Westdeutsche Allgemeine Zeitung
15.05.2007

Eine Reise in den Süden
Gelsenkirchen zeigt experimentelles Musiktheater. Im MiR hatte "Der Sonne entgegen" von Lucia Ronchetti Uraufführung - aus einem Treffen von Harmlosen wird die hoffnungslose Warteschleife Gestrandeter

Von Hans-Jörg Loskill

Gelsenkirchen. Just an dem Tag, als der glorreiche FC Schalke ins Schattenreich des zweiten Bundesliga-Platzes rutschte, strebte das Musiktheater im Revier "Der Sonne entgegen".

So heißt die Uraufführung der italienischen Komponistin Lucia Ronchetti, die einen Text von Steffi Hensel vertonte. Das Stück wurde von der NRW-Jury beim "Fonds Experimentelles Musiktheater" zur Realisierung benannt. Zu Recht. Erstmals wurde diese Auszeichnung vergeben.

Es scheint friedlich zuzugehen bei der Sonnen-Reise. Eine Strandsituation im Süden: 14 Personen suchen nach dem Sinn ihres Tuns. Eine schaufelt Sand, einer schlüpft aus einer Folie wie ein Küken, ein Dritter übt den Kopfstand. Doch der Treff der Harmlosen wird zur hoffnungslosen Warteschleife Gestrandeter. Irgendwo, irgendwie - die Letzten der Menschheit, vom Atomkrieg Verschollene, von der Zeit Verschüttete rotten sich zur apokalyptischen Endzeit zusammen. Sie sind Wartende in der Schleuse zum Tod, zum Jenseits, zum Nichts.

Sie verlassen, inzwischen durch Schutzanzüge vermummt, die Bühne und bewegen sich wie Monster durch die Reihen des Publikums. Eine gespenstische Situation: die Trennung zwischen Bühne und Parkett wird aufgehoben.

Die Musik der Römerin kommt elektronisch wabernd vom Band oder auch bläserlastig "live" von der fünfköpfigen, erstklassigen "musikfabrik nrw". Lucia Ronchetti mischt Romantik mit zeitgenössischen Clustern, zitiert das markige "Dies irae" und lässt Solisten arios ihren Schmerz aussingen. Mag der Text auch Trivialsätze und Nachrichten-Sprechblasen zur Banalbeschreibung unserer Welt fast beliebig aneinander reihen - es begegnen sich Elende aus Dafour, die nach Liebe dürstende Eisprinzessin, eine Zwangsprostituierte aus Moldawien, eine Flüchtige im Zweiten Weltkrieg - die Partitur Ronchettis fasziniert in ihrer Mixtur. Rap und Arie, antiker Chor und Bläserchoral ergeben zusammen mit den wie hingeworfenen Zustands-Szenen auf der Bruch-Bühne (Anne Hölck) eine dichte Atmosphäre des Grauens, des Sehnens nach Hoffnung, der Klimakatastrophe. Während via Bildschirm eine TV-Runde den Wetterwandel nebst Folgen zerredet, fordern Akteure in einem Requiem auf die Erde sofortiges Umdenken und Handeln: Menschenrettung im Theater. Mit einem schaurigen Schrei als Mahnung an uns alle endet nach 80 Minuten die "Sonnen"-Tour.

Michael von zur Mühlens Regie schafft den Spagat zwischen bemühter Botschaft und theatralischem Ritual, Dirigent Askan Geisler bewegt sich mal seitlich im Raum, mal mit dem Orchester im Foyer und fügt doch das Ronchetti-Puzzle souverän zusammen. Das ernst und engagiert agierende und singende Ensemble hält das Projekt zwischen elitärem Anspruch und sinnlicher Qualität in der Schwebe.

Die Premiere hat es als Experiment verdient, empfohlen zu werden.

