Darmstädter Echo
12 Mai 2002

Jodler, Juchzer und Schluchzer
Auch der ohne Taktstock agierende Dirigent rückt ins Blickfeld

By Heinz Zietsch

SUSANNE REINHARD (rechts) glänzt an der Darmstädter Oper in Vivaldis „Orlando“ als Zauberin Alcina, Werner Volker Meyer überzeugt als Astolfo.
(Photo: Cornelia Illius)

DARMSTADT. Man stelle sich vor: Instrumentalstücke und Arien des italienischen Barockkomponisten Antonio Vivaldi, umgesetzt in Bewegung, bebildert und aneinander gereiht wie in modernen Videoclips. So ähnlich nämlich geht die Regisseurin Rosamund Gilmore in ihrer Inszenierung von Vivaldis „Orlando“ nach Ariosts Epos „Orlando furioso“ im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt vor. Sie versucht erst gar nicht, eine fortlaufende Geschichte zu erzählen aus dem chaotischen Stoff um den „Rasenden Roland“ (so würde man „Orlando furioso“ übersetzen), in dem es um Liebe und Liebeswahn geht.

Dazu ist Vivaldis Oper auch viel zu sehr Patchwork aus anderen Stücken des Komponisten. Aus manchen Abschnitten meint man gar Episoden von Vivaldis populärstem Werk herauszuhören, aus den „Vier Jahreszeiten“.

Tatsächlich enthält der „Orlando“, den die Musikdramaturgin Helga Utz, der Dirigent Raoul Grüneis und die Regisseurin für die Darmstädter Aufführung gestrafft und neu eingerichtet haben, vielerlei konzertante Elemente, darunter ein Flötenkonzert, das die Solistin Iris Rath vom linken Bühnenrand aus intoniert.

Der Konzertcharakter wird noch verstärkt, da der Zuschauer das begleitende Streichorchester gut sehen kann: der Orchestergraben ist etwas erhöht - man kann zudem eine Theorbe ausmachen, die tiefe Lautentöne beisteuert, und das Cembalo. Vor allem aber rückt durch die Erhöhung auch der ohne Taktstock agierende Dirigent ins Blickfeld: wie umsichtig er etwa seine Musiker mit weit ausholenden Armbewegungen animiert, die an den Dirigierstil von Nikolaus Harnoncourt erinnern, den Spezialisten für alte Musik.

Grüneis, Erster Kapellmeister am Staatstheater Darmstadt, formt die Musik geradezu aus mit sicherem Gespür für die barocken Temporelationen. Er macht deutlich, nicht zuletzt durch ein sorgfältig ausbalanciertes Zeitmaß in den langsamen Teilen, welche feinen Ausdruckswerte Vivaldi hier hineinkomponiert hat. Dann wieder arbeitet er pointiert die Motorik des Rhythmus heraus, den die Regisseurin, die einst Tänzerin und Choreografin gewesen war, in Bewegung umsetzt. So wird fast jeder Ton, jeder Rhythmus, jeder Gefühlsausbruch zu einer tänzerischen Geste. Da hüpfen, tanzen und springen die Protagonisten nur so umeinander, und manchmal geht’s dabei zu wie bei der Echternacher Springprozession. Oder die Darsteller wackeln mit den Hüften, als handele es sich bei Vivaldis pulsierenden Klängen um Discomusik von heute. Eine Darstellerin darf erst am Ende tanzen: Susanne Heubach als lebende Statue Merlins.

Die fast zwei Stunden dauernde pausenlose Aufführung wirkt daher leicht und vergeht fast wie im Flug - der Umbau zum letzten Teil gerät allerdings zu lange. Das Publikum ist begeistert, jubelt und spendet auch der Regisseurin wie ihrem Ausstatter Carl Friedrich Oberle minutenlangen Beifall.

Barockopern stoßen in Darmstadt auf erstaunlich viel Zuspruch und Erfolg. Vor fünf Jahren, fast auf den Tag genau, verbuchte Operndirektor Friedrich Meyer-Oertel an gleicher Stelle mit Händels „Alcina“ einen damals ungeahnten Erfolg.

