Frankfurter Rundschau
14. September 2004

Jeder sieht nur, was er soll
Und jeder hört eine ganz neue Qualität aus dem Orchestergraben: Wiesbaden eröffnet die Opernsaison mit Verdis "Rigoletto" unter der Leitung Marc Piollets

VON STEFAN SCHICKHAUS


Einen famos mafiosen Herrenchor leistet sich das Wiesbadener Staatstheater hier, der Rigoletto Tito You einkreist. (FR)

Ein Tag im September, an dem nichts so ist, wie es vorher war. Der Vorhang geht auf zur ersten Opernpremiere der neuen Spielzeit am Wiesbadener Staatstheater, und es ist sofort irgendwie anders. Der Souffleusenkasten ist verschwunden, aber das ist es nicht. Der Orchestergraben ist neu geordnet, und damit kommen wir der Sache schon näher. Ein neuer Generalmusikdirektor steht da im Graben, ein neuer Besen, der die Souffleuse ebenso von ihrem angestammten Platz weggefegt hat wie manchen Orchestermusiker - Fagotte nun links, die Bässe nach hinten, Rochaden zur Klangoptimierung. Marc Piollet, der 42-jährige Franzose, der von der Wiener Volksoper kommend nun in Wiesbaden den Takt angibt, hat ein paar sichtbare Veränderungen vorgenommen. Und mehr noch hörbare, denn seine erste Produktion nun ist ein musikalisch grandios geglücktes Ereignis geworden.

Akkurat, sauber, präzise

Mit Verdis La Traviata als Probestück hatte sich Piollet damals für das Wiesbadener Amt qualifiziert, mit Verdis Rigoletto nun unterstrich er die Richtigkeit dieser Wahl mehr als eindrucksvoll. Gleich das erste Ensemble Rigoletto/Gilda war eine orchestrale Offenbarung - wann hatte man in Wiesbaden zuletzt so akkurate Tremoli gehört, überhaupt einen so sauber und trennscharf aufgestellten Streicherklang? Gildas Arie Caro nome dann so überaus delikat in der rhythmischen Gestaltung, so präzise ausgearbeitet und dennoch nicht ohne Gefühl für den Bauch. Das Blech so sauber, wie man es unter Piollets Vorgänger Toshiyuki Kamioka kaum erleben konnte, sei es wegen der veränderten akustischen Grabenbedingungen, sei es wegen der frisch-fordernden Hand des neuen GMD.

Auch für den Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer bedeutete diese Rigoletto-Produktion ein Wiesbaden-Debüt. Seine Bilder aber hatten es gegenüber der so gelungenen musikalischen Konzeption zunächst einmal schwer, so ansehnlich sie auch waren. Doch die Inszenierung gewann zunehmend an Format, nicht zuletzt auch, weil die Bühnenkonstruktion von Herbert Neubecker mit seinen Räumen, die von den Sängern selbst wie Schubladen aufgezogen wurden, sich als Spielort gut bewährte. In diesen Räumen bewegten sich die handelnden Figuren nicht wie im Realraum, das heißt: Jeder sieht nur den, den er laut Regietext auch sehen soll. Da ist kein zierliches Versteckspiel nötig, kein Belauschen und Beschleichen. Wenn Rigoletto seiner Tochter Gilda die Untreue des Herzogs vorführen will, wandeln die beiden mitten durch den Ort der Unzucht. Ja Vater und Tochter dienen dem Herzog und seiner neuen Auserwählten Maddalena gar noch als Requisit, als neckisches Hindernis im Liebesspiel.

Vielleicht haben Dirigent, Regisseur und die Ausstatter von Bühne und Kostüme ja mal einen Ausflug gemacht. Nach Baden-Baden, zu den Pfingstfestspielen, die in diesem Jahr mit einem Rigoletto des Gespanns Thomas Hengelbrock / Philippe Arlaud eröffnet wurden - Hengelbrock übrigens Piollets Vorgänger als Musikdirektor an der Wiener Volksoper. Denn viele Parallelen finden sich jetzt in Wiesbaden wieder: Die enorme Qualität im Musikalischen, das "unverdeckte" Spiel der Akteure, die schön überzeichnete Charakterisierung der dekadenten Gesellschaft, manch kleinere optische Lösungen wie etwa der Streifen-Look mit Kappe für den Herzog, wenn er einen Studenten darstellen möchte. Und auch der Schluss erinnert an Baden-Baden: Gilda haucht hier wie dort ihr Leben nicht in Rigolettos Armen aus, sondern geht nach hinten ab, durch die Kulisse ins Licht. Der Vater bleibt mit dem leeren Sack zurück. Und das Publikum wie immer ehrlich bewegt, denn an dieses Opernfinale reicht so schnell nichts heran. Die drei Hauptpartien wurden von Gästen gesungen, Marc Piollet kennt sie alle aus Wien oder Kassel, wo er Kapellmeister war.