 

Junge Welt
16.05.2007

Einen Eisberg holen
Stimmengewirr der Globalisierung: Lucia Ronchettis Oper "Der Sonne entgegen" in Gelsenkirchen

Von Florian Neuner


In einer Lücke ist viel Platz
Foto: Benjamin Krieg

Opernhäuser sind die mit Abstand konservativsten Institutionen in unserem Kulturbetrieb. Gleich Museen verwalten sie das immergleiche Repertoire von Mozart bis Richard Strauss. Das Beharrungsvermögen ist enorm, knapper werdende Etats führen auch nicht zu gesteigerter Risikobereitschaft. So ist der in Nordrhein-Westfalen neugegründete Fonds experimentelles Musiktheater ein wahrer Segen: Von einer Jury ausgewählte Projekte werden mit je 80000 Euro bezuschußt und dann an einer Bühne des Landes inszeniert. Das hat den Vorteil, daß die Stücke nicht in einer Nische auf irgendwelchen Neue-Musik-Festivals verbleiben, sondern in die Stadttheater getragen werden. Eines der Häuser, die an der Initiative teilnehmen, ist das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Das architektonisch spektakuläre Haus, an dem Carla Henius einst ihre "musik theater werkstatt" betrieb, hat schließlich einen fast schon verlorenen Ruf zu verteidigen.

Im Kleinen Haus des Gelsenkirchener Musiktheaters wurde am vergangenen Samstag ein Stück der italienischen Komponistin Lucia Ronchetti uraufgeführt, das sich einiges vorgenommen hatte: Migration, Deterritorialisierung und Wanderung sind die Schlagwörter, mit denen Ronchetti, die mit der Dramatikerin Steffi Hensel und dem Regisseur Michael v. zur Mühlen zusammengearbeitet hat, ihr Thema umreißt. Opernhäuser sind, wie gesagt, konservativ, die Modewelle kapitalismuskritisch sich gerierender Dramatik hat sie bislang noch nicht erreicht. Überhaupt hat es seit den siebziger Jahren kaum politisches Musiktheater gegeben. Die 1963 geborene Römerin Lucia Ronchetti stößt mit "Der Sonne entgegen" also durchaus in eine Lücke.

Das Publikum wird schon beim Betreten des Zuschauerraums von Scheinwerfern geblendet und sieht sich in der ersten Szene einer Art Strandszenerie gegenüber: Protagonisten in Strand- und Freizeitkleidung bevölkern Anne Hölcks schlicht gestaltete Bühne, während ein Mann im Trainingsanzug zitternd und wimmernd in einer Ecke liegt. Ein Stimmengewirr setzt ein, das sich den ganzen, 75 Minuten kurzen Abend kaum je legen wird – zunächst a capella, erst im Laufe der Zeit lassen sich die fünf Blechbläser aus dem Off des Foyers vernehmen, noch später dann betreten sie den Saal. Nur einzelne Sätze als Sinnbrocken schälen sich hin und wieder heraus, werden in den Gesang hinein gesprochen. Das Stimmengewirr hält auch in der zweiten Szene an, bloß sind inzwischen aus den Urlaubern Flüchtlinge geworden, und es wird im Laufe des Stücks noch einige derartige Transformationen geben – eine schlichte Pointe, die jedoch ihre Wirkung nicht verfehlt.

Nur gut, daß Textverständlichkeit für Ronchetti nicht Priorität hat, daß der Betrachter der unübersichtlichen Tableaus nicht im Detail mitbekommt, wen die Librettistin Hensel so alles aufmarschieren läßt: Frauen aus Ghana und Darfur, eine Zwangsprostituierte aus Moldawien, einen Uiguren im Wartesaal einer Ausländerbehörde, eine Deutsche im Marseille des Zweiten Weltkriegs, Geschäftsleute, Kindersoldaten und noch viele mehr. Als Sprechtheater möchte man sich "Der Sonne entgegen" denn auch nicht vorstellen. Die junge Dramatikerin hat versucht, alles, aber auch wirklich alles in ihren Text zu stopfen, was einem zum Thema Globalisierung einfallen könnte. Sie zitiert Adam Smith und den Polarforscher Roaed Amundsen, läßt Fernsehdiskussionen nachspielen und legt ihren Figuren pathosgeladene Sentenzen in den Mund, läßt die moldawische Prostituierte etwa sagen: " Ich will nur raus / Raus aus dem Elend dem Geschwür der Narbe / Die meine Haut mein Körper / Aber nicht / Mein Schicksal ist."

