Frankfurter Allgemeine Zeitung
13. Mai 2004

Musiktheater
Der Teufel steckt im Anatom:
Dietrich Hilsdorf in "Mefistofele"

13. Mai 2004 "Frankenstein ist auch ein Faust-Epos." Dietrich Hilsdorf hat recht. Wohl nicht ganz zufällig sei der Schauerroman von Mary Wollstonecraft Shelley 1818, also in der Zeit zwischen Goethes erstem und zweiten Teil des "Faust" erschienen, fährt der Regisseur fort und denkt fasziniert zurück an das Anatomische Theater in Wien. Auch kann er sich noch immer nicht aus dem Bann seiner eigenen Arbeiten über "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" lösen. Dreimal hat er diesen Roman für die Bühne adaptiert, den Robert Louis Stevenson 1884 über die Persönlichkeitsspaltung verfaßt hat. Deshalb wird sein Faust (Alberto Cupido) als Anatom eine Frauenleiche zu reanimieren versuchen, deshalb wird sich sein Mephisto (Mark S. Doss) von diesem hybriden Gelehrten abspalten, um ein düsteres, aber unterhaltsames Eigenleben als Titelheld einer italienischen Oper zu führen.

"Einen Gott gibt es nicht bei Arrigo Boito", begründet der Regisseur sein Konzept für den "Mefistofele", der unter der musikalischen Leitung von Paolo Carignani am 16. Mai an der Frankfurter Oper Premiere hat. Nach Friedrich Meyer-Oertel (1990) ist Hilsdorf der erste Regisseur, der sich an dieses verschollene Stück Musiktheater von 1875 wagt, das sonst hierzulande nur konzertant zu hören war. "Sei gegrüßt Herr", singt Boitos Chorus mysticus dem selbstvergotteten Naturwissenschaftler im Prolog zu. Bühnenbildner Johannes Leiacker hat ihm denn auch keine Studierstube, sondern ein Anatomisches Theater eingerichtet. Dort hantiert der Renaissancemensch des 19. Jahrhunderts mit einer Puppe, die später beim Hexensabbat in vitro fertilisiert wird, damit ihr der blinde Kreator im Epilog einen Homunkulus herausschneiden kann.

Schon in der Renaissance sei der "Eintritt" für die Besucher aus London teurer gewesen, wenn im Anatomischen Theater von Leyden eine Frau geöffnet wurde, berichtet Hilsdorf und fragt sich, ob da nicht eine gehörige Portion Voyeurismus bei der aufkommenden Schulmedizin der Männer im Spiel war. Für den Regisseur steckt der Teufel im Frauenbild des Anatoms, eines Kontrollfreaks zwischen Frankensteins Allmachtswahn und Mr. Hydes Nachtseite. Kurzum: in einem Mann des 19. Jahrhunderts wie diesem Faust, der zuerst die Wirklichkeit der Frau mit Margherita (Annalisa Raspagliosi) als schrecklich und dann die sublime Schönheit Elenas (Michela Remor) nur als Traum erlebe, bis ihm einzig die tote Frau als Erfüllung bleibe. Hilsdorf bekennt sich zu einer "aleatorischen Interpretation": Nach dem Zufallsprinzip knüpft er ein Netz aus Bildern und Assoziationen und wirft es über Boitos vier Akte. Dabei hat ihn die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen ebenso inspiriert wie Arthur Schnitzler.

Doch ist das Neuland, das er mit Boito betritt, auch ein Neuanfang für Hilsdorf in Frankfurt? Hier hatte er sich vor 14 Jahren mit einer Inszenierung von Tankred Dorsts "Korbes" im Schauspiel verabschiedet. Aber ist er nicht eigentlich hier zu Hause, wo er, der gebürtige Darmstädter, Ende der sechziger Jahre an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst bei den Theaterkritikern Günther Rühle und Peter Iden gelernt hat und sich von Hans Neuenfels, Elisabeth Trissenaar und Lore Stepanek zum Schauspieler ausbilden ließ.