Als exzellent, spielerisch wie sängerisch, muss dabei der Koreaner Tito You als Hofnarr Rigoletto bezeichnet werden, er ist in Spott, Wut und Trauer gleich glaubhaft. Sein Gilda wird von der jungen, aus Puerto Rico stammenden Melba Ramos ideal verkörpert: Ihr Sopran ist zwar nicht allzu groß, in Caro nome kippte der Spitzenton, doch ihre Leistung schmälerte das keineswegs. Schon eher könnten sich die Geister am Chilenen Felipe Rojas in der Rolle des Herzogs scheiden. Vorbildlich klar war seine Aussprache, pointiert seine melodische Gestaltung, doch wurde sein Tenor in der Höhe so sehr eng, dass von Natürlichkeit nicht mehr die Rede sein konnte. Die übrigen Rollen waren aus dem Hausensemble adäquat, zum Teil - etwa mit Tom Mehnert als Sparafucile oder mit Sandra Firrincieli als Maddalena - sogar auffallend gut besetzt. Ein Premierenabend im September, seit dem nichts mehr so ist, wie es vorher war. Ausnahmsweise gerne.

 

Wiesbadener Kurier
14 September 2004

Ein Außenseiter im Sog des Schicksals
Mit Verdis "Rigoletto" hat in Wiesbaden die Opernsaison begonnen - Triumph für den neuen GMD Marc Piollet

Von Volker Milch


Der Vater leidet, während im Hintergrund Venus triumphiert: Tito You kniet als Rigoletto vor den Höflingen.
Kaufhold

Zu Besuch am frivolen Hofe des Herzogs zu Mantua könnte man den Eindruck gewinnen, dass Sackhüpfen hier unbedingt zur erotischen Freizeitgestaltung gehört: Die raue Ganzkörper-Verpackung der herzoglichen Gespielinnen, die vom Hofnarren eigenhändig aus der Jute gepellt werden, spielt in Wiesbadens neuem "Rigoletto" offenbar auf die in Mantua gängige Praxis der Frischfleisch-Beschaffung und -Entsorgung an.

Dass in Hermann Schmidt-Rahmers detailscharfer Inszenierung der Hofnarr als Herr der Säcke exponiert wird, vergegenwärtigt sogleich die tragische Spannung zwischen Mittäterschaft und Leidenserfahrung. Der Sack, das wissen wir, gehört zu den berühmtesten Requisiten der Opernhistorie, und später, am Ende von Verdis unverwüstlichem Opus, wird Rigoletto darin die eigene Tochter entdecken. Das ist die Macht des Schicksals, dem der bucklige Außenseiter so wenig entgehen kann wie weiland Ödipus.

Für diese Unausweichlichkeit hat der Bühnenbildner Herbert Neubecker eine treffliche, in Thomas Märkers Ausleuchtung atmosphärisch eindringliche Metapher gefunden: In Schlüsselszenen verengt sich das Bühnenbild zu einem Trichter, dessen Schicksals-Sog nicht zu entkommen ist. Indes scheint Gilda in Wiesbaden, wie üblich vom Papa zum Absingen ergreifender Abschieds-Kantilenen reanimiert, dann doch nicht ihren absurden Operntod sterben zu wollen: Sie steht ziemlich lebendig auf und geht einfach durch die Tür hinaus. Der Himmel, von dem sie singt, könnte in ihrem Fall ganz einfach auch die Abwesenheit des väterlichen Sorgerechts sein. Das arme Mädchen darf ja keinen Fuß vor die Tür setzen.