Lucia Ronchetti hat das hanebüchene Libretto in raffinierte vokale Vielstimmigkeit aufgelöst, sie setzt ihr begrenztes Instrumentarium, Bläser und Elektronik, wirkungsvoll ein. Besonders suggestiv gerät eine rätselhafte Szene, in der in merkwürdige Overalls gekleidete Gestalten sich ins Publikum mischen und murmelnd etwas vom Mond erzählen. Die einzige große vokale Soloszene, in der eine Eisläuferin – so etwas wie die mysteriöse Hauptfigur neben den Urlaubern und Flüchtlingen – einen Eisberg imaginiert, der dann auch wirklich dahergeschwommen kommt, kann freilich auch Ronchetti nicht retten, bei der in der Schlußszene dann aber schließlich auch noch alle Pathos-Sicherungen durchknallen: "Die Sehnsucht nach dem Paradies jenseits des Horizonts, die exisitiert nicht mehr", brüllen alle 14 Sänger-Performer, und Ronchetti zitiert im durchdringenden Blech das "Dies irae" aus Verdis Requiem. Alles vergebens?

 

Deutschland Radio
15 Mai 2007

Strahlendes Glück
Uraufführung von Lucia Ronchettis "Der Sonne entgegen"

Die italienische Komponistin Lucia Ronchetti setzt sich in dem Musiktheaterstück "Der Sonne entgegen" mit dem Schicksal afrikanischer Flüchtlinge auseinander. Wie sieht deren Zukunft nach der Ankunft in Europa aus? Und was ist dran an Worten wie "Kosmopatriotismus" und "Weltgemeinschaft"? Nach der Uraufführung des Stückes am Wochenende im "Musiktheater im Revier" in Gelsenkirchen könnten man meinen: Sie sind Leerläufer.

Von Frieder Reininghaus

Irgendwie schöne Aussicht. Dahinter die Andeutung einer Düne. Eine bildhübsche Sopranistin dreht auf dem Strand Pirouetten, als wäre sie jenes totgeschossene Häschen, das auf der Sandbank Schlittschuh lief - als es dunkel war und

der Mond helle schien. Mehrfach stürzt sie, steht wieder auf. - Eine Alte im Campingstuhl sticht mit dem Feldstecher in See: "Auf dem Wasser treibt ein Schuh". Vielleicht glotzt die Seniorin, die ihr Gesicht später schwarz eincremt, nur in die Wellen, kann dort nicht wirklich die Spuren eines Unfalls oder von Umweltsünden erkennen.

Oder eben doch: Treibgut, wie es in den letzten Jahren gerade an den Außengrenzen Europas zunehmend angespült wurde. Genau ist das nicht zu erfahren. Aus dem Klang-Graffiti, mit dem Lucia Ronchetti die erste Szene von "Der Sonne entgegen" hinterlegte, schälen sich nur einzelne Sätze - dann allerdings mit weitreichenden Bedeutungsfolgen: "Die Gegenwart ist angekommen" - mit avancierten Vokal-Künsten.

Die an ihm zu Gehör kommenden Text-Partikel bleiben zusammenhanglos oder unbestimmt. Mit Ausnahme einer später eingeblendeten todernsten Parodie auf die alltäglichen Fernseh-Gesprächsrunden mit Experten zum "Kosmopatriotismus" und dem auf der Antarktis vertraglich vereinbarten Multinationalismus als Modell für die künftige Gestaltung der "Weltgemeinschaft". Auch da: Keine Botschaft. Nirgends.

Rechts vor der mattgrauen Plane, die in der weiten Breite voll aufgerissen ist, ist einer gestrandet. Vielleicht einer aus der Ferne. Oder ganz in der Nähe von Hartz IV ausgespuckt. Er zittert (obwohl es, wie die leichte Strand- oder Badekleidung der anderen verrät, gut warm sein müßte).

Das ist so vieldeutig wie manches ironisch oder sarkastisch gemeint sein dürfte: "Die Macht hat kein Interesse an der Zukunft". Eine akustische Welle baut sich bedrohlich auf, kommt nahe, eskaliert - und fegt den Strand leer. Dann wieder viel Stille. Sie ist, wie die Entfernungen oder die jeweilige Nähe, aus denen Geräusch und Ton sich erheben, wohl sehr genau dosiert. Komponiert.