Spielt diese Zauberin der freien, ungehemmten Liebe nicht auch in Vivaldis „Orlando“ die entscheidende Rolle? Klar, beide Opern basieren auf dem gleichen Stoff. Beide könnte man als Barock-Musical bezeichnen, wobei in Vivaldis Werk, das sich aus einzelnen Arien zusammensetzt, die Massenszenen fehlen.

Die Ausstattung fiel jetzt allerdings bescheidener aus. Stoffbahnen begrenzen die Spielfläche, und jeder Darsteller bekommt ein kleines, durchsichtiges Stoffzelt verpasst. Wie jeder sein Dach über den Kopf bekommen soll, so soll auch jeder Topf, wie es im Spiel der Liebe üblich ist, sein Deckelchen erhalten - oder jeder sein Pflänzchen, das dann eifrig hin- und hergeschoben wird.

Farbenprächtig und zeitlos modern stilisiert sind die Kostüme. Gilmore und ihr Ausstatter Oberle verstehen aus wenig viel zu machen - nicht zuletzt unterstützt durch eine sorgfältige Lichtregie.

Die Männer sind Soldaten, Soldaten der Liebe. Denn das Spiel der Liebe gleicht stellenweise einem Geschlechterkrieg. Monteverdi hat hundert Jahre vor Vivaldi einen Madrigal-Zyklus „Madrigali guerreri et amorosi“ genannt - also Madrigale des Krieges und der Liebe. Diese Tradition setzt Vivaldi in seinem „Orlando“ fort.

Alcina entwaffnet die kriegerischen Männer augenzwinkernd. In der Liebe haben diese Waffen nichts zu suchen. Erst am Ende, wenn Alcinas Zaubermacht gebrochen ist, ziehen die Männer mit Juhe-Geschrei und ihren Waffen wieder von dannen. Kriege, will wohl die Regisseurin damit sagen, sind mit liebestollen Männern nicht zu führen. Erst muss wieder alles ins rechte Lot geraten. Ungebremste Liebe, wie sie Alcina einfordert, verstößt gegen die gesellschaftliche Ordnung.

Dennoch: Eigentlich steht Alcina mehr im Mittelpunkt von Vivaldis Oper „Orlando“ als die Titelgestalt selbst. Das liegt nicht zuletzt an der Gestaltungskraft von Susanne Reinhard, die der Partie der Zauberin enormes Gewicht verleiht. Ihre Eleganz in Spiel wie tänzerischer Bewegung und ihre reiche Stimmpalette sind bewundernswert. Sie war der Star der Premiere am Samstagabend.

Formvollendet in den hohen wie in den tiefen Lagen, in die sie enorm rasch wechselt, meisterte sie alle Facetten ihrer Rolle. Ihre Stimme besaß durchweg Glanz und wohltönende Fülle. Wenn diese Alcina am Ende der Oper unter Rauchschwaden im Orkus verschwindet, dann breitet sich eine gewisse Wehmut aus.

Hans Christoph Begemann spielt den aufgrund verschmähter Liebe wahnsinnig gewordenen Orlando mit irren Blicken wunderbar aus. Da sitzt jeder Ton, jede Nuance, auch wenn er vor Kummer schluchzt. Herrlich, wenn er in der italienisch gesungenen Oper (mit deutschen Übertiteln) unvermittelt französisch parliert. Werner Volker Meyer glänzt mit wohl abgerundeter farbiger Stimme als Astolfo. Andreas Wagner gewinnt als Medoro beachtliches Stimmprofil.

Mit wundervoll weichem, dennoch konturenreichen Gesang betört Lauren Francis als Angelica Liebhaber wie Zuhörer. Katrin Gerstenberger gestaltet die Partie der Bradamante beeindruckend Ausdrucksstark und mit stilsicherem Gesang. Und nach anfänglichen Unebenheiten findet sich auch der gastierende Countertenor Arno Raunig in seiner Rolle als Ruggiero bestens zurecht.

Wendig und zielsicher im barocken Tonfall, hat er ein paar Kabinettstückchen parat. Sobald er sich seiner Angebeteten sicher weiß, hält ihn nichts mehr: Er jodelt, juchzt und legt zur Freude des Publikums einen Vivaldi-Schuhplattler aufs Parkett.

