Frankfurter Allgemeine Zeitung
Montag, 29. März 2003

Das Vergangene reicht der Zukunft die Hände
Friedrich Cerha über seine Oper Der Rattenfänger / Deutsche Erstaufführung in Darmstadt

Seit seiner "Herstellung" des dritten Akts von Alban Bergs Oper "Lulu" wird dem Wiener Komponisten Friedrich Cerha hartnäckig eine Nähe zu Berg nachgesagt. Zu dieser Behauptung hat das Expressivo im Persunaistil bei der Komponisten verführt. "Ich komme natürlich aus der Wiener Tradition im Umkreis Schönbergs", räumt Cerha im Gespräch mit dieser Zeitung ein. Künstler wie Josef Polnauer, Hans Erich Apostel, Erwin Rath sowie Rudolf Kolisch und Eduard Steuermann bei den Darmstädter Ferienkursen gaben diese Tradition an Cerha weiter. Doch die großen harmonisch-melodischen Spannungsbögen, die für Cerhas Berg-Tonfall gehalten werden, sind nicht erst seit der "Lulu"-Ergänzung sein Eigentum, sondern schon in den seriellen Stücken der späten vierziger Jahre: "Ich habe die seriellen Mittel so benutzt, daß hörbare Zusammenhänge entstanden. Solche Klangprozesse aber galten bei den seriellen Dogmatikern als traditionell und damit als anstößig."

Ob Cerha seriell oder in Klangf1ächen mikrotonal oder polymetrisch komponierte - immer schon dachte er in wahrnehmbaren Prozessen und Entwicklungen. Derartiges Komponieren "gehört für mich zum organischen Leben. Wie ich nicht überlege, wie mein Herz schlägt oder wie ich atme, so überlege ich nicht, wie ich komponiere. Ein Werk wächst natürlich. Ich habe ein Kunstwerk immer als einen lebendigen Organismus betrachtet." Nicht zufällig greift Cerha auf früher angewandte Kompositionsmethoden zurück und bindet sie in neue Zusammenhänge ein. Dadurch vernetzt er Werke in sich und untereinander.

Dieses Verfahren wird an Cerhas Oper "Der Rattenfänger" (1987) nach Carl Zuckmayers letztem Theaterstück von 1975 anschaulich. In Momenten des Aufruhrs werden Klangzeilen, in denen verschiedene Metren sich aggressiv uberlagern (Polymetrie) in Klangflächen eingeschmolzen. Beispiele sind die zweite Szene des ersten Teils, als der Kleine Henker fast gelyncht wird, und die erste Szene des zweiten Teils, als eine Kinderhorde im Stadtgraben den Krüppel Johannes verdrischt.

Auf jeden Fall strebte Cerha in seiner zweiten Oper Vielfalt an. Deutlich deklamierter Wort-Tonfall soll der Verständlichkeit dienen.. Im Klangkontinuum sind einzelne Nummern herausgestellt, besonders in den Liedern des Rattenfängers, der übrigens das Sopransaxophon statt der Flöte spielt, die Cerha im Klang zu idyllisch und zu wenig tragfähig erschien. Kammermusik charakterisiert die Begegnungen des Rattenfängers mit dem Kleinen Henker und dessen Tochter Rikke. Daneben verbindet das große Symphonieorchester manche Szenen mit Zwischenspielen. Den Schluß, als sich die Kinder von Eltern und Gesellschaft lösen und aus freiem Entschluß dem Rattenfänger folgen, hat Cerha in modale Harmonik gefaßt. Mehrere Klangschichten treffen sich hier fast bodenlos. die Bühnenmusik der Streicher, das angsame Schreiten der Kinder in pulsierenden Liegeklängen, des Rattenfängers "Lied vom geschiagenen Mann" mit vollem Orchester.

