Frankfurter Allgemeine Zeitung
Donnestag, 20. Mai 2004

Staastheater Mainz
Judith im Mädcheninternat: Vivaldis Oratorium "Juditha triumphans"

Im Mädcheninternat wird gemeutert. Das abendliche Bibel-Spiel um "Judith und Holofernes" ist aus den Fugen geraten: Die Darstellerin des Holofernes hängt tot am aufgerichteten Bettgestell, während das Fräulein Oberin im hochgerutschten schwarzen Kleid am Boden liegt und von drei Elevinnen drangsaliert wird. Nur eine kurze Genugtuung allerdings - denn mit ihrem Knüppel hat die Oberin ihre Zöglinge schnell wieder im Griff. Nun stehen die elf Internatsschülerinnen in Rock, Bluse und Schlips brav aufgereiht vor ihren Betten und singen den Schlußchor. Nur einer versagt die Stimme: der Judith-Darstellerin, die unter Zwang soeben einen Mord begangen hat.

Macht und Unterlegenheit, Überheblichkeit und Demut, Gruppenzwang und Einsamkeit - Intendant Georges Delnon macht daraus im Staatstheater Mainz ein Spiel im Spiel, in dem Illusion und Wirklichkeit fließend ineinander übergehen. Zum Anlaß nimmt er das Szenische Oratorium "Juditha triumphans devicta Holofernis barbarie", das auf der biblischen Geschichte um die schöne Witwe Judith basiert. Diese zieht ins feindliche Lager, um den Besatzer Holofernes erst zu becircen, dann zu ermorden und so ihre Stadt von den Belagerern zu befreien.

Vivaldi schrieb das Oratorium gemeinsam mit dem Librettisten Giacomo Cassetti und brachte es 1716 erstmals auf die Bühne - im venezianischen "Ospedale della Pieta", einer Einrichtung für verwaiste und bedürftige Mädchen. Dort war der Komponist und Priester fast vierzig Jahre lang als Instrumentallehrer und Orchesterleiter tätig. In dieser Zeit avancierte das Waisenhaus zur Talentschmiede für Instrumentalistinnen, für die Vivaldi einen Großteil seiner etwa 477 Solo-Konzerte komponierte.

Georges Delnon hat sich von Vivaldis Biographie anregen lassen und das Oratorium in ein Mädcheninternat am Ende des 19. Jahrhunderts verlegt. Hier beginnt nun das tödliche Theaterspiel zu barocker Musik - besinnliche bis spritzige Da-capo- und Ritornell-Arien aus weich fließenden Kantilenen und temperamentvollen Koloraturen, unterbrochen von kommentierenden Rezitativen.

Zunächst spielen die halbwüchsigen Mädchen einfach ihre Rollen nach der alltäglichen Rang- und Hackordnung weiter: Da ist die sportliche Anführerin, zugleich der Klassenclown, die den Holofernes darstellen wird. Ulrike Mayer gibt sie als durchtriebenes Jungen-Mädchen im Männeranzug, das mit lasziven Posen und herausforderndem Hosenschritt-Gegrabsche Kameradinnen und Oberin gleichermaßen in Unruhe versetzt.

Da ist der lebens- und liebeshungrige Cliquen-Chor, der stets um seine Anführerin buhlt, mögliche Konkurrentinnen sogleich unterbuttert - so wie die hübsche, schüchterne Leseratte, die Patricia Roach als sensible Außenseiterin gibt. Ausgerechnet ihr hat die Oberin die Hauptrolle der Judith zugedacht - wohl wissend, daß sie damit für neuen Zündstoff unter ihren ohnehin streitsüchtigen Zöglingen sorgen wird, wissend auch, daß sie aus diesem unsicheren Mädchen mit entsprechendem Nachdruck eine Mörderin machen kann. Denn die sadistische Oberin der Claudia Eder möchte an diesem Abend endlich mal echtes Blut sehen.

Delnons Regie-Konzept, das in Zusammenarbeit mit der Kammeroper Schloß Rheinsberg entstand, wo seine Inszenierung bereits im vorigen Sommer gezeigt wurde, geht nicht immer auf: etwa dann, wenn er die Mädchen in Turnanzügen an den Ringen herumzappeln läßt, während sie für die tapfere Judith gerade Gebete zum Himmel singen. Zudem erschließt sich nicht, warum die Darstellerin der Judith ihre Schauspielpartnerin letztlich umbringt - dazu hat ihr das vorausgegangene Liebesspiel mit dem Jungen-Mädchen, das Delnon der Bibel-Vorlage beigefügt hat, eigentlich viel zu sehr gefallen.