So prosaisch muss man das Schlussbild freilich nicht unbedingt entschlüsseln - reizvoll ist es in seiner Offenheit allemal. Und es gilt einmal mehr, was Verdi in einem anderen Kontext über szenische Glaubwürdigkeit gesagt hat: "Es kommt einzig und allein darauf an, ob die Szene wirksam wird. Wenn das gelingt, werden wir auch einen Weg finden, sie logisch zu machen!" Ins Surreale, ins Traumhafte versetzt Hermann Schmidt-Rahmer auch das Quartett des dritten Aktes: Statt eines potenziell albernen Versteckspiels gibt es ein Umkreisen der Personen, die sich nicht sehen können und musikalisch doch so kunstvoll miteinander verknüpft sind.

Diese musikalischen Fäden laufen zusammen bei Marc Piollet, dem neuen Wiesbadener Generalmusikdirektor, der im Orchestergraben hörbar auf- und umgeräumt hat. Er bietet zwar nicht, wie Thomas Hengelbrock kürzlich in seinem Baden-Badener "Rigoletto", neun Kontrabässe auf, um die Nachtseiten dieser Oper zu illustrieren, aber die Entfernung des Souffleurkastens ermöglicht ihm doch, die Kontrabässe näher bei den Celli zu positionieren und in den tiefen Streichern für eine intensive "tinta musicale" zu sorgen, für eine angemessen düstere Grundierung des Melodrams. Bis zu vorzüglichen Solo-Beiträgen trägt das Staatsorchester zum erfreulichen Saison-Start bei.

Die Arbeit am Klang, die Piollet bei seinem Amtsantritt versprochen hatte, macht sich schon in seiner ersten Einstudierung bemerkbar: Auch die Violinen klingen nicht mehr so zerfasert, wie man sie in dieser problematischen Akustik oft erlebt hat. Dafür sind natürlich nicht nur Änderungen in der Orchesteraufstellung verantwortlich: Es herrscht im Orchestergraben die Kunst der dynamischen und agogischen Differenzierung, ohne dass die Begleitung ins Kleinteilige verfallen würde. Die Nuancen im Piano-Bereich auf kleinstem Raum fallen auf und sind auch bei langsamen Tempi in einen fesselnden musikalischen Spannungsbogen eingebunden. Die Mischung aus Delikatesse und Temperament, die den Abend kennzeichnet, lässt für die Zukunft jedenfalls Erfreuliches erwarten. Zum Höhepunkt wird so der erregte Puls von Rigolettos wütender Arie "Cortigiani, vil razza dannata". Als fesselnder Sängerdarsteller zeigt sich hier in der Titelpartie der koreanische Bariton Tito You. Für einen idealen Rigoletto mag er zu jugendlich sein: Die Gebrochenheit, die Wunden, die ihm das Leben geschlagen hat, sind der Stimme dieses ansonsten (auch szenisch) fabelhaft gestaltenden Baritons zu wenig anzuhören. Angesichts der reifen Sinnlichkeit der Gilda von Melba Ramos erscheint seine Sorge um die Unschuld des Töchterchens nur zu begründet - die pädagogische Zwangsmaßnahme, das Wegschließen im Zimmer-Tresor, freilich um so verwerflicher. Von ätherischer Mädchenhaftigkeit, zu der die Mühelosigkeit glockenreiner Koloraturen gehören würde, hat diese Gilda nicht mehr allzu viel - sie ist ganz von dieser Welt und scheint ja auch in diese zurückzukehren. Der schön timbrierte, samtige Sopran besticht indes, auch wenn nicht alle Aspekte der Partie abgedeckt sind.

Ähnliches gilt für den Herzog von Felipe Rojas: Ein beweglicher Tenor mit verführerischem Schmelz, der in seinen ariosen Bonbons die erotische Aggressivität als Motor des Melodrams nicht ganz vermitteln kann. Neben diesem Gäste-Trio und dem von Thomas Lang einstudierten Chor gibt es Erfreuliches auch aus dem Ensemble zu hören: Tom Mehnert als profunder Sparafucile, Thomas de Vries als Monterone, Sung-Deok Park als Borsa, Olaf Franz als Marullo, Sandra Firrincieli als Maddalena oder Emma Foster als Giovanna. Die Höflinge erinnern in ihren penetrant weißen Perücken an Vertreter des Ancien régime, ohne dass Hermann Schmidt-Rahmer seinen "Rigoletto" historisch konkret positionieren würde. Einen Bezug zur italienischen Renaissance stellt das Zitat von Bronzinos allegorischem Gemälde "Triumph der Venus" dar: Ein sinnlicher Ausschnitt des Werks verdeckt das mutmaßliche Schlafzimmer.