Zwei Utopien einer neuen Gesellschaft treffen sich am Ende: im Auszug der Kinder und im hoffnungsvollen, orgelgrundierten Zwiegespräch des alten, weisen Geistlichen Ludger mit dem lahmen, klugen Johannes als künftiger Leitfigur in einer kinder- und führerlos gewordenen Stadt. Die größtmögliche Vielfalt, in der nach einem Bonmot des Rattenfängers "das Vergangene der Zukunft die Hände (reicht)", verlangt nach "größtmöglicher Kohärenz der musikalischen Sprache". Deshalb hat Cerha aus sieben Tongruppen als Basismaterial harmonische Entwicklungen und Zentren (Akkorde) abgeleitet, aber auch, gewissermaßen leitthematisch, mit ihnen Gestalten und Eigenschaften charakterisiert.

Am Rattenfänger-Stoff, in den Zuckmayer auch die Achtundsechziger-Revolte mitbedacht hat, reizten Cerha verschiedene gesellschaftspolitische und soziale Themen. Wie verhält sich das Individuum unter gesellschaftlichem Druck? In der korrupten Stadt ist der Rattenfänger nach Cerhas Ansicht "kein Ver- und Entführer, sondern ein Vertriebener, Fremder. Die Kinder haben im Konflikt mit der Gesellschaft und ihren Eltern zwei Fluchtmöglichkeiten: in die Drogensucht, der sie im Stadtgraben frönen, und in die Suche nach einem Guru, einer Vaterfigur, der sie folgen können. Nicht der Rattenfänger entführt die Kinder, sondern diese fordern ihn auf, ihnen voranzugehen beim Aufbau einer neuen Gesellschaft."

Ein weiteres Thema: die Facetten der Macht, für die selbst der Rattenfänger für einen Moment anfällig ist. Fast jede Figur verkörpert einen Aspekt von Gewalt, auch im Konflikt zwischen Armen und Reichen. So trigt die eiskalte Stadtregentin Divana mit ihrer Luxusgier zum finanziellen Ruin ihres bestechlichen Mannes bei. Ihre Herzschwäche kündigt sich ini Puls der Congas an. Zwei Conga-Schläge signalisieren dann ihren Tod, in den sie sich zum Spiel des Rattenfängers hineintanzt. Bei der deutschen Erstaufführung des "Rattenfängers" am 27. März am Staatstheater Darmstadt übernimmt die amerikanische Mezzosopranistin Jennifer Barrette Arnold, die auch ausgebildete Tänzerin ist, diese schwierige Doppelfunktion in der Choreographie von Jo Ann Endicott.

Cerha, der Zuckmayers expressionistische Sprache in seinem eigenen Libretto versachlicht hat, erstellte für die Darmstädter Premiere (in Kooperation mit den Wiener Festwochen) gemeinsam mit dem regieführenden Operndirektor Friedrich Meyer-Oertel eine revidierte Fassung der Oper: Neben kleinen textlich-musikalischen Raffungen fiel eine ganze Szene weg, so daß "Der Rattenfinger" jetzt 25 Minuten kürzer ist. Doch die Geschichte von Machtmißbrauch und sozialen Konflikten, in der Menschen rattenhafte Gesinnungen an den Tag legen, breitet sich -mit Pause - auch jetzt noch uber satte drei Stunden aus.

ELLEN KOHLHAAS

 

Darmstädter Echo
26.3.2004

Die Ratten sind unter uns
Ausblick: Friedrich Cerhas „Rattenfänger" als deutsche Erstaufführung am Samstag (27.) im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt

