Frankfurter Rundschau
28. Dezember 2007

OPER
Popstar Orfeo
VON STEFAN SCHICKHAUS

Der mythische Sänger Orpheus und sein irdischer Nachfahre Christian Gerhaher haben eines gemeinsam: Sie lernten das Singen nicht auf einer Hochschule. Der eine war wohl ein reines Naturtalent, der andere wollte parallel Medizin und Musik studieren, was ihm die Behörden aber nicht erlaubten.

Also promovierte Christian Gerhaher als Mediziner und ließ sich privat zum Bariton ausbilden. Was derart gut gelang, dass der sympathische Bayer heute mit seiner Stimme Wunder zu wirken versteht wie kein Medizinmann mit der Spritze.

Im Jahr 2005 gab Christian Gerhaher sein Frankfurter Opern-Debüt mit Claudio Monteverdis "L'Orfeo". Die Inszenierung David Hermanns, die jetzt wieder ins Programm genommen wird, wurde damals recht kontrovers diskutiert: Der Regisseur machte den Orpheus zum von Drogen vernebelten Pop-Star, Christian Gerhaher bekam als Markenzeichen eine E-Gitarre umgehängt, der Chor der Hirten bildet sein Fan-Kollektiv. Die Hirten tragen Trainingsanzüge. Von Antike keine Spur.

Fetter Sound

Ein moderner Ansatz passt in den Augen des Baritons Gerhaher allerdings durchaus zu dieser ersten vollreifen Oper der Musikgeschichte. Denn, so der Sänger: "L'Orfeo ist eine extrem moderne Angelegenheit. Diese Oper hat alles, was Menschen bewegt. Um so eine subjektiv bewegende Weltsicht wieder zu erreichen, muss man einen Sprung bis zu Wagner machen, meiner Meinung nach."

Auch in ihrer instrumentalen Ausstattung steht diese genau 400 Jahre alte Oper einem Wagner kaum nach. Der Dirigent Felice Venanzoni hat in seinem kreisrunden Orchestergraben hier ein Ensemble zu leiten, das weit farbiger bestückt ist als alle späteren Barockopern, eben noch ganz in üppiger Renaissance-Manier. Orfeo, der rockige Sänger, bekommt sozusagen einen wirklich fetten Sound.

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Dokument erstellt am 28.12.2007 um 00:08:02 Uhr
Erscheinungsdatum 28.12.2007 | Ausgabe: R2NO | Seite: 14

 

Frankfurter Neue Presse
31.12.2007

Jimi Hendrix kehrt wieder als Geist
An der Oper Frankfurt wurde im Bockenheimer Depot „L’Orfeo" wiederaufgenommen

Von Andreas Bomba

Auf die Idee muss man kommen: Orpheus als Rockstar, mit E-Gitarre statt Leier. Der Mythos des Sängers, der die Herzen und sogar die Natur verzückt – er wirkt bis auf den heutigen Tag. Wer je einen Mick Jagger über die Bühne toben sah, findet diesen Prototypen wieder in David Hermanns Sicht von Monteverdis „L’Orfeo". Euridice ist in Wahrheit nicht die geliebte Partnerin, sondern ein schmächtiges Groupie (Marie Smolka). Die Geister der Unterwelt, unter denen Orpheus die Verstorbene sucht, tragen die Masken verblichener Sängerkollegen: Jimi Hendrix, John Lennon, Elvis. Wo es so musikalisch zugeht, muss der Fährmann ein wahrer Höllenhund sein: Heino mit weißem Rolli und Wandergitarre (Magnus Baldvinsson). Spätestens als diese Figur sich aus dem Orchester erhebt, spürt man die ironische Distanz, aus der heraus dieses sehr alte Bühnenwerk so unmittelbar uns anspricht. Die Raumlösung ist für die kathedralartige Spielstätte ideal: alles geschieht auf einem kreisrunden Podest um das Orchester herum; der in der Premiere kommentierend abseits platzierte Chor wird nun durch eine Reihe von Madrigale singenden Solisten ersetzt; das macht die Geschichte noch dichter und homogener, zumal diese in weiße, mit schwarzem Tesaband abgeklebten Overalls steckenden Figuren dem Ganzen noch eine laborhaft kühle, futuristische Note verleihen. Musiziert wird vorzüglich, Felice Venanzoni verkörpert, mehr gestisch gestaltend als dirigierend, den atmenden Impetus der barocken Musik, das mit Gästen durchsetzte Museums-Orchester folgt bereitwillig. Das Ereignis des Abends freilich ist Christian Gerhaher. Der Bariton, kein Alte-Musik-Spezialist, schöpft aus seiner reichen Erfahrung am romantischen Repertoire, dem Fragen und Sehnen dort, der Entdeckung des labilen Ich und seinem Ausbruch in extreme Verzückung und extremen Schmerz. Verbindliches gibt es nicht. Da steht Orfeo auf der Bühne, mit seiner Gitarre, die ihm, nun auch nicht mehr helfen kann.