Gelungen dagegen das erste Zusammentreffen von Judith und Holofernes, in deren Verlauf sie sich allmählich seine Männerkleider überstreift. Mit jedem Kleidungsstück aber, das aus- und angezogen wird, scheinen sich die Machtverhältnisse zu ändern - was sich auch auf die Darstellerinnen überträgt: Die Judith strotzt schließlich in Männerkleidern vor Selbstsicherheit, während Holofernes ihr im Nachthemd demütig die Blöße gibt.

Delnon findet in Michael Millard einen einfühlsamen musikalischen Begleiter, dessen engagiertes Dirigat das klein besetzte, historisch informiert musizierende Orchester allerdings gelegentlich zu erhöhter Lautstärke ermuntert. Die jungen Sängerinnen haben es teilweise schwer, dagegen anzukommen. Doch gibt es viel klangliches Potential: den etwas hauchigen, aber ausdrucksstarken Mezzosopran Ulrike Mayers etwa oder die vibratoreiche, runde Altstimme Patricia Roachs. Als spritziger Koloratursopran brilliert Barbara Heising in der Rolle von Holofernes' Diener. Mit soubrettenhaft lyrischem Sopran glänzt Ekaterini Papadopoulou.

URSULA BÖHMER

 

Frankfurter Rundschau
21. Mai 2004

Mord im Mädcheninternat
Georges Delnon inszeniert Antonio Vivaldis Oratorium "Juditha triumphans" am Staatstheater Mainz als ein mehrschichtiges Spiel der Macht

VON TIM GORBAUCH


In diesem Mädchen-Internat fehlt es offenbar an Zucht und Ordnung - vielleicht sollte Judith nicht nur triumphieren, sondern auch mal aufräumen.
(FR)

Noch ist die Welt in Ordnung. Im Dormitorium des Mädcheninternats sind die Betten sorgsam aufgereiht, im Hintergrund thront das Abbild einer entrückt leidenden Heiligen. Die jungen Damen tragen, wie ein Emblem ihrer Unschuld, Nachthemden im reinen Weiß, die Aufseherin und Zuchtmeisterin dagegen zeigt sich im strengen Schwarz, das abgründig wirkt und auch latent gewalttätig. Ohnehin gärt es unter der Oberfläche. Unter den Bettdecken der Mädchen finden sich versteckte Hosen und Hüte - wenn für ihre pubertierenden Sehnsüchte keine Männer vorhanden sind, müssen sie eben gespielt werden. Man tastet sich ab, fasst sich an, probiert, entdeckt, wie man auch mit verschiedenen Identitäten jongliert, männlichen wie weiblichen.

Im Selbstfindungsprozess der aufblühenden Jugend wird auch ein biblischer Mythos nachgespielt. Der von der Jüdin Judith, "dem glorreichen Vorbild ewiger Tugend", die ihre Stadt vor der Vernichtung durch die Truppen Nebukadnezars bewahrt, indem sie ins feindliche Lager überläuft, dort den schrecklichen Heerführer Holofernes mit ihrer Schönheit betört, um ihn nach der Liebesnacht zu enthaupten. Antonio Vivaldi hat daraus ein ungemein opernhaftes, von nur wenigen Chören durchsetztes, vor allem von Rezitativ und Arie getragenes Oratorium gemacht, das schon Herbert Wernicke vor 20 Jahren für die Opernbühne entdeckte. Nun hat es ihm der Mainzer Intendant Georges Delnon nachgemacht, in einer Koproduktion des Mainzer Staatstheaters mit der Kammeroper Schloss Rheinberg, wo Juditha triumphans schon im letzten August zu sehen war.

Dabei arbeitet Delnon in seine Inszenierung die Uraufführungssituation mit ein. Vivaldi komponierte sein Oratorium für die Ospedale della Pietà, einem Hospiz für verwaiste, ausgesetzte oder bedürftige Mädchen inmitten von Venedig, das sich neben der allgemeinen Erziehung auch der musikalischen widmete. Das Niveau war der Überlieferung nach enorm, die Partitur der Juditha erzählt in ihrer weitläufigen, sinnlichen Farbigkeit davon. Alle Rollen, auch die männlichen, waren mit Frauen besetzt. Und der gender trouble, der damit einherging, das Gefühl einer ambivalenten Sexualität, die sich performativ entdeckt und ausprobiert, ist ein Grundmotiv von Georges Delnon. Immer wieder lässt er seine Protagonistinnen in verschiedene Rollen schlüpfen und dabei Hosen und Röcke miteinander tauschen.