DARMSTADT. Was knackt und raschelt da im Orchestergraben? Die Ratten sind unterwegs und nagen alles an. Der erste Ton in Friedrich Cerhas Oper „Der Rattenfänger" spielt unüberhörbar auf die gefräßigen Nager an. Das Knacken rührt von einem Holzstäbchen her, das ein Schlagzeuger zu brechen hat. Am Samstag (27.) kommt das Werk als deutsche Erstaufführung am Staatstheater Darmstadt in einer Inszenierung des Operndirektors Friedrich Meyer-Oertel auf die Bühne des Großen Hauses. Seit der Uraufführung im Herbst 1987 in Darmstadts Schwesterstadt Graz ist dieses zwischen 1984 und 1986 komponierte Musiktheaterstück bisher kein weiteres Mal neu inszeniert worden. Auch Carl Zuckmayers gleichnamiges Schauspiel von 1975, auf dem Cerhas Oper basiert, fand nur wenig Bühnenrealisationen. Cerha hat für seine Oper Zuckmayers Drama als Libretto umgeschrieben, den Text stark gestrafft und das Pathos des Schauspiels gemildert. Jetzt, für die Darmstädter Aufführung, haben der Komponist und der Regisseur die Oper revidiert und nochmals komprimiert, so dass das Stück nunmehr mit Pause zwischen den beiden Teilen laut Meyer-Oertel etwa drei Stunden dauert.

Der Dirigent der Aufführung, Generalmusikdirektor Stefan Blunier, betont die große klangliche Vielfalt des Stückes. Das Spektrum reicht von feinen, pointillistisch eingesetzten Einzeltönen bis hin zu heftigen sinfonischen Klangmassierungen mit reichhaltigem Schlagzeug. Deshalb wird der Orchestergraben noch etwas tiefer gelegt als sonst üblich, sagt Blunier. Im traditionellen Orchester selten verwendete Instrumente kommen im „Rattenfänger" zum Einsatz, darunter Gitarre, Orgel sowie das Bariton (Baryton), ein Blechblasinstrument mit sonorer Tiefe. Im Schlagzeug werden nicht nur Äste und Latten geknackt, sondern auch Zeitungspapier und Alufolie zerknüllt sowie Glaspapier zerrieben. Blunier spricht von einem „Wechselbad der Gefühle", denen der Hörer in diesem Stück ausgesetzt sei. Um dieser Vielfalt Herr zu werden und Halt zu geben, bezieht sich die Struktur des Stückes auf sieben Tongruppen.

Nicht mit einer Pfeife oder Flöte lockt der Rattenfänger die Tiere heraus, sondern mit den Tönen des Sopransaxofons. Dem Komponisten klingt die Flöte zu idyllisch und kraftlos. Dagegen sei das Saxofon intensiver, durchdringender und härter, meint Cerha. Der Ratten der jungen Leute einen Weg, sich aus den eigenen Zwängen zu befreien.

Meyer-Oertel lässt das Stück in unserer Gegenwart spielen. Es im mittelalterlichen Hameln zu lassen, wäre für uns heute zu märchenhaft, erklärt der Regisseur. Bereits Zuckmayer habe den Märchenton getilgt. In Darmstadt werden die gesellschaftlichen Ober- und Unterschichten buch–stäblich getrennt durch einen Graben, der im Oben und Unten auch das soziale Gefälle verdeutliche. Zwar kämen am Ende der Oper gut 80 Kinder und Jugendliche auf die Bühne, der „Rattenfänger" sei aber kein Kinderoper, betont Meyer-Oertel, sondern behandle aktuelle Probleme, wie Macht, Mißbrauch der Macht, Korruption, Mitläufertum, Drogensucht bei Jugendlichen, Verführbarkeit und Gewalt.

Ohne die Zusammenarbeit mit den Wiener Festwochen und der finanziellen Unterstützung des Darmstädter Pharmazieunternehmens Merck hätte diese Oper nur schwer realisiert werden können, bemerkt Meyer-Oertel. Nach der Premiere wird „Der Rattenfänger" in Darmstadt noch sechsmal gespielt, danach geht seine Reise nach Wien, wo allerdings nur zwei Aufführungen geplant sind. (hz)

Die Premiere von Cerhas Oper „Der Rattenfänger" ist am Samstag (27.) um 19.30 Uhr im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt. Die Inszenierung betreut Friedrich Meyer Oertel, das Bühnenbild stammt von Hartmut Schörghofer, die Kostüme entwarf Ulrike Rulle. In Wien, während der Festwochen, gastiert das Staatstheater Darmstadt mit dem Stück in der Halle E im Museums-Quartier am 10. und 11. Juni.