Frankfurter Allgemeine Zeitung
Dienstag, 18. Mai 2004, Nr. 115 / Seite 37


Von Zeit zu Zeit hab' ich'ne Leiche gern: Faust enthüllt des Pudels Kern.
Foto Thilo Beu

Im Hörsaal ist der Teufel los
Dietrich Hilsdorf versucht sich an den Städtischen Bühnen Frankfurt an Arrigo Boitos überschätztem "Mefistofele"

Zu den ersten Blechbläserfanfaren aus dem Orchestergraben wird auf den geschlossenen Vorhang - als sei es eine Leinwand - der Titel "Mefistofele" projiziert. Aha: Kino. Auf den Filmvorspann aber wartet man vergeblich. Dafür wird der Bühnenvorhang hochgezogen, und man blickt in einen medizinischen Hörsaal. Leere Ränge, nur in der Mitte ein mit einem weißen Leintuch bedeckter Körper auf einem Bettgestell. Aha: Plastination. Der Chorus Mysticus belehrt uns, daß sogleich die Cherubim und die Büßerinnen erscheinen werden. Dann noch einmal das "Schmettern der sieben Trompeten", wie es das Libretto verlangt. Im selben Moment wird die Tür zum Hörsaal aufgestoßen und ein derangierter Professor erscheint. Aha: Faust. Während sich allmählich der Hörsaal mit den himmlischen Heerscharen füllt, dekorativ in Nonnentracht gekleidet und ihr "Ave Signor" anstimmend, lüftet Faust das Tuch und nimmt an dem nackten Frauenkörper Wiederbelebungsversuche durch ausgiebige Mund-zu-Mund-Beatmung vor. Vergeblich. Dennoch scheint die Behandlung ihre Nebenwirkung nicht verfehlt zu haben. Unter dem Laken regt sich etwas, was sich als ein wahrer Prachtkerl entpuppt. Aha. Mephisto: "Sei gegrüßt, o Herr. Verzeih, wenn meine Redeweise weit hinter allen Paradiesklängen zurückbleibt." Na, der ist ja gut. Nicht nur die Redeweise läßt zu wünschen übrig. Am toten Subjekt hat er offenbar nekrophile Handlungen vorgenommen. So, wie der Regisseur Dietrich Hilsdorf durch seinen Bühnen- und Kostümbildner Johannes Leiacker die Szene an den Städtischen Bühnen in Frankfurt ausstatten ließ, hat man sich Goethes "Prolog im Himmel" zwar nicht vorgestellt. Aber das Vorspiel führt plausibel und vor allem im Einklang mit der Musik in das Geschehen ein, das der Librettist und Komponist Arrigo Boito aus Goethes Faust I und II zu seiner 1868 geschriebenen und sieben Jahre später revidierten Oper "Mefistofele" kompiliert hat.

In den vier folgenden Akten findet der Hörsaal noch gute Verwendung für Fausts Studierzimmer und die Walpurgisnacht, in der die Heerscharen, nunmehr zu Hexen mutiert, ihren etwas albernen Sabbat feiern. Um hundertachtzig Grad gedreht verwandelt sich der Saal in ein mit Gitterfenster bestücktes Bühnenbild als Kulisse für Fausts Spaziergang, die Kerkerszene mit Margarethe und die Trugbilder um die betörende Helena, die hier freilich weniger als Schönheit der antiken Sagenwelt, vielmehr wie eine Lilo Wanders daherkommt, freizügig durch ihre wa(h)re Welt wandelnd. Das alles mag ein bißchen billig wirken, geschmäcklerisch und auch ein wenig eklig, etwa wenn Mefistofele einen abgetrennten Arm wie ein Zepter seiner Unheiligkeit vor sich herträgt oder aus der toten Margarethe ein Homunkulus hervorgezerrt und anschließend im Reagenzglas entsorgt wird. Aber sei's drum. Man hat auf der Opernbühne schon Schlimmeres erlebt, und man kann nicht unbedingt sagen, daß es dem Plot zuwiderläuft.

Was diese Aufführung allerdings fast zu einer Zumutung werden läßt, ist die musikalische Leistung des Ensembles auf der Bühne. Gewiß gehört Arrigo Boitos Oper mit ihren vielen problematischen Passagen, ihrem auf das szenische Geschehen selten Rücksicht nehmenden symphonischen Duktus und ihren vielen Leerstellen, bei denen die Sänger nur spärlich von ein paar verlorenen Klangfarben gestützt werden, nicht zu jenen Werken, die sich sozusagen ganz von selbst singen lassen. Und man muß die Gesangsleistungen auch nicht an jener Aufnahme aus dem Jahre 1988 messen, bei der ein Samuel Ramey die Titelpartie und Placido Domingo den Faust übernahmen. Aber daß die Hauptpartien mit Sängern besetzt wurden, die nur dem Hohn und Spott von Eduard Hanslick bis zu George Bernard Shaw über das Werk Boitos neue Nahrung liefern könnten, weil sie zu keinerlei vokaler Differenzierung fähig sind, nur zu Fortissimo-Ausbrüchen, das ist denn doch gerade bei einem Haus unverständlich, das sich zu Recht auf sein sängerisches Niveau einiges zugute halten kann.

Als diabolische Erscheinung und in entsprechenden Handlungen mag Mark S. Doss in der Titelrolle durchgehen, seinem Baß fehlt es freilich an Volumen und Strahlkraft, um musikalisch zu beglaubigen, was ihm die Geschichte auferlegt hat. Über Alberto Cupidos Meriten im italienischen Belcanto-Fach muß man nicht rechten, als Stentor-Faust mit bedenklichen Intonationsschwächen blieb er hier eine krasse Fehlbesetzung, der mit Forcierung überspielte, was ihm an gestalterischer Fähigkeit abging. Ebenso ungenügend Annalisa Raspagliosi als Margarethe, die ihre Arien ohne große lyrische Nuancierungen versah. Alle weiteren Partien, von Boito nicht gerade als Gemmen der Gesangsliteratur ausgestattet, fügten sich in das undifferenzierte vokale Klangbild. Ausnehmen von diesem Rundum-Tadel kann man lediglich den von Alessandro Zuppardo für die pathetischen Ausbrüche gut eingestimmten Chor und den Kinderchor (Einstudierung: Pablo Assante). Auch Paolo Carignani, sonst ein zuverlässiger Lotse durch schwierige Partituren, konnte dem insgesamt zuverlässigen Orchester nicht jene Klangaura abgewinnen, aus der man eine Ehrenrettung für Boito hätte ableiten können.

