Darmstädter Echo
10 Mai 2002

Premiere am Samstag
Keine Zeit für die Liebe

Ausblick: Rosamund Gilmore über Antonio Vivaldis Oper „Orlando"

DARMSTADT. Die Musik sei sehr vom Rhythmischen bestimmt und entwickle eine gewisse Motorik; deshalb müsse Vivaldis Oper „Orlando" zügig ablaufen, erklärt die Regisseurin Rosamund Gilmore. Das in Darmstadt auf Italienisch gesungene Werk (mit deutscher Übertitelung) brauche etwa eindreiviertel Stunden. Alles soll zügig vonstatten gehen, eine Pause sei da nur störend, meint die Regisseurin. Am Samstag (11.) ist um 19.30 Uhr im Großen Haus des Staatstheaters die Premiere der 1727 in Venedig uraufgeführten Oper. Damals hat das Stück nach Ariosts Epos „Orlando furioso" allerdings dreieinhalb Stunden gedauert. Heute wäre diese Länge indes kaum mehr erträglich, geschweige denn verständlich, erzählt Gilmore. Mit den vielen Nebenhandlungen sei der Stoff zu verworren und müsse deshalb gestrafft werden.

Die Motorik der Musik kommt der Regisseurin entgegen, denn Gilmore war einst Tänzerin und Choreografin gewesen. Ihre Inszenierung des „Orlando" (mit Friedrich Oberle als Ausstatter) sei recht tänzerisch geraten – auch in den Arien. Die Bewegung, die die Musik auslöse, verlange den körperlichen Einsatz der Sänger. Eine solche Umsetzung ins Körperliche helfe dem Sänger auch, sich musikalisch zu befreien, lockerer zu werden. „Ich arbeite auf den Sänger zu", erklärt Gilmore. Das kleine Orchester, nur aus Streichern, Basso continuo und Flöte bestehend, ist auf halber Höhe zur Bühne hochgefahren – dirigieren wird der Erste Kapellmeister Raoul Grüneis.

Worum geht es in Vivaldis „Orlando"? Auf einen Nenner gebracht: um die Liebe, deren Ausformungen und Möglichkeiten. Vivaldi stellt den rasenden Roland, wie Orlando auf Deutsch heißt, in den Mittelpunkt, der aufgrund missachteter Liebe wahnsinnig wird. Diesen Wahnsinn hat Vivaldi ausführlich und mit einer gewissen Ironie musikalisch illustriert. Orlando wird geheilt, wird zu einem Realisten, der erkennt, dass das wahre Glück in der Liebe darin besteht, ihr nicht verfallen zu sein. „Um kuriert von der Liebe zu sein, muss er sein eigenes Herz herausreißen", ergänzt die Regisseurin. Ganz anders die Zauberin Alcina, die die Menschen auf ihr Inselreich führt, verführt und verzaubert. Sie, die lustbetonte Anhängerin der freien Liebe, verliert gegen Orlando. Ihr Reich zerfällt, bröckelt auseinander. Alcinas paradiesische Insel kann eine moderne Gesellschaft nicht tragen, geschweige den ertragen. Die Darsteller im „Orlando" sind stilisiert als Menschen unserer Zeit zu sehen. Dennoch versucht Gilmore den Stoff magisch und poetisch zu deuten. Das farbige Stück verlange nach heiteren Farben und Licht. Das Ende aber sei eher von einer gewissen Melancholie beherrscht. (HZ)

 

Rosamund Gilmore
Rosamund Gilmore

Frankfurter Rundschau
11. Mai 2002

Jede Menge Sauerstoff
Gespräch mit der Regisseurin Rosamund Gilmore zur Premiere von Antonio Vivaldis Oper "Orlando" in Darmstadt

Rosamund Gilmore, eine der profiliertesten Regisseurinnen für die Bühne, hat die Barockoper für sich entdeckt. Nach Monteverdis Poppea in Frankfurt inszeniert sie jetzt in Darmstadt Orlando, eine der zahllosen, aber kaum gespielten Opern von Antonio Vivaldi. FR-Mitarbeiter Stefan Schickhaus fragte die Choreographin und Regisseurin nach dem Reiz des Alten.

FR: Frau Gilmore, nach der Klassik-Bestsellerliste des letzten Jahres ist Antonio Vivaldi Deutschlands beliebtester Opernkomponist. Keine CD verkaufte sich annähernd so gut wie das Album mit Vivaldi-Opernarien von Cecilia Bartoli. Lebt hinter dem Mond, wer eingestehen muss, noch nie eine Vivaldi-Oper gesehen zu haben?

