libretto einfach nur „Ich" nennt: So beginnt im Staatstheater Darmstadt das „Leben mit einem Idioten", eine Oper, die grell und kaum verschleiernd abrechnet mit dem, was man heute den real existierenden Sozialismus nennt: Der vor vier Jahren verstorbene Komponist Alfred Schnittke und sein Librettist Viktor Jerofejew haben in der Sowjetunion erlebt, wie Polit-Funktionäre als Leichenverwalter der einstigen Utopie unangepassten Künstlern das Leben schwer machten.

In der Oper, 1992 in Amsterdam uraufgeführt, erzählt der Dichter im Rückblick: Als Strafe für Mangel an Mitgefühl soll er in seiner Wohnung einen Idioten aufnehmen. Er sucht sich einen Irren aus, der „Wowa" heißt (Lenins Rufname!) und, wie sich bald herausstellt, nichts anderes sagen kann als „Äch". Wowa stellt das Leben seines Gastgebers auf den Kopf. Er versaut mit seinen Exkrementen die Wohnung und zerstört sie, er vergewaltigt die Ehefrau und liebt den Dichter wie einen Sohn. Schließlich schneidet er der Gattin mit einer präzise arbeitenden DDR-Gartenschere den Kopf ab. Zum Schluss landet der Dichter selbst im Irrenhaus.

Ja, es geht derb zu in dieser anderthalb Stunden dauernden, zweiaktigen Oper, und natürlich wird auch auf der Darmstädter Bühne kopuliert, gemordet und gesungen von allen Säften des menschlichen Körpers. Doch dabei belässt es Regisseur Friedrich Meyer-Oertel, tritt nicht in die Falle, sich mit diesem Stück einmal so richtig ekelhaft austoben. Das ist gut so, denn das „Leben mit einem Idioten" ist eine Parabel. Darauf, wie die vom politischen System aufgesetzte „Strafe" den Einzelnen in den Untergang treibt, aber auch, wie er sich in den Untergang treiben lässt. Bereits das Bühnenbild von Dieter Flimm schafft dafür den passenden Rahmen: Die private Wohnung wird überragt von einem massiven Mast, der mit dem Programmheft als „Entwurf für eine Lenin-Tribüne" zu entschlüsseln ist.

Einen letzten gedanklichen Schritt lässt Meyer-Oertel das Publikum alleine gehen: Die Loslösung des Stoffs von seiner Ausstattung Marke Sowjetunion. Bereits vor Beginn der Oper dominiert ein kitschiges Bild im Stil des Sozialistischen Realismus die Bühne. Abstrakter schon: Das Irrenhaus, dessen leuchtendes Rot auch den Zuschauerraum einhüllt. Die Personenführung ist in dieser Inszenierung des Darmstädter Operndirektors durchdacht, korrespondiert exakt zu Schnittkes Musik mit ihren reichen Stilzitaten – Stefan Blunier arbeitet sie am Pult des Staatsorchesters unaufdringlich heraus. Der stark geforderte Chor ist von André Weiss exzellent vorbereitet worden.

Schlüssig lässt Meyer-Oertel die Solisten sich bewegen: Die exaltierte Ehefrau (mit treffend gellenden Höhen: Doris Brüggemann), den tumben Koloss Wowa (mit passender Figur: Christian Elsner), den dandyhaften Marcel Proust (sonor: Werner Volker Meyer), der in der Wohnung herumstreift. Den stärksten Applaus hat sich jedoch Thomas J. Mayer als facettenreicher, bis ins Falsett sicher intonierender Dichter verdient; starker Beifall, neben wenigen „Buh"-Rufen, auch für den anwesenden Librettisten.