WOLFGANG SANDNER

 

Frankfurter Rundschau
18. Mai 2004


An der Bahre ... und leider auch Pathologie: Alberto Cupido als Faust und der Kinderchor der Oper Frankfurt an der Bahre. (Oper Frankfurt)

Lehrstück vom physischen Menschen
Im Anatomiesaal: Arrigo Boitos "Mefistofele" mit Carignani und Hilsdorf an der Oper Frankfurt

VON HANS-KLAUS JUNGHEINRICH

Alles beginnt und endet in der Anatomie. Die Bühne (Ausstattung: Johannes Leiacker) ein kahler, amphitheatralisch terrassierter Saal, rechts vorne ein riesiger eingebauter Glasschrank mit dem zünftigen Anschauungsmaterial. Das Reich der konservierten Föten, der Skelette, der anatomischen Präparate. In der Mitte das Demonstrationsobjekt auf dem Seziertisch unter weißem Tuch. Es ist, man ahnt es, eine Frauenleiche. Alles beginnt und endet bei der Frau. Tot oder lebendig.

Feierlich, sakral erhaben beginnt Arrigo Boitos Oper Mefistofele mit Hintergrundfanfaren. Der leicht grotesk hüpfende musikalische Auftritt der Titelfigur wendet sich, der Weimarer Dichterfürst will's so, an Gott höchstselbst. Dessen persönliche Anwesenheit (vielleicht als Bassbariton?) wird vom Komponisten geschmackvoll vermieden und durch tönende Malkunst der gemischten Chöre (als fliegenschwärmige Engelschar noch dazu ein Kinderchor) substituiert. In Dietrich Hilsdorfs Frankfurter Inszenierung ist der HErr abwesend, so dass der Teufel sein höhnisches "Ave, Signor" dem praktischerweise schon auf der Szene befindlichen, scheu den bedeckten Kadaver umschleichenden Faust entgegenbleckt. Mephisto kennt solch gesittet zagende Gelehrten-Diskretion nicht; urplötzlich hinter dem Leichnam hervorsteigend, macht er sich hernach schamlos indezent an dessen ehemals erogenen Zonen zu schaffen.

Prolog in der Vorhölle

Arrigo Boito handelte klug, indem er dem bürgerlichen Kultstück Goethes mit einer leichten dramaturgischen Drehung Fausts dämonisches alter ego als Titelheld verpasste. Die Akzentverschiebung vermittelt dem mittelalterlich mysterienhaft durchsprenkelten Spektakel damit allerdings auch mehr als einen bloßen Anhauch von "negativer Theologie". Der südliche Blick aufs teutonische Welttheater weidet sich an katholisch fromm-orgiastischem Gepränge. Dessen weltlich aufdringliche Selbstfeier wetteifert an obszönem Aberwitz nicht schlecht mit den traditionellen Schreckensfantasien der walpurgisnächtlichen Hexen- und Satansfestivitäten.

Schon gar nicht in Hilsdorfs lebhaft das Kaleidoskop der abendländischen Andachts- und Tabuwerte schüttelnder Szenographie. Da ist schon das machtvolle "Prolog im Himmel"-Entrée mit Nonnen, Ärzten, ingrimmigen Irrenwärtern schockweise und schafherdenmäßig in zwangsjackenhaften Hemden hereingetriebenen Kindern ein überdeutlicher Vorgriff auf die Ausschweifungen der Walpurgisnacht. Und die obenhin arkadisch vom klassischen Griechenlicht erfüllte Helena-Szene gerät zur halbmondänen Varieté- und Pufftableau, wo Fausts Alterssex eine sinister-illusionäre Heimstätte findet.

Boito war Mitte zwanzig, als er die Oper schrieb, die bei der Uraufführung 1868 durchfiel und erst (revidiert) im zweiten Anlauf 1875 Erfolg hatte. Später wurde der Autor als Verdis Textmitarbeiter berühmter als mit seinen eigenen Kompositionen. Mefistofele hielt sich (mehr noch als der folgende Nerone) am Leben und fordert jede Generation italienischer Belkantisten aufs Neue heraus. Boitos Tonsprache ähnelt weniger der Verdis als etwa der Mascagnis. Wie bei der Vorlage nicht anders zu erwarten, zeigt sich in der Partitur recht markant jener "Germanismo", der auch in vielen anderen italienischen Opern (wie Loreley, La Wally und Amigo Fritz) triumphiert. Am drastischsten manifestiert sich das bei der Osterspaziergangsszene (1. Akt) mit ihren deftigen Ländlerrhythmen. Neben einigen inspirierten und wirkungsvollen Arien ist es vor allem der hymnisch sich aufwölbende, chorisch monumentale Prolog, der dem Stück eine unverwechselbare Signatur gibt. Er dient auch als finale Abrundung, die, ohne größere textliche Zurückgriffe auf die Endphasen von Faust II, die Atmosphäre des krönenden chorus mysticus beschwört.

Das Gemischte und knirschend Geklitterte, das bereits die Konstruktion des Goethe'schen Doppelwerkes kennzeichnet, verstärkt sich bei Boitos verknappender Version nochmals. So bleibt die Helena-Szene (4. Akt) als rudimentäres Paradigma von Faust II nur schwach integriert. Doch mutet aus heutiger Sicht der ungeschützt disparate, fragmentarische Werkcharakter (einschließlich seines pausbäckigen Rekurses auf die Konventionen der Opern-Italianità) interessanter an als die Gounod'sche Bescheidung aufs erotische Trauerspiel.

Dietrich Hilsdorfs szenische Zurichtung arbeitete mit Souveränität und Präzision vor allem das Ernüchterungspotenzial des Handlungsbogens heraus. Eine kompetente, selbstbewusste, aber nicht in bloßer Routine aufgehende Bühnenoptik. Mit der Metapher Anatomie zuvörderst auch so etwas wie eine Lehrstunde über den physischen Menschen, die (mit durchaus surrealen Mitteln) "Erdung" jener spirituellen und metaphysischen Hintergründe und Spruchweisheiten, die auch in Boitos Libretto ehrfurchtsvoll noch zitiert werden. Falls Boito oder Goethe das Publikum mit dem tröstlich-bombastischen Scheitern Mephistos und seines negativen Prinzips nach Hause schicken wollten, so macht Hilsdorf das aber nicht mit. Das Faustpfand Faust mag ihm am Schluss abhanden kommen, doch auch die eifrigsten Himmelschöre können den Teufel nicht besiegen. Mit dem Schlussakkord wirft er sich in ungebrochener Agilität über die leblose Frauengestalt auf dem Seziertisch. Kein geistliches Reinigungsritual kann die conditio humana vor seinem ewigen Zugriff retten.