Rosamund Gilmore: Demnach würde auch ich hinter dem Mond leben - denn abgesehen von Orlando kenne ich keine Oper von Vivaldi, es wird ja auch kaum eine gespielt. Mittlerweile weiß ich auch warum: Es ist sehr schwer, so etwas bühnengerecht zu inszenieren. So haben wir hier, um den Stoff theatralisch wirklich wirksam behandeln zu können, die Oper von den ursprünglichen dreieinhalb auf eineinhalb Stunden gekürzt. Wir haben da ganz radikale Schnitte gemacht.

Wenn man den historischen Aufführungsbedingungen folgen wollte, bräuchte man auf der einen Seite Kastraten als Sänger, müsste allerdings auf der anderen Ihren Part, den der Regisseurin, weglassen. Barockopern wurden damals schließlich nicht inszeniert im heutigen Sinne.

Gerade das hat uns aber ermutigt, besonders frei mit der Geschichte umzugehen. Es gibt in diesem Orlando keine klassische Dramaturgie, aber dafür eine enorme Motorik - und das ist es, was ich daran so spannend finde, schließlich komme ich ja von der Choreographie und vom Tanz. Hier habe ich die Möglichkeit, mit Sängern tänzerisch zu arbeiten - sicher der Hauptgrund, warum ich dieses Projekt überhaupt angenommen habe.

Aber ist nicht diese Motorik, diese für Vivaldi so typische rastlose Bewegung eine sehr standardisierte, austauschbare? Wenn Orlando dem Wahnsinn oder Ruggiero der Liebe verfällt, dann könnte man diese Affektmusik auch gut in eine andere Oper verpflanzen.

"Austauschbar" ist mir zu negativ formuliert, nennen wir es: flexibel. Vivaldis Musik gibt uns die Möglichkeit, auf eine so flexible Art und Weise zu arbeiten, wie ich sie sonst nur aus dem Tanztheater kenne. Hier kann eine ganz eigene, intensive Produktion entstehen, für mich ist das wunderbar.

Nun sind Opernsänger nicht unbedingt auch Ausdruckstänzer. Was müssen sie hier auf der Bühnen leisten?

Jeder Figur ist einer von verschiedenen stilisierten Tänzen zugeordnet, die alle auf sehr loser Basis sich an höfischen Tänzen des Barock orientieren, versetzt mit Stilzitaten aus dem Heute. Alcinas Zauberwelt im ersten Akt etwa ist eine tänzelnde, oberflächliche, Orlandos Wahnsinn dann wird eher statisch. Und natürlich bleibt der Tanz sparsam eingesetzt, denn die Sänger brauchen jede Menge Sauerstoff für ihren virtuosen Gesang, den darf man nicht verschwenden für die Muskeln. In der Reduktion behält es auch eine gewisse Menschlichkeit und wird nicht zu maniristisch.

Sie hatten vor gut einem Jahr in Frankfurt eine überragende Monteverdi-Inszenierung mit der Poppea, jetzt folgt in Darmstadt Vivaldi. Was reizt sie auf einmal an dem Alten?

Im Vergleich etwa zu Opern des 19. Jahrhunderts haben die Figuren der Barockoper alle eine gewisse Kindlichkeit. Hinter ihnen und ihrer Musik steht keine Psychologie in unserem Sinne, alles ist ungemein direkt: Wenn man verliebt ist, ist man verliebt, wenn man glücklich ist, ist man glücklich. Es fehlen all diese komplexen Charaktere, da muss nicht alles hinterfragt werden. So kann ich den Sänger auch öffnen für eine ganz direkte Emotionalität, und das gefällt mir momentan sehr gut.

Seit einigen Jahren erfährt die Barockoper generell eine regelrechte Renaissance, kaum ein Stadttheater, das keinen Händel im Spielplan hat. Allerdings Vivaldi selbst bleibt da außen vor. Er hat zwar 94 Opern geschrieben, 22 Partituren sind letztendlich erhalten, aber gespielt werden die so gut wie nie eine. Woran kann das liegen?

Ich denke, seine Zeit wird wieder kommen. Was ich an seiner Musik für meine Arbeit so sehr schätze, wird wohl von anderen eher als eine musikalische Naivität belächelt. Der Erfolg der Barockoper allgemein aber hat vielleicht auch mit etwas anderem zu tun: Wir brauchen immer wieder Auszeiten in der Kultur, Auszeiten von all dieser übergroßen Komplexität. Und da kommt das Barocke gerade recht. Es liefert nicht Frage und Antwort gleichzeitig, es bestimmt nicht über uns, ist dafür entsprechend offener für Assoziationen. Für meine Art der Regie ist das ideal.

Premiere im Staatstheater Darmstadt am 11. Mai.
Weitere Vorstellungen: 15., 25. und 29. Mai, Beginn jeweils 19.30 Uhr.

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Dokument erstellt am 10.05.2002 um 21:52:18 Uhr
Erscheinungsdatum 11.05.2002