Doch das Spiel auf der Bühne entgleitet in bitteren Ernst. Delnon schließt die von Eifersucht und Missgunst unterfütterten Hierarchien des Mädcheninternats, die Anführer, Mitläufer und Unterdrückte kennen, mit der apokryphen biblischen Erzählung kurz. Das Spiel der Macht verläuft auf mehreren Ebenen gleichzeitig, deren Grenzen immer mehr verwischen, bis das Spiel die Wirklichkeit erreicht und der lange angekündigte, von allen still geduldete Mord an Holofernes kein Theater mehr ist, sondern der ungeliebten Bandenführerin des Mädcheninternats gilt.

Vor allem Patricia Roach als Judith, aber auch Ekaterini Papadopoulou als deren im entscheidenden Augenblick soufflierende Magd Abra, Ulrike Mayer als Holofernes und Barbara Heising als dessen Kämmerer Vagans nähern sich dabei unverbraucht und lebendig der barocken Vielfalt Vivaldis, ein gutes Stück entfernt von den neuesten Erkenntnissen historischen Aufführungspraxis, aber deshalb nicht unangenehm breit oder verwässert. Dem von Michael Millard geleiteten Philharmonischen Orchester des Staatstheaters, ungewohnt mit historischen Instrumenten agierend, fehlt es dagegen zu oft an der Bestimmtheit und Präzision, die in der Beschäftigung mit Alter Musik längst Standard geworden ist. Die spürbare Zuneigung zu Vivaldis Partitur und der Wille, sie so warm und farbig wie möglich zu spielen, allein sind nicht genug, um die "tönenden Psalter", mit denen Vivaldi Judiths Sieg über Holofernes pries, glaubhaft umzusetzen.

 

WIESBADENER KURIER
22.05.2004

Doppelspiel im Internat
Premiere in Mainz: Vivaldi-Oratorium, inszeniert von Georges Delnon


Mädchen unter sich: Patricia Roach als Juditha (links) mit Ulrike Mayer als Holofernes.
Müller

Von Axel Zibulski

Gerne erinnert man sich daran, wie Georges Delnon vor drei Jahren am Staatstheater Mainz Händels "Saul" auf die Bühne brachte. Zur Wiedereröffnung des Großen Hauses inszenierte der 2006 in Richtung Basel scheidende Intendant das barocke Oratorium ungemein suggestiv und bildstark. Es ist ja ohnehin ein wenig in Mode gekommen, reine Vokalwerke fürs Theater zu entdecken: Nächste Saison spielt Wiesbadens Staatstheater Bachs Johannespassion, Mainz den "Elias" von Mendelssohn. Und jetzt das einzige erhaltene Oratorium von Antonio Vivaldi: "Juditha triumphans devicta Holofernis barbarie". Die Inszenierung war vergangenes Jahr bereits an der Kammeroper Schloss Rheinsberg zu sehen.

An das hohe Niveau seines "Saul" kann Delnon mit Vivaldi jedoch nicht anknüpfen; zu sehr sperrt sich das Vivaldi-

Oratorium gegen die szenische Dramatisierung, zu der Delnon auch das Bühnenbild sowie, gemeinsam mit Elena Meier-Scourteli, die Kostüme beigesteuert hat. Der Regisseur lässt das Geschehen auf zwei Ebenen spielen: In der alttestamentarischen Handlung rettet Juditha ihre Stadt Betulia, indem sie die Liebe des Feldherrn Holofernes zu ihr weckt und ihn dann hinterhältig tötet.

Auf der Bühne des Staatstheaters Mainz wird auch dies wiederum gespielt: Von Mädchen in einem Internat, die ihrerseits die Rollen in dieser Handlung unter sich verteilen und übernehmen, bis aus ihrem Spiel allmählich ernst wird, gipfelnd im ganz blutigen Mord der Judith-Darstellerin an jener des Holofernes. Jedoch: Das dauert, und zwar pausenlose eindreiviertel Stunden, in denen manche Arie des zum Dramatischen gewendeten Oratoriums einer stringenten Bühnenhandlung empfindlich im Weg steht.