Das spezifische Gewicht der Musik

Mit dem noblen, flexiblen und kernig intonierenden Bassisten Mark S. Doss fand dieser Mefistofele eine ideale, auch an geschmeidiger körperlicher Präsenz kaum zu übertreffende Gestalt. Die schwierige Tenorpartie des Faust wurde von Alberto Cupido nahezu gleichrangig gemeistert mit charakteristischer, auch zu hoher dynamischer Anspannung getriebener Stimmsubstanz; als Flaneur der ersten Akte (die Bühne zeigte bei einer Drehung als turmartige Rückseite jeweils käfigartige Zellen, Imagination von bürgerlicher Enge, Gefängnisverliesen und auch Helena-Liebeshöhlen)wirkte er streckenweise wie eine elegant-morbide ältliche Romanfigur von Italo Svevo. In differenziertesten expressiven Tönungen exzellierte (ungeachtet einiger unschöner Timbre-Verfärbungen im Gefängnisbild) die Margherita von Annalisa Raspagliosi. Von abgründiger Sonorität die Elena von Michela Remor.

Über das spezifische Gewicht der musikalischen Darbietung ließ die Direktion von Paolo Carignani nicht den geringsten Zweifel. Der trotz allen Detailreichtums raffenden Klarheit der Inszenierung entsprach die formsichere, energisch zupackende, zugleich in raffinierten instrumentalen Valeurs filigrane und ausgehörte Musikwiedergabe. Bedeutenden Anteil hatten zumal die Chöre. Der aufmerksame und klangmächtige Opernchor, einstudiert von seinem neuen Leiter Alessandro Zuppardo, wurde ergänzt vom nicht minder ansprechenden Kinderchor (präpariert von Pablo Assante). Boitos Mefistofele, eine Opern-Rarität von nicht zu unterschätzendem Format. Eine in jeder Beziehung respektable Faust-Adaptation. In der Oper Frankfurt jetzt ein weiterer Leistungsnachweis, der das Prädikat "Opernhaus des Jahres" eindringlich bestätigt.

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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2004
Dokument erstellt am 17.05.2004 um 16:52:09 Uhr
Erscheinungsdatum 18.05.2004

 

Frankfurter Neue Presse
18. Mai 2004

Gretchen auf dem Seziertisch
Regisseur Dietrich Hilsdorf verlegte Arrigo Boitos "Mefistofele" an der Oper Frankfurt in einen Anatomie-Hörsaal und erntete dafür enthusiastischen Premierenapplaus.

Von Michael Dellith

Das Spektakuläre dieses Abends fand nicht auf der Bühne statt. Vielmehr übertraf das, was Generalmusikdirektor Paolo Carignani dem Orchestergraben entlockte, alle Erwartungen. Gilt doch die Musik des Wagner-Verehrers und Verdi-Librettisten Boito als unausgegoren, schwankend zwischen Leerlauf und klanglicher Überfrachtung. Auch wird dem Italiener eine eher dürftige melodische Erfindungskraft bescheinigt. Carignani aber gelang es, die deklamatorischen und atmosphärischen Qualitäten von Boitos Oper hervorzuheben, ohne die Schwächen der Partitur bloßzustellen.

Das Museumsorchester überraschte mit skurril anmutenden Klangfarben, entfaltete dynamische Entwicklungen von dramatischer Wucht und rückte Boitos "Mefistofele" in die Nähe des Verismo. Musikalisch an vorderster Front agierten auch Chor- und Kinderchor der Oper Frankfurt, gehören doch die zahlreichen Massenszenen zu den tragenden Säulen des Stücks. Alessandro Zuppardo, der neue Chordirektor, hatte hervorragende Arbeit geleistet. Seine Sänger zeigten sich nicht nur stimmlich flexibel, sie konnten in den verschiedensten Rollen – von den himmlischen Heerscharen über trunkenen Pöbel und Studentenpack bis hin zum Hexenvolk – auch ihr schauspielerisches Talent ausleben. Dazu gesellte sich eine Solistenriege, die von dem grandiosen amerikanischen Bass Mark S. Doss angeführt wurde, der die Titelpartie weniger mit diabolischen als mit elegant-verführerischen Zügen gestaltete – als Teufelskerl im feinen Zwirn. Der Tenor von Alberto Cupido (Faust) gewann immer mehr an Geschmeidigkeit – wunderbar das Duett mit seinem Widersacher Mefistofele. Auch die Sopranistin Annalisa Raspagliosi überzeugte in ihrer Wahnsinns-Arie, Michela Remor (Elena) und Diane Pilcher (Marta) mangelte es ebenfalls nicht an Ausdruckspotenzial.

Und die Inszenierung? Hilsdorf ist mit seinem Regie-Partner Johannes Leiacker (Bühnenbild und Kostüme) zwar kein Geniestreich gelungen, aber eine respektable Umsetzung, die sich am Text und vor allem an der Musik dieser "Faust I" und "II" vereinenden Oper entlang hangelt und von Gunther von Hagens’ "Körperwelten"-Ausstellung inspiriert zu sein scheint. So findet sich das Personal aus Goethes Tragödien in einem Anatomiehörsaal wieder, der Teil einer Irrenanstalt ist. Eine nackte Frauenleiche (Gretchen) liegt auf dem Seziertisch, und Faust unternimmt im Prolog hilflos ein paar Reanimationsversuche. Diese Kulisse dient Hilsdorf auch für das lüsterne Treiben beim Hexensabbat in der ersten Walpurgisnacht-Szene, wo selbst Missgeburten aus dem Vitrinenschrank wieder lebendig werden. Das rückwärtige Bühnenbild zeigt einen Gefängnisturm, vor dem die Frankfurter Bürger (auch Goethe stolziert über die Bühne) ihren Osterspaziergang absolvieren und Gretchen in Kerkerhaft ihr "Heinrich, mir graut vor Dir" hauchen darf. Für die Klassische Walpurgisnacht im vierten Akt wird der Turm gar in Rotlicht getaucht und verwandelt sich in ein Bordell, in dem die wasserstoffblonde Helena als Domina ihr Regiment führt.

Das antike Arkadien mögen sich Goethe und auch Boito "romantisch" vorgestellt haben, die Realität sieht für Hilsdorf anders aus.

 

OFFENBACH POST
18. Mai 2004

Schocker mit vielen schönen Tönen
Dietrich Hilsdorf verlegt Boitos Faust-Oper "Mefistofele" in Hörsaal der Gynäkologie

Fausts existenzielles Ringen in bekömmlichen Opernhappen mit Herz-Schmerz-Kantilenen und dem gewissen Wagnerschen Klangbeben: Goethe-Verehrer, vor allem aus dem Land der Dichter, Denker und Hinterfrager, dürfte es da grausen. "Trash" nennt denn auch Paolo Carignani, Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt, Arrigo Boitos "Mefistofeles", nimmt aber die Oper des Verdi-Librettisten mit ihren abrupten Brüchen verdammt ernst.