Der Verzicht aufs Narrative war ebenso wie der auf eingängige musikalische Zusammenhänge vollauf beabsichtigt. Dass die entfernten Nachfahren der engagierten Künstler der 20er Jahre gerade auch bei einer Themenvorgabe wie "Migration" nicht mehr mit deren Mittel und Intonationen wie Peter Weiss bei seinem "Inferno" oder Luigi Nono bei seiner "Intolleranza 1960" operieren können, liegt auf der Hand. So galt es für sie, "Grenzgebiete" auszuloten "und die besondere Stimmung, die von ihnen ausgeht".

Das hat dann - in Bild und Ton - waidlich stattgefunden. Ronchettis Episoden integrieren mancherlei Material aus der Musikgeschichte, angefangen von der Madrigalkunst der Monteverdi-Zeit und dem noch viel älteren Adventslied "Mit Ernst, o Menschenkinder" bis zu Wagner- und Verdi-Assoziationen oder Gustav Mahlers "Himmlischem Frieden".

Eine martialisch ausstaffierte junge Frau läuft Amok und erschießt sich dann selbst. Die Schlittschuhläuferin kehrt als running gag wieder und sucht, wie Sokrates, Menschen. Mit der Stablampe.

Ein vorzügliches Bläserquintett aus der musikFabrik NRW meldet sich aus der Ferne, rückt näher und rottet sich schließlich vor der Bühne zusammen. Auf der erhebt sich, zur Verheißung "mors stupebit", ein gewaltiger Tutti-Aufschrei. Große Klage der vierzehn Sänger, die demonstrieren, welche Kraft in ihnen und der Komponistin steckt.

Dem Thema der Migration ist das von Anne Hölck fantastisch bebilderte, von Michael von zur Mühlen anspielungsreich und raffiniert inszenierte "Projekt" nicht zum Greifen nahegekommen. Aber Stimmungen und Befindlichkeiten, Ängste und den trostlosen Blick in die Leere hat es auf bemerkenswerte Weise sichtbar und hörbar gemacht.

 

Il giornale della musica
2 maggio 2007


Sarah Maria Sun in un momento dell'opera di Lucia Ronchetti

Declinazione della frontiera

A Gelsenkirchen debutta la raffinata opera da camera di Lucia Ronchetti su testo di Steffi Hensel. L'ottimo gruppo di 14 solisti vocali e la competente realizzazione musicale di musikFabrik convincono pienamente e decretano il successo dello spettacolo, accolto con favore dal pubblico.

Sono le note di uno straniato "Dies Irae" della Messa di Requiem di Verdi, trasfigurato dal quintetto di ottoni e dal canto spezzato dei quattordici solisti, e soprattutto il loro grido ed il battere assordante sulle tavole del palcoscenico durante un impossibile dibattito televisivo, a chiudere le cinque stazioni del nuovo lavoro di Lucia Ronchetti. Dichiarazione di disperata impotenza e climax di un'opera che parte da una meditazione sul confine e si sviluppa come raffinata riflessione filosofica sul paradosso del linguaggio come veicolo dell'espressione e suo limite. Programmaticamente politica, la composizione di Ronchetti sorprende e diverte piuttosto per il suo gioco leggero e sottile con i linguaggi musicali, per l'abile e teatralmente efficace gioco di citazioni (Verdi, ma anche il madrigalismo rinascimentale e persino Mahler) e per l'elaborata scrittura vocale, elemento chiave della sua produzione non soltanto teatrale.

Steffi Hensel fornisce un libretto che stilisticamente riflette il carattere eterogeneo del tessuto musicale, ma risulta piuttosto irrisolto sul piano drammaturgico. E se paradossalmente i limiti del testo danno più forza al discorso musicale, la messa in scena ne soffre. Malgrado qualche momento felice - l'universo di schegge musicali che invadono la sala e dialogano individualmente col pubblico, ed il riuscito finale corale - la regia stenta a trovare un disegno organico ed un segno autonomo.

Molto della riuscita dello spettacolo si deve agli affiatati interpreti, che (letteralmente) costruiscono lo spettacolo con e sulla loro fisicità oltre ad essere vocalmemte impeccabili. Il virtuoso quintetto di ottoni di musikFabrik e la competente regia dei suoni di Thomas Seelig concorrono a realizzare compiutamente la concezione musicale dell'opera.

Stefano Nardelli