 

OFFENBACH POST
2. Januar 2008

Exzessiv leben und früh sterben
Claudio Monteverdis Drama "L'Orfeo" an Oper Frankfurt wiederaufgenommen

Aparte Vorstellung vom Eingang zur Unterwelt: Dort wartet Heino. Ein Double des blonden Barden mit der dunklen Brille stellt sich Orpheus in den Weg. Aus dem antiken Sänger ist ein nicht mehr taufrischer Rockstar geworden, der seine E-Gitarre bei sich trägt. So aktualisierte Regisseur David Hermann vor drei Jahren Claudio Monteverdis "L'Orfeo", jetzt in revidierter Fassung wieder an der Oper Frankfurt. Auch bei der Wiederaufnahme im Bockenheimer Depot war der Auftritt von Bass Magnus Baldvinsson als Heino-Double in Gestalt des Fährmanns Charon ein amüsanter Höhepunkt.

Man lebt exzessiv und stirbt früh, das mag für Künstlermilieus der Antike wie der Moderne gelten. Schließlich ist es Eurydikes früher Tod, der in der 1607 uraufgeführten italienischen Oper den Sänger ins Totenreich treibt. Ein Brückenschlag: In Frankfurt halten sich die neun Madrigalisten zwischenzeitlich Masken von Künstlern wie Elvis Presley oder John Lennon vor, die mit frühem Tod moderne Mythen begründeten. Dies korrespondiert mit dem antiken Orpheus-Mythos durchaus erfrischend; dass Monteverdis Musik unangetastet, historisch gut informiert und erfrischend verzierungsreich gespielt wird, garantiert Studienleiter Felice Venanzoni: Das Orchester, Mitglieder des Museumsorchesters und Gäste, steht auf der Bühne im Mittelpunkt, die Inszenierung spielt sich rings um die Musiker ab - eine sinnvolle Anlage für diese erste Oper der Musikgeschichte.

Wie bei der Premiere wird im Wiederaufnahme-Zyklus die Partie des Orpheus von Bariton Christian Gerhaher gesungen. Der versierte Liedsänger ist eine Idealbesetzung für die umfangreiche, sehr dominante Titelpartie, mit sauberer Stimmführung selbst in tenoralen Höhen, in lyrischen Momenten hinreißend einfühlsam, leicht und wendig in den Verzierungen: Gerhaher und Venanzoni tragen die Produktion bestens, unterstützt von einem Vokalensemble, in dem Marie Smolka (Eurydike) nur eine von wenigen ist, die bei der Premiere noch nicht dabei waren. Auch Arlene Rolph als allegorische Figur der Hoffnung (Speranza) und Britta Stallmeister als Verkörperung der Musik (Musica) werten diese moderne Sicht auf den Mythos sängerisch auf.

AXEL ZIBULSKI

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung
31. Dezember 2007

Rocksänger in kreativem Wahn
Wiederaufnahme von Monteverdis "L'Orfeo" im Depot

Das Erstaunliche ist, dass diese unkonventionelle, bei vordergründiger Betrachtung zugegebenermaßen platt erscheinende Regie-Idee aufgeht. Jedenfalls hat der junge Regisseur David Hermann der Handlung der „Favola in Musica" keineswegs Gewalt angetan, als er den Titelhelden in Claudio Monteverdis Oper L'Orfeo im März 2005 für die Oper Frankfurt im Rocksänger-Outfit samt E-Gitarre in die Unterwelt schickte. Bei der Wiederaufnahme der Produktion im Bockenheimer Depot war eindringlich zu erfahren, wie aus dem mythisch-antiken Halbgott durch die konsequente Modernisierung ein Mensch von heute wird. Allerdings kein Durchschnittstyp, sondern ein extremer Künstler, der seine Höllenfahrt in kreativem Wahn erlebt.

Umgeben ist Orfeo in Hermanns Inszenierung von einer verrückten Fan-Gemeinde, einer gesichtslosen, weiß uniformierten Masse. Diese Fans, im Original Hirten und Geister, brauchen bei ihrem eigenen Mangel an Originalität und Individualität ein Idol zum Anhimmeln, eine Projektionsfigur. Anfangs huldigen sie so ihrem Superstar. Doch drehen sie durch, als er seine Liebe ganz Euridice schenkt. Eifersüchtig und schadenfroh gönnen sie ihm sein Leid, als er von Euridices Tod erfährt und sie aus der Unterwelt herausholen will. Die einprägsamsten Szenen spielen sich am Tor zur Unterwelt und drinnen ab. Als Hades-Wächter Caronte versperrt Schlagersänger Heino (treffend kehlig-finster und roboterhaft: Magnus Baldvinsson) den Weg. Und die „Fans" begrüßen Orfeo mit Masken von Elvis Presley, John Lennon, Jimi Hendrix und anderen Rockgrößen.