Ein Regisseur hat hier alle Möglichkeiten der Welt bis hin zur lästerhaften Operette. Dietrich Hilsdorf entschied sich für ein Grusical - mit einem Personal, das aus dem Bestiarium des Seelenklempners Dr. Sigmund Freud stammen könnte. Und seine Neuinszenierung dieses Konglomerats nach "Faust I" und Faust II" sorgte am Sonntag in der Oper am Willy-Brandt-Platz für Hochspannung bis zum himmlischen Schluss. Schon weil man nie wusste, welch szenische Wendungen diese mild ironische Geschichte noch nehmen würde. Orchestral sehr effektiv und von Gastsolisten mit strammen Belcanto angereichert, verdienten sich vor allem Chor und Kinderchor (einstudiert von Alessandro Zuppardo und Pablo Assante) Bestnoten, die neben lieblichem Engelsgesang auch geflissentlich Horror verbreiten durften.

Hilsdorfs Szene, stets in Halbdunkel getaucht, hat permanent etwas Bedrohliches. Der Himmel des Opernprologs ist eine Art Hörsaal für angehende Gynäkologen, mit einem Schrank an der Seite, der menschliche Missbildungen birgt (Ausstattung und Kostüme: Johannes Leiacker). Im Zentrum ein Operationstisch mit einer nackten weiblichen Leiche, der Faust vergeblich Leben einzuhauchen versucht, umgeben von Oberschwestern, Ärzten und debil wirkenden Kindern in Zwangsjacken. Da strahlen selbst die getragenen Bläser intraden und der "Salve Regina"-Gesang eine morbide Feierlichkeit ab. Siegessicher bricht Mefistofeles wie ein Irrwisch in diese klinisch kühlen Sphären, vergeht sich gar an der Leiche: Top, die Wette gilt, dass er Faust zum Bösen verleitet.

Keine milde Frühjahrssonne - auch der Osterspaziergang findet im Finsteren statt - mit einem Frankfurter Völkchen, dessen spürbare Aggressivität ein Opfer fordert: Fausts Adlatus Wagner (Hans-Jürgen Lazar) macht aus seiner Abscheu gegenüber der feierwütigen Masse kein Hehl - und wird prompt verprügelt. Das ganze ereignet sich vor der Fassade des Klinikums, jetzt mit seinen eingelassenen Verließen, in dem monströse Menschen wie Tiere vegetieren, an den Wiener Narrenturm gemahnend (im Programmheft abgebildet).

Boito-Goethes Geschichte konsequent zu konterkarieren, scheint die Absicht von Regisseur Hilsdorf. Schon weil sie den gewohnten, hier allerdings sehr platten Verlauf nimmt. Szenisch auffällig ist naturgemäß der Höllensabbat - im Hörsaal statt im Harz. Mit Nackten, monströsen Gestalten und einer Ekelnummer, alles so kompakt dargeboten wie die Musik. Boito kann zwar in wenigen Takten eine Stimmung aufbauen, doch diese weiter zu entwickeln ist nicht sein Ding. So stellt Carignani himmlische Fanfaren neben höllische Fugen, sensible Arien und kraftvollen Schöngesang, reduziert den Klang bewusst bis auf illustrierendes Geräusch. Wie die Inszenierung ein ständiger Balance-Akt zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen - doch allemal glanzvoll bestanden.

Die geläufigen Zitate wirken musikalisch wie gerahmt: "Heinrich mit graut vor Dir" - gesungen wird zwar italienisch, doch es gibt Übertitel im Off. Und fabelhafte Tragödinnen wie Annalisa Raspagliosi, die Margheritas Sehnsucht und Wahn stimmlich verinnerlicht hat - und natürlich von schwerer Schuld erlöst wird. Als Marta trumpft Diane Pilcher kokett auf. Boitos Faust ist ein Tenor. Und Alberto Cupido stemmt hier ansatzlos die höchsten Töne, könnte freilich im Lyrischen intensiver sein. Dagegen setzt der Mefistofele des farbigen Kanadiers Mark S. Doss auf einen ungemein elastischen Bass, ein quirliger, ein sympathischer Teufel.

Fausts Liebestraum von Elena ereignet sich in einem Bordell: Mit einer Stimmkarten Michael Remor an der Seite, deren Sopran dem strammen Belcantisten Paroli bieten kann. Ihre Begleiterin Pantalis (Yvonne Hetteger) führt der hier junge Grieche Neréo (Michael McCown) wie ein Hündchen an der Leine - ein wenig Sadomaso muss wohl sein ...

Doch Faust hat längst erkannt, dass er vergeblichen Wunschträumen nachhing, findet sich an Krücken im Hörsaal wieder, wo die nackte Tote von einer Art Alien entbunden wird: Das Universum hat gekreißt, doch das fatale Ergebnis wandert ins Spiritus-Glas. Dynamisch wohltemperierte Engelsstimmen verkünden Fausts Rettung mit finalem Paukenschlag ...

"Mefistofele" in Frankfurt: Das ist ein Schocker mit vielen schönen Tönen, vom Premierenpublikum durchweg beifällig begrüßt. Nicht nur die nackten Tatsachen sprechen für zukünftigen Erfolg.

KLAUS ACKERMANN

 

Allgemeine Zeitung Mainz
18.5.2004


Ein Faust im Frankenstein-Format: Alberto Cupido in Dietrich Hilsdorfs Inszenierung von Arrigo Boitos Oper.
Foto: Thilo Beu

Kuss auf dem Seziertisch
Arrigo Boitos selten gespielter "Mefistofele" an der Oper Frankfurt

Von Siegfried Kienzle

Das Vorspiel im Himmel inszeniert Dietrich Hilsdorf recht irdisch: Johannes Leiacker hat das steile Halbrund eines anatomischen Theaters errichtet. Auf dem Seziertisch der nackte Leichnam eines Mädchens, das Faust mit einem gierigen Kuss reanimieren will. In der Frankfurter Neuinszenierung wird Faust zum Anatom. Die himmlischen Jubelchöre sind Klinikpersonal: weiß gekleidete Nonnen und bandagierte Patienten. Sie loben nicht mehr Gott, sondern ihren Chef Faust, den allmächtigen Wissens-Guru, dem die Zukunft gehört. Sogar Mefistofele richtet sein "Ave Signor" an Faust, der laut Partitur und Goethe-Text im Vorspiel gar nicht auftreten soll.

Radikal säkularisiert Hilsdorf das Erlösungsdrama und macht daraus Stationen vom Ende des Fortschrittswahns. Damit werden Faust und Mefistofele zu Spiegelbildern einer einzigen in sich gespaltenen Persönlichkeit. Der Pakt wird zur Blutsbrüderschaft unter Wesensgleichen.