Dabei ist die Idee, das Geschehen in ein Mädcheninternat zu verlagern, gar nicht einmal aus der Luft gegriffen: Vivaldi selbst schrieb das Werk für das venezianische Ospedale della Pietá, an dem es 1716 von dessen ausschließlich weiblichen Bewohnerinnen uraufgeführt wurde. In Mainz wirkt freilich bereits der Beginn langatmig: Da studieren die jungen Damen auf den Betten in ihrem Schlafsaal über Minuten die inspirierende Lektüre, bis endlich der erste Takt Musik erklingt und eine strenge Aufseherin zur zackigen Ordnung ruft. Die Betten (auf der Opernbühne gefährliche Ausstattungs-Platitüde!) werden von den Mädchen bald zum variablen Bühnenbild verschoben, sie werfen sich Früchte und Gemeinheiten zu, gehen auf in ihrem Spiel, von der Aufseherin angetrieben. Irgendwann und nach lang empfundener Liebesszene nicht ganz zwingend ereignet sich der Mord.

Bedenklich ist bei all dem die Artikulation der Darstellerinnen: Vivaldis Oratorium ist in lateinischer Sprache vertont, doch man singt in Mainz, bei deutscher Übertitelung, mit einer italienischen, zudem kaum verständlichen Aussprache. Von der ausschließlich weiblichen Besetzung einschließlich achtköpfigem Chor, der aus Studierenden des Fachbereichs Musik an der Mainzer Universität besteht, überzeugen am ehesten Claudia Eder (Aufseherin/Ozias) sowie Ekaterini Papadopoulou, Judithas Vertraute Abra spielend: kleine Dame, großer Alt! Zuverlässig und jugendlich, aber nicht gleichermaßen mit dem Barockgesang vertraut wirken Patricia Roach als Darstellerin der Juditha, Ulrike Mayer als Holofernes und Barbara Heising (Vagans). Immerhin musikalisch stimmt das Umfeld. Dirigent Michael Millard und das Orchester des Staatstheaters liefern die barocke Instrumentalbegleitung nämlich frappierend

 

Mainzer Allgemeine Zeitung
03.05.2004

Mordsspektakel im Mädchenpensionat
Georges Delnon inszeniert in Mainz Antonio Vivaldis Oratorium "Juditha triumphans"

Von Jan-Geert Wolff

Das Köpfen desjenigen, der eine schlechte Nachricht überbringt, ist - Gott sei´s gedankt - nicht mehr eiserne Regel. In der apokryphen Geschichte von Juditha und Holofernes ist es indes Thema - und brandaktuell: Der syrische König Nebukadnezar hat ein Heer unter Holofernes´ Führung in das jüdische Betulia entsandt, um das Volk zur Zahlung einer Steuer zu zwingen. Die junge Witwe Juditha plant die Rettung ihrer Stadt, begibt sich in das feindliche Lager, gaukelt Holofernes ihre Liebe vor und ermordet ihn im Schlaf - Betulia ist gerettet, die lästige Steuer abgewendet. Wenn´s doch nur so einfach wäre!

Antonio Vivaldi hat sich dieses Stoffes angenommen und mit einem Libretto von Giacomo Cassetti für die Uraufführung im Jahr 1716 in Venedig das szenische Oratorium "Juditha triumphans devicta Holofernis barbarie" komponiert. In den späten 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde die Partitur zu diesem Stück in Oberitalien entdeckt.

Am Mainzer Staatstheater erlebte dieses Werk jetzt seine gefeierte Premiere. Als Koproduktion mit der Kammeroper Schloss Rheinsberg und dem Fachbereich der Johannes Gutenberg-Universität hat Intendant Georges Delnon ein spritziges Stück Musik inszeniert.

Das Ganze spielt im Schlafsaal eines Mädchen-Pensionats, in dem allabendlich das Stück als grausiges Betthupferl aufgeführt wird. Holofernes (Ulrike Mayer) darf sich seine Komparsen aussuchen: Juditha (Patricia Roach), Holofernes´ Vertrauten Vagans (Barbara Heising), Judithas Freundin Abra (herausragend: Ekaterini Papadopoulou) und Ozias (Claudia Eder).