Licht und Schatten wechseln in harten Kontrasten und stellen so einen Bezug zur musikalischen Faktur her: Es ist keine mit einem konzeptionellen Geniestreich, aber mit spannungsvoller Personenführung überzeugende Inszenierung. Und wenn der etwas knubbelige Herzog, der sich ja explizit als "Sklave" outet, in die Fänge der sichtlich dominanten Maddalena gerät, zeigt sich der Regisseur auch als Humorist. Das Publikum ist amüsiert, vor allem aber klatscht es schließlich sehr ausdauernd und spart nicht am Applaus für den neuen Generalmusikdirektor, Sänger und Staatsorchester.

 

Wiesbadener Tagblatt
14.09.2004

Triumph für Marc Piollet
Neuer GMD eröffnet Spielzeit mit Verdis "Rigoletto" in Feinzeichnung

Von Siegfried Kienzle


Als Rigoletto überzeugt Tito You mit subtilen Nuancen.
Unser Bild zeigt ihn samt Höflingen aus dem Opernchor.
Foto: Martin Kaufhold

Mit einer musikalischen Höchstleistung gab Marc Piollet, der neue Generalmusikdirektor am Wiesbadener Staatstheater, seinen Einstand. Mit drei Gästen besetzt er die Hauptrollen in Verdis "Rigoletto", als sollte der Glanz der Maifestspiele auch im Repertoire-Alltag fortbestehen. Melba Ramos aus Puerto Rico - derzeit an der Wiener Volksoper - ist eine Gilda von beglückender Leichtigkeit und Gefühlstiefe. Die Triller und Staccato-Bögen ihres Liebesbekenntnisses "Caro nome" geraten nicht zur üblichen Bravourarie, sondern sind Ausdruck einer flatternden Erwartung: ein Geschöpf, das vom Vater Rigoletto ausgesperrt ist von der Welt, sehnt sich hinaus in die Freiheit. Bewegend vollzieht Ramos die Entwicklung nach vom Mädchen bis zur tragisch Liebenden, die für den Herzog in den Tod geht.

Felipe Rojas aus Chile ist mit strahlkräftigem, auch lyrisch geschmeidigem Tenor kein Herzog-Wüterich, sondern ein junger Luftikus und Playboy, der dem Vergnügen nachjagt und mit seinen Spießgesellen Blinde Kuh spielt. Gildas Liebesbestürmung muss er vom Blatt ablesen und setzt dabei eine Brille auf.

Der Koreaner Tito You vom Staatstheater Kassel gibt als Rigoletto nicht den wuchtig dröhnenden Verdi-Bariton, sondern ist mit hellem Timbre ein zu subtilen Nuancen fähiger Gesangsdarsteller. Suggestiv macht er die Brüche der Figur deutlich: er ist Mitmacher am Hof des skrupellosen Herzogs und sucht als Ausgleich die Utopie einer heilen Welt. Seine Zuflucht ist die Idylle und die Unschuld der Tochter, die seine Schuld beschönigen soll. Dass dieser Traum zwischen wahrer und falscher Existenz nicht aufgehen kann, zerreißt Rigoletto. Musikalisch macht You all die Facetten aus Angst, Anklage und Hohn, aus Selbstverspottung, rührender Vaterliebe und Rache packend hörbar.

Als Darsteller muss er sich wie in Trance starr und maskenhaft durch die Szenen schleppen und allzu oft in Opernkonvention die Hand aufs Herz drücken. Rigoletto rekapituliert nur noch die Schrecken, die er bereits erlitten hat.

Diese Lähmung entspricht der Regiekonzeption von Hermann Schmidt-Rahmer, der das Stück als Rigolettos Alptraum interpretiert. Schon beim Vorspiel hockt You auf dem Sack, worin er am Schluss die sterbende Tochter entdecken wird. Aus der Traumspiel- Situation entwickelt die Regie frappierende surreale Momente: im Tod erhebt sich Gilda und schreitet durch die Tür hinaus in eine bessere Welt. In der Lauschszene beim Quartett gehen die Figuren auf Tuchfühlung, ohne einander wahrzunehmen und vermitteln umso zwingender die widerstreitenden Empfindungen ihres Gesangs.