Die Handlung ist in die Zeit des Komponisten Arrigo Boito verlegt - das entspricht der Konzeption, die Zweifel anmeldet an der Wissensgläubigkeit. Als Wagnerianer wollte Boito seinen "Mefistofele" als "Oper der Zukunft" entwerfen. Die Uraufführung wurde 1868 niedergebuht. Boito hat sich von dieser Schmach nie wieder erholt. Der von ihm erträumten Oper der Zukunft konnte er später als Textdichter von Verdis Meisterwerken "Falstaff" und "Otello" den Weg bereiten.

Musikalischer Höhepunkt des Abends ist die Walpurgisnacht: wie Paolo Carignani die instrumentalen Finessen dieser Höllenmusik ausbreitet, wie er die Energien der Doppelfuge des Chors, der hier die Insassen einer Irrenanstalt verkörpert, antreibt, das ist Spitzenklasse.

Für Bässe von Schaljapin bis Boris Christoff erwies sich Mefistofele als die glanzvollste Gesangsrolle. Mark S. Doss hat nicht die dämonische Urgewalt der Tiefe, sondern fasziniert zynisch und elegant als beweglicher Komödiant. In der klassischen Walpurgisnacht narrt er Faust, wenn er sich als angeschmachtete Elena verkleidet. Alberto Cupido hat Boitos Faust bereits vor 15 Jahren auf CD eingespielt und wenig eingebüßt an tenoraler Strahlkraft. In der Kerkerszene lässt die Margherita von Annalisa Raspagliosi die Koloraturen aufsteigen wie das Flattern einer umnachteten Seele.

Oft werden Margherita und Elena als Doppelrolle von einer Sängerin gestaltet. In Frankfurt ist Elena (Michela Remor) eine ausladende Bordellchefin in Abendrobe. Diane Pilcher, die der Wiesbadener Oper angehört hat, gibt Frau Marta als resoluten Drachen.

Die Regie erlaubt sich den Scherz, den subalternen Wagner (Hans-Jürgen Lazar), der von den Osterspaziergängern tüchtig verprügelt wird, als Richard Wagner zu präsentieren. Auch Geheimrat Goethe beobachtet seine Klassische Walpurgisnacht, hier ein Kontakthof. Viel Beifall für die packende Revitalisierung einer entlegenen Oper.

 

WIESBADENER KURIER
22.05.2004

Effekte aus dem Gruselkitsch
Dietrich Hilsdorfs "Mefistofele"-Inszenierung an der Oper Frankfurt

Von Claus Ambrosius

Mit Faust ist nicht zu spaßen: Das gilt für ganz Theater-Deutschland, und ganz besonders auf dem Gebiet der Oper. Wer auch immer diesen Stoff für eine Veroperung herangezogen hat, wurde hierzulande durch harsche Kritik und nicht zuletzt auch durch Missachtung gestraft. Das gilt für Gounods wunderschöne "Faust"-Oper, die in Deutschland lange Jahrzehnte nur unter dem verschämten Deckmantel "Margarethe" aufgeführt wurde, und es gilt auch für Arrigo Boitos "Mefistofele" von 1868.

Musikfreunde kennen Boito als glühenden Wagnerianer und vor allem als Librettisten Verdis - mit einer einzigen Ausnahme: Auch "Mefistofele" gehört wie viele andere Opern auch zu den "Ein-Hit-Wundern", die über eine einzige Arie im breiten Gedächtnis geblieben sind. In diesem Fall heißt die Wunschmusik "Lealtra notte", die italianisierte Klage Gretchens über ihre tote Mutter und ihr totes Kind

- seit jeher ein dankbares Kampfross für dramatische Soprane. An der Oper Frankfurt nimmt man sich binnen zweier Spielzeiten nun beiden genannten "Faust"-Opern an, und in Boitos "Mefistofeles" beweist das "Opernhaus der Jahres" (Kritikerumfrage der "Opernwelt") die Zugkraft dieses Werkes.

Gewiss, die Glättung des Goetheschen Faust I und II zu einem Operlibretto ist gewöhnungsbedürftig: Wo auf theaterverträgliche Länge gehobelt werden muss, fallen auch Späne. Nach einem Prolog im Himmel geht es im Schnelldurchgang von Frankfurt über den Brocken mit obligatem Hexensabbat ins antike Griechenland zur schönen Helena, um schließlich mit Fausts Tod zu enden.

Dietrich Hilsdorf hat sich für seine Regie einen genialen Bogen überlegt: Schon der himmlische Prolog beginnt reichlich irdisch in einem anatomischen Theater - es ist wohl nur ein passender Zufall, das in Frankfurt seit Monaten die Plastinaten-Show der "Körperwelten" erfolgreich residiert. Der Gelehrte Faust versucht vergeblich, eine Tote mit seinem Atem wieder zu beleben - dieser Triumph seiner Wissenschaft bleibt ihm verwehrt. Auch Faustens Tod spielt in diesem anatomischen Theater: Geblendet reißt hier der lust- und lebenssatte Faust seine Krücken zum Kreuzeszeichen hoch, beschwört die Bibel und lässt im Sterben einen machtlosen Mephisto zurück, der hektisch versucht, dieselbe Leiche auf der Bahre wieder zu beleben - auch er versagt und muss mit dem Fallen des Vorhangs sein Scheitern erkennen.

Dies könnte ein brillanter Schluss sein, hätte Hilsdorf seine Inszenierung nicht mit aberhunderten Effekten aus der Gruselkitschecke überfrachtet. Wer Hilsdorfs Wiesbadener "Macbeth" gesehen hat, kann sich die Frankfurter "Mefistofele"-Ausstattung (Johannes Leiacker) vorstellen: Alte Hexen, junge Hexen, nackte Hexen, alte Huren, junge Huren, gigantische Umhänge-Genitalien, blutige Babyleichen und so weiter und so fort. Hier wäre weniger mehr gewesen. Umso mehr, da Hilsdorf das nicht längenfreie und dramaturgisch nicht durchgäng geschickte Stück nicht voll im Griff hat: Seine heillos übertrieben buffoneske Führung der Duett-Szenen des ersten Aktes und des folgenden Quartetts stellen die Schwächen des Stückes brutal aus, statt sie zu kaschieren. Je weniger Chor auf der Bühne ist, umso unbeholfener wirken die Protagonisten - da hilft es auch nicht, wenn sich Margherita in der Kerkerszene einen Gesichtsmuskelkater grimassieren muss.