Und schon nimmt das Geschehen seinen Lauf: Als Theater im Theater erlebt das Publikum die Geschichte in lateinischer Sprache mit - gemessen am Libretto leider etwas dürftigen - deutschen Obertiteln. Da stehen sie, die erblühenden Backfische im weißen Nachthemd und singen von "Waffen, Gemetzel, Rache und Wut, Angst und Schrecken", wobei ihre sauberen Hälschen von Frau Oberin inspiziert werden. Es sind diese kleinen, nicht selten pikanten und erotisch knisternden Ausschmückungen, die der etwas simplen Handlung in der szenischen Darstellung trotz des dramatischen Moments einen gewissen Witz und Esprit verleihen.

Allgelegentlich erinnern die Mädels in Gestik und Mimik ein bisschen an Leni Riefenstahl und geben dem Spiel einen gewissen BdM-Gout. Aber gleichviel: Unattraktiv sind die jungen Damen weder als weißbebluste englische Fräuleins, noch erregen ihre Leiber in den engen Leibchen ästhetischen Anstoß.

Manche Aktionen auf der Bühne sind unverständlich, manche unterstreichen hingegen gekonnt die Handlung - wie der Kostümwechsel, während Juditha ihre Arie singt und dabei ins gegnerische Lager wechselt.

Sowohl die Solisten als auch das Vokalensemble sind glänzend aufgelegt und passen sich dem schmissigen Spiel des Philharmonischen Orchesters des Mainzer Staatstheaters (Leitung: Michael Millard) gekonnt an. Mit frischen, jungen Stimmen trumpft das Ensemble hier auf - was richtig Spaß macht und über manche Längen in der Vivaldischen Komposition locker hinweg tröstet, wobei Eingangs- und Schlusschor barocke Pracht vom Feinsten erklingen lassen, die der Klangkörper genauso wie die teilweise filigranen solistischen Arienbegleitungen mehr als überzeugend spielt.

 

Darmstädter Echo
22.5.2004

Kalte Dusche für Gefühle
Musiktheater: Am Staatstheater Mainz holt Georges Delnons Inszenierung Antonio Vivaldis Oratorium „Juditha triumphans" in die Gegenwart

Von Siegfried Kienzle

MAINZ. Ein Schlafsaal im Mädcheninternat: Neonröhren über den eisernen Bettgestellen, ein tristes Waschbecken an der Wand. Hier führt die Aufseherin (Claudia Eder) ein militärisch strenges Regiment. Wie zur Strafarbeit drillt sie den Mädchen mit dem Schlagstock die Geschichte aus dem Alten Testament ein: Um die Vaterstadt zu befreien, verführt Judith den feindlichen Feldherrn Holofernes und ersticht ihn in der Liebesnacht.

Mit dem Schauplatz Mädchenverwahranstalt versetzt die Regie von Georges Delnon das lateinische Oratorium von Antonio Vivaldi in die Gegenwart. Bereits im Vorjahr hat er die Inszenierung als Nachwuchsprojekt an der Kammeroper Schloss Rheinsberg erarbeitet und realisiert nun die Wiederaufnahme mit dem Fachbereich Musik der Mainzer Universität.

Die Verfremdung des Stoffs als Schulaufführung reflektiert die Entstehung des Oratoriums: Vivaldi schrieb es 1716 für die Mädchen des venezianischen Waisenhauses „Ospedale della Pieta", wo er die Zöglinge fast 30 Jahre als Chorleiter und Geigenlehrer unterrichtete. Wie in seinem berühmten „Gloria" setzt er nur weibliche Stimmen ein. Zunächst singen die Schülerinnen Einleitungschor und Rezitative brav aus dem Buch. Dann steigern sie sich in ihre Rollen hinein, vermischen Spiel und Realität, brechen immer wieder aus den Figuren aus, um die eigenen pubertären Gefühle, Ängste, Gewaltobsessionen auszuleben. Das kalte Wasser aus dem Waschbecken muss zuweilen die Emotionen dämpfen.

Nur zu bald hat sich der Einfall verbraucht und belebt nur mühsam die zähe Abfolge der Rezitative und Arien und die eher gleichförmige Musik Vivaldis, die von Händels raffinierten Kontrastspannungen weit entfernt bleibt. Patricia Roach verwandelt die Tonkaskaden und Adagio-Schmerzlichkeit der Judith, die zwischen Hass, Liebe und Friedenssehnsucht schwankt, in bezwingende Mezzo-Intensität. Alle anderen Figuren sind Studentinnen anvertraut, aus denen Ulrike Mayer (Holofernes) und die Eifersuchtskoloraturen von Barbara Heising als Vagans herausragen.