Für den Alptraum hat Herbert Neubecker eine kalte graue Betonhalle errichtet, die Kanten ausgeleuchtet durch Neonröhren. Aus den Seitenwänden zieht man die Schauplätze als Schubladen heraus. Es entspricht der Traumlogik der Inszenierung, dass Schmidt-Rahmer in Figurenzeichnung und Kostüm (Michael Sieberock-Serafimowitsch) die Epochen zwischen Rokoko und Biedermeier mischt, um die Attribute der Gewalt sichtbar zu machen. Beim Fest des Herzogs lümmelt der Hof in Rokoko-Perücke. Rigoletto wirkt wie ein Vorbote der Revolution. Graf Monterone (Thomas de Vries) als Opfer der Gewalt ist ein Bürger aus dem Biedermeier. Gildas Entführung wird vom ausgezeichnet disponierten Chor in Zylinder und Bratenrock bewerkstelligt. Tom Mehnert zeigt den Killer Sparafucile in abgerissener Uniform und Sonnenbrille als gestrandeten Söldner. Für seine Schwester Maddalena hat Sandra Firrincieli die Carmen-Lockung als Hure mit Herz. Vom satten Bläserton des Beginns bis zur ausgefeilten Gewittermusik breitet Piollet die kammermusikalischen Feinheiten der Partitur aus. Umso stärker wirken die dramatischen Höhepunkte. Gerade diese Oper, die oft in die einzelnen Ohrwürmer zerfällt, erreicht unter dem neuen GMD ein Höchstmaß an Dichte und Transparenz. Jubelnder Beifall für diesen Spielzeitbeginn.

 

Frankfurter Neue Presse
14.09.2004

Es gewittert aus dem Off
Wiesbadens neuer Generalmusikdirektor Marc Piollet stellte sich mit Verdis "Rigoletto" vor.

Von Matthias Gerhart

Diese "Rigoletto"-Inszenierung von Hermann Schmidt-Rahmer ist auf Grund ihrer Ideenarmut und Gleichförmigkeit geeignet, die Aufmerksamkeit des Zuhörers ganz auf das Orchester zu lenken.

Marc Piollet, der 42 Jahre alte Franzose, der nun die musikalischen Geschicke im Staatstheater leitet, bemühte sich zum Saisonauftakt reichlich, seinen eigenen, temperamentvollen Stil in den Mittelpunkt des musikalischen Geschehens zu rücken. In der Ouvertüre allerdings hörte man zumindest von den Hörnern allzu vertraute Töne: Die Einsätze klappten nicht. Dafür erhoben sich in der Gewitterszene des dritten Aktes hübsche Flötenklänge, wenngleich diese Schlüsselszene des Orchesters mehr Dramatik und Spannkraft verdient hätte. Aber das sind wohl Kinderkrankheiten des ansonsten recht wirkungsvollen und substanzreichen Dirigats von Marc Piollet, der vom Premierenpublikum mit warmem Applaus begrüßt wurde.

Das Geschehen auf der Bühne lebt indes vor allem von der Ausstrahlungskraft der Hauptdarsteller, die diesmal von Gästen besetzt waren: Der Koreaner Tito You hat als Rigoletto das richtige Äußere für einen verkrüppelten Hofnarren, und die Puertoricanerin Melba Ramos liefert als rassige Gilda das interessante optische Gegenstück. Dazu kommen die mit kräftigen Stimmen ausgestatteten Darsteller des Herzogs (Felipe Rojas) und des Räubers Sparafucile (Tom Mehnert), sowie John Holyoke und Petra Urban als Graf und Gräfin von Ceprano. Sie alle haben auf der nahezu leer geräumten Bühne viel Platz, um ihre Gefühle auszuleben. Manchmal treten ganze Gruppen von Menschen auf, die weiße Stühle mit runden Rückenlehnen in die Höhe halten. Was das soll, weiß wahrscheinlich nur der Regisseur.

Wenig Einfallsreichtum zeigt die Regie auch im dritten Akt. Ein kleines Durcheinander mit Wolldecken – die Spelunke. Blitzlichter aus dem Off – das Gewitter. Eindruck macht allerdings das Schlussbild mit dem um seine einem Mordkomplott zum Opfer gefallenen Tochter weinenden Rigoletto. Im fahlen Weiß bleibt der blutige Sack liegen, während Gilda durch eine Türe ins Jenseits entweicht. Und jetzt sind auch die Blechbläser des Orchesters zuverlässig zur Stelle.

Während sich der Rigoletto ein Messer in den aufgedunsenen Körper rammt, steht der neue Generalmusikdirektor wieder im Mittelpunkt des Geschehens. Marc Piollet stellte sich als sympathischer und zupackender neuer Chef des Orchesters vor.