Bei Neuenfels hat er später auch assistiert, bei Peter Palitzsch ebenfalls, und von beiden fühlt er sich stark geprägt, wie überhaupt von der fast schon legendären Ära der Mitbestimmung in den siebziger Jahren. Lehrmeister Rühle holte ihn mit Beginn seiner Intendanz 1985 als Hausregisseur ans Frankfurter Schauspiel, und gleich sorgte Hilsdorf für einen Skandal, den er aus der Retrospektive allerdings nicht als negativ, sondern als "realistisch" erlebt haben will: den Aufruhr um Fassbinders Stück "Die Stadt, der Müll und der Tod". "Das war einfach Gesellschaft", resümiert er heute. Überhaupt hat er die fünf Jahre unter Rühles Intendanz in bester Erinnerung: "aufreibend, aber gut". Insgesamt 13 Stücke habe er hier inszeniert, und an einige wie "Hexenjagd" oder "Ödipus" und den "Zerbrochnen Krug" denkt er gern zurück. Selbst über seine Georg-Kaiser-Revue kann er mittlerweile lachen: Nach diesem Flop habe Rühle das Handtuch geworfen, und er selbst mußte ebenfalls gehen.

Seitdem hat Hilsdorf in Stuttgart, Münster, Essen und Wiesbaden gearbeitet, vor allem an Opern. Schon 1982 hatte er in Gelsenkirchen mit "Eugen Onegin" debütiert. Inzwischen sind gut 40 Opern unter seinen 105 Inszenierungen. Für Mozart und Verdi hat dabei eine besondere Vorliebe entwickelt, "weil die beiden immer nur fragen, während Wagner immer schon alles weiß". Außerdem machten Mozart und Verdi den Menschen zum Gegenstand ihrer Untersuchung, wie Brecht sagen würde, und nicht sich selbst wie der Bayreuther. Seine musikalischen Kenntnisse hat sich der Schauspielregisseur schon als Schüler in der Kantorei des Laubacher Internats nahe Gießen erworben, wo auch Udo Samel mitgesungen habe. Nicht daß er das Schauspiel verschmähte, zumal es dort mehr zu lachen gebe, aber alle wollten jetzt Musiktheater von ihm: "Die lustige Witwe" in Essen hat er gerade hinter sich, und im kommenden Jahr will er sich in Wiesbaden, wo er mit seiner Frau, der Schauspielerin Ulrike Gubisch, wohnt, sogar an die "Johannespassion" wagen. Nach dem "Mefistofele" aber wird er erst einmal Steven Sondheims Musical "Sweeney Todd" an der Komischen Oper Berlin inszenieren Da werden Leichen nicht nur geöffnet, sondern auch verbacken.

CLAUDIA SCHÜLKE

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung
17. Mai 2004

Frankfurt und Frankfurter: Paolo Carignani

Seine Lieblingsoper war es nicht, aber dennoch hat Generalmusikdirektor Paolo Carignani "Mefistofele" von Arrigo Boito dirigiert, als ob es seine Lieblingsoper sei: einfach makellos. Opernintendant Bernd Loebe fiel dazu bei der Premierenfeier am Sonntag abend nur eines ein: "Ein Profi." Das läßt sich auch vom neuen Chorleiter Alessandro Zuppardo behaupten, der sein Können zwar schon bei früheren Aufführungen bewiesen hat, bei dieser Choroper aber zum erstenmal so richtig gefordert war. Der neue Publikumsliebling heißt freilich Mark S. Doss, der als eleganter Mefistofele die Herzen gewiß aller Damen und wohl auch der meisten Herren im Saal eroberte. In der nächsten Saison kommt der Amerikaner aus Cleveland wieder nach Frankfurt - und wiederum als "Geist, der stets verneint". Nur nennt er sich dann nicht mehr italienisch Mefistofele, sondern französisch Mephistopheles, denn auf dem Spielplan steht Charles Gounods "Faust". (rieb.)