Musikalisch war diese besuchte zweite Aufführung auf beachtlichem Niveau: Allen voran muss Alberto Cupido genannt werden, der mit gewohnter Souveränität der schweren "Faust"-Partie keinen einzigen tenoralen Strahleton schuldig blieb. Mark S. Doss blieb als attraktiver und im Spiel überzeugender Mefistofele die wünschenswerte Durchschlagskraft gelegentlich schuldig. Annalisa Raspagliosi ist eine fulminante Margherita (nicht nur in der Arie!), und Michela Remor bietet in der kurzen Elena-Partie ein Höchstmaß an stimmlicher Präsenz. Das höchste Lob verdient - neben dem brillanten Orchester unter Leitung von GMD Paolo Carignani - der hervorragende Chor, den Alessandro Zuppardo einstudiert hat. Auch in der größten Massenszene noch zu berückendsten Piani fähig, ist dieser Klangkörper derzeit wohl einen der facettenreichsten Chöre der deutschen Opernlandschaft.

 

Darmstädter Echo
19.5.2004

Höllenspuk und Hexentanz
Oper: Dietrich Hilsdorf inszeniert in Frankfurt Arrigo Boitos „Mefistofele" als buntes Grusical

Von Albrecht Schmidt

FRANKFURT. Während Arrigo Boito mit seinen Libretti zu Verdis Spätwerken „Otello" und „Falstaff" zu literarischem Ruhm gelangte, ist sein kompositorisches Schaffen bei uns weitgehend unbeachtet geblieben. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frankfurter Inszenierung des „Mefistofele" (1875) ihren besonderen Stellenwert. Im Gegensatz zu Gounod, dessen Faust-Vertonung (2004/2005 in Frankfurt geplant) sich auf die Gretchen-Tragödie beschränkt, zeigt sich Boito bei der Auswahl und Bearbeitung der Goethe-Szenen avancierter, indem er in seiner eigenständigen Mischung auch den zweiten Faust-Teil einbezieht. Mit dem mediterranen Helena-Akt hat Boito eine Gegenwelt zu nordischer Schwermut geschaffen. So ergeben sich schlüssig ausgewählte Stationen, die Dietrich Hilsdorf zu packenden Bildern nutzt.

Die Drehbühne ermöglicht einen raschen Wechsel zwischen zwei Schauplätzen: einem steil aufragenden Hörsaal, einer Art anatomischem Theater mit Seziertisch und Frauenleiche, und einer Straßenansicht vor gewölbeartigen, in drei Etagen aufsteigenden Verliesen mit Rundbögen und Gittern, wo gesellschaftlich Unterprivilegierte unter Verschluss gehalten werden (Bühnenbild und Kostüme: Johannes Leiacker).

In der Walpurgisnacht greifen sich in diesem Pandämonium missgebildete Gestalten die Skelette und Spirituspräparate aus einer Glasvitrine und formieren sich zu Höllenspuk und makabrem Hexentanz. Im klassischen Arkadien tummeln sich bei der Bilderbuch-Blondine Helena Kurtisanen und Ganoven, kostümiert quer durch die Jahrhunderte, im Rotlichtmilieu. Sogar der alte Geheimrat Goethe spaziert durch die Szenerie, als wolle er schauen, was er da angerichtet hat.

Der grusical-erfahrene Hilsdorf besticht mit fesselnden Momentaufnahmen, die Paolo Carignani und das Frankfurter Museumsorchester mit Boitos funkelnder Musik artgerecht garnieren. Grandios, mit blendender Bühnenpräsenz, gibt der farbige US-Amerikaner Mark S. Doss den Mefistofele. Ein großer Opernabend, vom Publikum begeistert aufgenommen.

 

Stuttgarter Nachrichten
19.05.2004

Arrigo Boïtos "Mefistofele" an der Frankfurter Oper
Die Demontage des Faust

Goethes große "Faust"-Dichtungen müssen, um in erträglicher oder gar publikumsfreundlicher Dimension aufs Theater zu gelangen, drastisch gekürzt werden. Erst recht für die Zwecke eines Opern-Librettos. Wie das Kondensieren aber en gros und en détail gerät, das ist entscheidend.

Arrigo Boïto, der Mitarbeiter des späten Verdi, durchmaß mit seinen 1868 an der Mailänder Scala uraufgeführten "Faust"-Episoden in engster Anlehnung an Goethes Texte die Entwicklungsschritte des Gelehrten. Dabei ist Mephisto sichtlich und hörbar die treibende Kraft beim Ringen um selbstverwirklichende Wahrheitssuche und wahre Selbstverwirklichung.

Von der Stimme des Verführers und Verderbers darf funkelnde Tiefe und kraftvolle Schwärze verlangt werden. Aber gerade daran fehlt es Mark S. Doss in der neuen Frankfurter "Mefistofele"-Produktion. Fausts Stimme erweist sich erst recht als Zumutung: Alberto Cupido durchmisst die Partie in der Manier eines Ausgesungenen. Der Mut, einen solchen Sänger mit dieser Rolle zu betrauen, grenzt an Chuzpe - zumal vor dem Hintergrund der Eigenwerbung des Frankfurter Hauses, das sich als Opernhaus des Jahres feiert mit dem besonderen Hinweis auf die Rührigkeit des Intendanten Loebe beim Akquirieren guter Sänger.

Paolo Carignani bemüht sich anrührend um das Melos des Tonsatzes, mit sichtlich energischer Zeichengebung auch um markante Bläser-Signale. Die Mannen des Museumsorchesters jedoch halten sich bedeckt und verweigern den Glanz. Überhaupt tendiert das Klangresultat der diffizilen Partitur zu zerfasern, derweil sich Regisseur Hilsdorf und der Bühnenbildner Johannes Leiacker um die Vereinheitlichung der optischen Sphäre mühen. Die Anregung für die Bühneninstallation kam von einem Modell des Wiener Narrenturms, einer der frühen psychiatrischen Verwahranstalten. An dessen Außenfassade, die dem Frankfurter Osterspaziergang als Hintergrund dient, wurden einige Zellen aufgebrochen, in denen Margarete dann ihrer Hinrichtung entgegendämmert und später Helena einen Bordellbetrieb unterhält. Mag sein, dass diese optischen Anspielungen auf die Psychoanalyse als die am meisten überschätzte Wissenschaft des 20. Jahrhunderts verweisen möchten. Das Innere des Narrenturm-Halbrunds bildet ein anatomischer Hörsaal, in dem eine schöne junge Frauenleiche als Fallstudie anliegt; Mephisto lauert, während der Eingangs-Chor der Weißkittel und -schürzen den Chef preist, mit dem erkalteten Fleisch unterm Laken.

Auch die Walpurgisnacht wurde in diesem Hörsaal anberaumt, schließlich Fausti Tod und Verklärung. Eine theateranatomische Glanzleistung kommt freilich nicht zu Wege. Vielleicht führt der Wille, die Vielgestaltigkeit der Episoden Boïtos zu homogenisieren, einfach auf den falschen Weg. Das Ideen-Drama, das sich mit "Mefistofele" eröffnet, wird mit der Rekonkretisierung durch die Narrenturm-Metapher verdeckt, nicht befördert. Dennoch wurde anschließend laut gefeiert.