Alles steht und fällt aber mit der Titelfigur, der einzigen großen Partie. Christian Gerhaher ist dafür eine Idealbesetzung. Mit seinem flexiblen, lyrischen, im Umgang mit Alter Musik erfahrenen Bariton gestaltet er, wie in der Premierenserie, facettenreich und leidenschaftlich, stets stilgerecht und klar artikulierend im „recitar cantando". Zudem macht er darstellerisch deutlich, wie sich das Geschehen nur als „Trip" in seinem Kopf abspielt. Das Orchester, das in der Mitte des genial-einfachen Bühnenbilds von Christof Hetzer, eines drehbaren Holzrondells, sitzt, musiziert unter der Leitung von Studienleiter Felice Venanzoni griffig und farbenreich in historischer Aufführungspraxis.

GUIDO HOLZE

 

www.Opernnetz.de
3. Januar 2008

Halbgott
Monteverdis Meisterwerk wird im Frankfurter Bockenheimer Depot zum faszinierenden Drama des Künstlers als Halbgott.

Felice Venanzoni zelebriert geradezu mit den exzellenten Musikern des Frankfurter Museumsorchesters die polyphone Virtuosität dieser ersten Oper von 1607, weit weg von akademischer Attitüde, vielmehr durchdrungen von archetypischem musikalischen Ausdruck – mit geradezu bezwingender Dynamik, mit Emotionen stimulierenden Tempi, als sensibles Zusammenspiel der so ausdrucksvoll aufspielenden Musiker. Dabei gelingt die Kombination von aktuellen Instrumenten mit historischen wie Cornetto, Cembalo, Lirone, Chitarrone und Cembalo in beglückender Weise!

Christian Gerhaher demonstriert seinen unbestrittenen Ruf als Sänger der Extra-Klasse: Wie er dramatische Rezitative intoniert, wie er in wilden Ausbrüchen seine Stimme beherrscht, wie er lyrischen Empfindungen in schwelgerischer Intensität ergreifenden Ausdruck verleiht – das ist das stimmliche Geheimnis der ganz Großen! Dazu: Darstellerisch formidabel in der Interpretation sowohl einer Gesamt-Entwicklung als auch in spektakulären Details.

In Frankfurt hat er kongeniale Partner: Britta Stallmeister verleiht der Musica beschwörende Intensität; Marie Smolka ist eine stimmlich differenzierte Euridice; Katharina Magiera gibt der Proserpina leidenschaftlichen Ausdruck (am Abend singt sie auch die Messagiera – voller emotionaler Kraft); Magnus Baldvinsson intoniert den Caronte mit stupendem Volumen; Florian Plock lässt als Plutone mit beweglichem Bass balsamisch-energische Töne hören; Michael Nagy singt einen stimmlich variablen Apollo; und Anja Fidelia Ulrichs Ninfa vervollständigt das überwältigende Ensemble. Dazu die Madrigale und Pastore mit brillantem Solo-Gesang und musikalisch-intensiv im Kollektiv!

Genial die Wahl des Aufführungsorts: Im Bockenheimer Depot gibt es eine manegenartige Bühne mit dem Orchester in der Mitte und einem sich drehenden Rund nebst zweier kleinerer Plateaus an den Seiten. Christof Hetzer baut dazu zwei Tribünen für das Publikum – eine Gesamt-Szene mit kommunikativer Spannung, Aufmerksamkeit zentrierend und ohne überflüssige Accessoires. Grandios!

Dass Regisseur David Hermann den Orpheus in ein Cobain-Kostüm steckt, ihn von ekstatischen Fans umgeben lässt, den Caronte als Heino karikiert, die E-Gitarre zum Musik-Symbol stilisiert – das alles ist bloß eine Idee. Sie funktioniert nicht im Zusammenhang des Mythos, scheitert an Details, wirkt bisweilen platt anbiedernd -- stört aber weiter nicht.

Kompliziert ist es, das Bockenheimer Depot zu betreten: Schlange stehen vor einem ersten Zerberus, Schlange stehen vor einem Tresen für vorbestellte Karten (der sich dann als der falsche herausstellt), Schlange stehen an der Kasse, Schlange stehen an der Garderobe – so vergehen tötende 20 Minuten. Das Publikum braucht einige Zeit, um sich auf Musik und Gesang einzustellen, wird durch die Pop-Attitüde abgelenkt, versucht sich an Handy-Fotos, tauscht sich aus -- doch die Atmosphäre beruhigt sich, die Kommunikation Bühne-Auditorium funktioniert. Jubel am Schluss! (frs)

nnnnn Musik
nnnnn Gesang
nnnnn Regie
nnnnn Bühne
nnnnn Publikum
nnnnn Chat-Faktor