 

OFFENBACH POST
15. September 2004

Fluch lastet auf Wiesbadens "Rigoletto"

Neuer Generalmusikdirektor Marc Piollet setzte mit Verdi-Oper erste Duftmarke im Staatstheater

Bekanntlich liegt ein Fluch auf Rigoletto. Ausgesprochen von einem gewissen Graf Monterone. Einer, den der Hofnarr übel verhöhnt hat. Viel Unheil scheint dieser Fluch auszulösen: Giuseppe Verdis tragischer Opernheld, dieser Narr am Hofe des Herzogs von Mantua, sieht am Ende der Oper die eigene Tochter sterben, getötet von einem Berufskiller, den Rigoletto eigentlich für einen anderen engagiert hat. Für seinen Dienstherrn, den Herzog, der des Narren behütete Tochter Gilda verführt hat.

In Wiesbaden aber scheint auf "Rigoletto" noch ein anderer Fluch zu liegen: Gerade sieben Jahren ist es her, seit am Staatstheater zuletzt eine Inszenierung präsentiert wurde, die unglücklich zwischen Kitsch und Bühnen-Statuarik haften blieb. Nach relativ kurzer Zeit wurde das Stück jetzt erneut inszeniert. Nur fällt leider auch Hermann Schmidt-Rahmers Regiearbeit nicht überzeugend aus.

Gewiss: Es ist schwierig, ein Musiktheater-Werk zu inszenieren, das der Regie so scharfe Klippen bietet. Wie soll heutzutage man Rigolettos Tochter sterben lassen, die dem Vater tatsächlich als singender Sack vor die Füße geworfen wird? Das geschieht so auch in Wiesbaden, wenngleich Gilda aus eigener Kraft ihr Jute-Grab durch die Bühnen-Hintertür verlässt. Man würde das gerne als Befreiung aus väterlicher Vereinnahmung deuten. Wenn dies denn nicht der erste gute Gedanke nach zweieinhalb Opern-Stunden wäre.

Denn vorher sieht man in Schmidt-Rahmers Regie zwar nicht unbedingt Kitsch, auch wenn die bunt gewandeten Höflinge (Kostüme: Michael Sieberock-Serafimowitsch) Zopf tragen. Und man sieht gewiss auch keinen Stillstand, schon weil sich die hell gehaltenen Bühnenbilder von Herbert Neu becker von Szene zu Szene öffnen und zu verengter Perspektive verschließen. Das wirkt alles wirkt aber letztlich ebenso beliebig wie das Feuerzeug-Schwenken der Höflinge oder Rigolettos bucklig-gequältes Zappeln. Wozu dies alles? Darauf gibt die Regie letztlich keine plausible Antwort, höchstens mit Moment-Einfällen hangelt sie sich am Stück entlang.

Wohl ernster mit Rigoletto meint es Marc Piollet, der sich am Pult des Hessischen Staatsorchesters als Wiesbadens neuer Generalmusikdirektor vorstellt. Gewiss kann Piollet auch bei gedehnten Tempi Spannungsbögen aufrechterhalten, auch weiß er um den Effekt plötzlicher Forte-Ausbrüche, die Überredungskraft zelebrierter Finalwendungen, hält schließlich auch Verdis Ensemble-Szenen souverän zusammen. Aber die erheblichen Schwächen des Orchesters kann auch er nicht ausmerzen: Die Hörner fehl intonieren nach wie vor verträumt, das Zusammenspiel der tiefen Streicher schummert zuweilen gehörig.

Leider lassen nicht einmal die drei Gast-Protagonisten Positives vermelden: Die Partie des Herzogs muss Felipe Rojas zuweilen in allzu gepresste tenorale Höhen umleiten, als Gilda ist die lyrische Sopranistin Melba Ramos viel zu wenig Herrin der unbedingt souverän zu singenden Verzierungen. Und als Rigoletto muss sich Tito You zunehmend in brustig-grobe Markierungen der vokalen Linie flüchten, bis sein Bariton bei der allerletzten Beschwörung vollends einbricht. Kein guter Saisonstart in Wiesbaden. Zumindest hinsichtlich der orchestralen Solidität darf man vom neuen Generalmusikdirektor Marc Piollet noch erhebliche Aufbauarbeit erwarten.

AXEL ZIBULSKI