Frieder Reininghaus

 

Opernglas
16. Mai 2004

Frankfurt: Mefistofele

Die Frankfurter Oper hat ihr derzeit erfreulich umfangreiches Repertoire um ein hier noch nie gespieltes Werk erweitert, um Arrigo Boitos einzige fertig gestellte Oper "Mefistofele", die im Nachkriegsdeutschland neben einigen konzertanten erst eine szenische Wiedergabe 1990 in Wuppertal erlebt hat und nun vom Frankfurter Publikum mit starkem, lang anhaltendem Beifall aufgenommen wurde. Der galt in erster Linie der musikalischen Interpretation und hier im Besonderen dem Frankfurter GMD Paolo Carignani sowie dem Chordirektor Alessandro Zuppardo, die das Frankfurter Museumsorchester und den Chor nebst Extra- und Kinderchor (Pablo Assante) minuziös vorbereitet hatten und für einen eindrucksstarken Beginn sowie einen ebensolchen Ausklang des Werkes sorgten.

Das Orchester bestach durchgehend mit exakt austarierter Klangfülle und feinfühlig herausgearbeiteten Details, ohne je in lärmige Lautstärke zu verfallen, sondern spielte trotz stellenweise starker dynamischer Steigerungen mit vorbildlicher Durchsichtigkeit und deckte an keiner Stelle die Sänger zu.

Für die nicht durchgehend überzeugende Inszenierung und die ebensolchen Bühnenbilder und Kostüme zeichneten Dietrich Hilsdorf und Johannes Leiacker verantwortlich. Es dürfte immer ein — möglicherweise sogar mit Lächerlichkeit verbundenes — Wagnis sein, die Goethe'sche Vorlage auszustechen, indem man Handlung und Schauplätze durch so genannte innovative Ideen dem heutigen Publikum näher zu bringen versucht, indem man sie in ein weiß-steriles Anatomietheater wie beim „Prolog im Himmel" oder auf den Straßenstrich (Elena-Bild) verlegt. Im Sektionssaal klettern Ärzte und Krankenschwestern wild durcheinander, um schließlich angesichts der Leiche, die sich alsbald als Mefistofele entpuppt, das "Ave, Signor" anzustimmen. In eben diesem Saal ersteigen Faust und Mefistofele über das Klappgestühl auch den Brocken! Bis auf das Schlussbild spielen alle anderen Szenen in einer Nachbildung des Wiener Narrenturms mit hohen Bogenfenstern und — toren, der als Wohnung und Gefängniszelle Margheritas und als „Arbeitsplatz" von Elenas Damen des horizontalen Gewerbes dient.

Ausschließlich Positives gibt es dagegen über die Gesangssolisten zu berichten. Als stärkste Sängerpersönlichkeit erwies sich Mark S. Doss, der mit einem sehr beweglichen, angenehm timbrierten und dabei ausdauernd kraftvollen Bass einen jugendlich charmanten Mefistofele sang und spielte und damit die satanischen Verführungskünste besonders deutlich werden ließ. Zu Recht erhielt er für seine Leistung den stärksten Applaus. Sein Opfer Margherita war sowohl darstellerisch wie gesanglich überzeugend die junge Italienerin Annalisa Raspagliosi, deren Sopran bis in die tiefe Lage hinein rund und ebenmäßig geführt wird. Sehr anrührend gestaltete sie die Folter- und Todesszene.

Die umfangreiche Partie des Faust sang Alberto Cupido, nachdem der ursprünglich vorgesehene César Hernández die Rolle noch vor Beginn der Proben zurückgegeben hatte. Cupido besitzt eine kräftige, höhensichere Stimme, die allerdings in exponierter Lage leicht steif wird und nicht gerade Charme versprüht. Er erwies sich als sicherer, zuverlässiger Rolleninterpret. Geradezu gesanglich brutal ging Michela Remor (als Domina?) in einem matronenhaften Kleiderpanzer mit ebensolcher Perücke die Rolle der Elena an, deren uncharmanter Verführungskunst Faust erlag.

Alle kleineren Rollen waren tadellos besetzt, mit Diane Pilcher als Marta, die auch, soweit es die Regie gestattete, eine engagierte, humorvolle Darstellung bot; Yvonne Hetteger gefiel als schön singende Pantalis, Hans-Jürgen Lazar ebenso als Wagner, und Michael McCown vervollständigte das Personal als Neréo. Es wäre erfreulich, wenn sich nach diesem Publikumserfolg auch andere Theater an szenische Wiedergaben dieses großen Werkes wagen würden.

M. RUTKOWSKI

 

Online Musik Magazin
11.06.2004

Ziemlich eingeteufelt
Von Christoph Wurzel

Eine selten gespielte Oper binnen kurzem gleich an zwei großen Häusern: Zufall oder Trendwende? Jedenfalls haben jetzt die Frankfurter Oper und das Badische Staatstheater mit ihren bemerkenswerten Neuinszenierungen Boitos Mefistofele wieder in Erinnerung gerufen. Herausgekommen sind zwei sehr unterschiedliche Deutungen mit gleichwohl auch zahlreichen Parallelen - ein interessanter Vergleich zweier höchst ambitionierter und in ihrer Art jeweils schlüssiger Opernproduktionen.

Schon die Szenerie verdeutlicht die Unterschiede: in Frankfurt stellt eines von zwei Bühnenbildern einen anatomischen Lehrsaal dar, dem berühmten Anatomischen Theater der Universität Padua nachgestaltet, das Goethe nachweislich auch gekannt hat. Faust erscheint hier also als ein (Natur-) Wissenschaftler vom Menschen, ein Experimentator dazu, denn in den Glasvitrinen gibt es außerdem zahllose bizarre Präparate, in Formalin eingelegte menschliche Körperteile oder missgebildete Föten, alle fürchterlich abstoßend anzusehen. Allgegenwärtig liegt auf einer Bahre der Körper einer toten Frau, aus dem am Schluss Faust den Humunculus per Kaiserschnitt entbinden wird. Dieser Faust ist so etwas wie eine Mischung aus Frankenstein und dem Leichenbastler Hagens, dessen Show in Frankfurt gerade ihre Tore geöffnet hat.

[...] In Frankfurt gibt es für die Gretchenszenen noch ein zweites Bühnenbild. Es ist ein halbrunder mit arkadenähnlichen Nischen versehenes Mauersegment, das dem Wiener Narrenturm nachgebildet ist, einem Ende des 18. Jahrhunderts erbauten Krankenhaus für "Geisteskranke", in dem sich heute die Sammlung des pathologisch-anatomischen Bundesmuseums von Österreich befindet. So stellt die Kulisse, die ebenfalls mittels der Drehbühne verändert wird, die Außen- und die Innenseite derselben Welt vor, einer Welt, in welcher der Mensch zum Material geworden ist.

[...] In Frankfurt spielt die Helena-Szene im Milieu von Huren und Zuhältern, in einem Kontakthof im Rotlichtviertel, die Männer können sich der Zierde überlanger Phalli erfreuen. Helena erscheint als Domina und so verwundert nicht Fausts Bilanz seiner Suche nach der idealen Frau: "Die Wirklichkeit war Schmerz, das Ideal nur ein Traum".

[...] Beide Inszenierungen legen Faust und Mephisto als dialektische Einheit an, als zwei Seiten eines Menschseins, die eine als Bedingung der anderen. Dr. Jekill und Mr. Hyde, so will es der Frankfurter Regisseur Dietrich Hilsdorf verstanden wissen: Faust als ein seriös erscheinender, im modischen Chic gewandeter besserer Herr, Mephisto als exzentrisch jovialer Draufgänger, der auch schon mal zynisch auf menschliches Elend sein Glas erhebt.

[...] Beeindruckend in beiden Produktionen die Chorszenen: Boitos Oper ist überhaupt eine Choroper par excellence und bietet den Sängerkollektiven spannende und äußerst wirkungsvolle Auftritte: den Prolog mit dem Lobpreis des Schöpfers und den Epilog mit Fausts Erhöhung, dazwischen die beiden Walpurgisnächte, deren erste in Frankfurt als surrealistische Leichenteilschau grotesk verzerrt [...] Weniger durch souveränes Spiel konnten beide Chöre überzeugen, viel mehr dafür durch kraftvollen Sang und vor allem in den sakralen Passagen durch großes Pathos.

Die Leistungen der Solisten ließ in beiden Produktionen kaum etwas zu wünschen übrig. Mit Konstantin Gorny stand in Karlsruhe ein Ausnahmebass zur Verfügung, der der Titelrolle in fast atemberaubender Präsenz Gestalt verlieh. Seine Stimme ist enorm flexibel und farbenreich und er vermochte die Inkarnation des Diabolischen wirklich überzeugend auszuspielen. Mark S. Doss, der Frankfurter Mefistofele, war eine in gleichem Maße überzeugende Teufelsgestalt. Der farbige Amerikaner verfügt über ein großes Spieltalent und gab einen intellektuell eingefärbten Teufel. Auch er zeigte sich stimmlich der Partie souverän gewachsen [...] Der rund 60 jährige Alberto Cupido, in Frankfurt erst kurz vor Probenbeginn für die Partie engagiert, gab einen beachtlichen Faust ab, hatte aber beträchtlich mehr Mühe und musste vor allem in der Höhe doch deutlich pressen, um Strahlkraft zu erzielen. Dennoch: viel konnte er durch dynamische Energie wettmachen. Die Margherita sang Annalisa Raspagliosi mit großer dramatischer Geste. Ihre Rollengestaltung gipfelte in den hochexpressiven Momenten der Gefängnisszene. Ein wenig unkontrolliert erschien allerdings ihr Tremolo [...] Die Helena-Partie wurde von Michela Remor passend zum Outfit mit energisch-herrischem Ton gesungen. Die weiteren Partien waren in beiden Häusern weitgehend solide besetzt, nur der Wagner kam in Karlsruhe mit Hans-Jörg Weinschenk wesentlich prägnanter über die Bühne als der Sänger dieses trockenen Schleichers in der Frankfurter Produktion.

Der Chef Paolo Carignani selbst hatte sich der Partitur angenommen, obwohl er in einem Interview deren Schwächen frei benannte. Gleichwohl ging er hörbar engagiert ans Werk und schlug aus der bemängelten Instrumentation doch beträchtliche Funken. In den hymnischen Szenen spielte er die Emotionalität der Musik geschickt aus und führte das Orchester zu bejubelter Emphase. So erwies sich die Musik mindestens mit viel dramatischer Kraft als außerordentlich zündend und wirkungsvoll [...]

FAZIT
Zwei sehenswerte Produktionen einer auf unseren Bühnen sträflich vernachlässigten Oper also: in Frankfurt spektakulär provokativ, in Karlsruhe eher subtil in der Aussage ausgefeilt inszeniert. Beide gelangen zu höchst ansprechenden Ergebnissen und vermögen das Werk als ernst zu nehmendes Musiktheater neu zur Diskussion zu stellen. Beide werden sicherlich in dieser Spielzeit kräftige Akzente in der hiesigen Opernlandschaft setzen. Beide lohnen den Besuch auch aus weiterer Entfernung.

 

FINANCIAL TIMES
May 24, 2004

Arts & Weekend / Art, music & theatre

Opera: Mefistofele

By Larry L. Lash

Arrigo Boito's Mefistofele may not be the most profound musical treatment of the Faust legend but it provides an entertaining middle-ground between Gounod's treacle and Busoni's academia. A surefire crowd-pleaser when performed by a first-class chorus and orchestra and a dynamic basso who can live up to the title role's demonic bravura, Oper Frankfurt's new production succeeds on all counts.

From paradise to inferno and everything in between, this is the chorus's show, and Alessandro Zuppardo's massive forces triumph. The celestial prologue is so overpowering, it seems selfish to want more. But for two additional hours, the chorus dominates in rhythmically challenging, complex counterpoint, from lush tonality to wild sibilant gibberish in the witches' Sabbath.

Paolo Carignani drew a virtuoso performance from the orchestra, highlighting Boito's grandiloquent special effects, including nerve-wracking horror-movie string tremolos, and a wispy miniature tone poem indicative of Margherita's madness.

As Mefistofele, Mark S. Doss is so charismatic he may change your mind about an ultimate destination in the afterlife. In total command, Doss raises hell with his raven-black voice and titillates with his balletic presence (gamely donning Mae West drag in a switcheroo with Helen of Troy). Alberto Cupido's sweet tenor is showing signs of age. The voice is still technically proficient and capable of a heroic bloom but the occasional ragged note seems a natural expression of Faust's world-weariness and disillusion, lending him an endearing vulnerability. Annalisa Raspagliosi offers a virginal, well-sung Margherita, although one could wish for more tonal beauty. Rather than overdo it, she expresses madness through simplicity, an effective choice.

Sense is made, too, by Dietrich Hilsdorf's placement of the action in a 19th-century medical college operating theatre and asylum, with idiots, freaks and botched human and animal experiments portraying denizens of other worlds. Everything Boito asks for - including a final shower of rose petals on Mefistofele - is there. Hilsdorf's adherence to the libretto proves that updating an opera doesn't make it a de facto showcase for directors' eccentricities.