 

Wiesbadener Kurier
13. Mai 2002

Darmstadt: Rosamund Gilmores Vivaldi-Sicht
Wo freie Liebe lockt

Von Kurier-Redakteur
Axel Zibulski

Da müssen manchem Alt-Achtundsechziger die Augen leuchten: Lust und freie Liebe lässt Alcina herrschen auf ihrer Insel. Jeder Mann, der aus ihrer Quelle trinkt, vergisst seine frühere Liebe, verfällt dem reizvollen Matriarchat. Und findet sich bald in einen Stein oder ein Lorbeerbäumchen verwandelt. Denn bei Alcina hat Mann bald ausgedient, ihr Motto vielleicht: Wer zweimal mit demselben pennt...

Doch nein, wir befinden uns nicht zwischen muffigem Kommunen-Mobiliar, sondern in einer ordentlichen Barockoper. In Antonio Vivaldis „Orlando“, jetzt auf dem Spielplan des Staatstheaters Darmstadt, kommen auch Alcina irgendwann Bedenken, ob sie wohl den wahren Weg zum Glück gefunden hat. Und das ist gut so, denn die Arie, in der die Zweifel an ihr nagen, singt Susanne Reinhard in Darmstadt mit solch kultiviertem Piano, so ergreifenden Zwischentönen, dass man ihre Alcina am Schluss des zweistündigen Abends fast ein wenig bedauern möchte: Da versinkt sie, von der aufbegehrenden Manneswelt in ihrer Macht gebrochen, nach zwei pausenlosen Stunden in Rauch und Bühnenboden.

Rosamund Gilmore hat Vivaldis Oper, die auf Ariosts Epos „Orlando furioso“ basiert, auf grandiose Weise inszeniert. Für die Bühne (Carl F. Oberle) genügen ihr ein paar zeltartige Häuschen, die, vom Schnürboden herabgelassen, Menschen ein-, Bäumchen enthüllen - und umgekehrt. Aus den drei Fassungen, die von Vivaldis Oper überliefert sind, hat Gilmore eine eigene zusammengestrafft, in der sich alles auf Alcina sowie sechs von ihrem Zauber gebannte Personen konzentriert. Zu erleben ist das in einer so exakt choreografierten, von ständiger Motorik geprägten Personenführung, wie man sie etwa aus Gilmores Frankfurter Inszenierung von Monteverdis „Krönung der Poppea“ kennt.

Auch wenn man bald nicht mehr genau weiß, wer wen begehrt oder verschmäht: Bei den herausragenden Sänger-Darstellern sitzt jede Geste, jede Bewegung, und so wird Vivaldis Oper zu einem hoch lebendigen Ereignis. An erster Stelle ist Countertenor Arno Raunig zu nennen, der sich mit einem furiosen Schuhplattler freut, als ihn seine eigene Verlobte Bradamante (präsent und wendig: Katrin Gerstenberger) dank magischer Hilfe aus den Liebesklauen Alcinas befreit.

Die männliche Schwäche verkörpert Andreas Wagners Tenor (Medoro) glaubhaft, als Titelheld Orlando führt sich Hans Christoph Begemann mit etwas holprigen Koloraturen ein, gefällt dann aber durch seinen klangschönen Bariton. Seine unerwiderte Liebe, in diesem Fall zu Angelica (jugendlich: Lauren Francis), treibt ihn in den Wahn - will in diesem Fall sagen: er wechselt plötzlich vom Italienischen ins Französische. Zum Schluss stehen er und die anderen Opfer nach Alcinas Liebeshändeln ernüchtert an der Rampe, erschöpft auch von der fordernden Regie. Diese wird mit zahlreichen „Bravo“-Rufen gewürdigt, ebenso das in kleiner Streicherbesetzung plus Flöte feinfühlig aufspielende, von Raoul Grüneis souverän geleitete Orchester.

 

Frankfurter Rundschau
14. Mai 2001

Helden in Alcinas Duftfalle
Antonio Vivaldis Oper "Orlando", für das Staatstheater Darmstadt von Rosamund Gilmore kurzweilig inszeniert

Von Bernhard Uske

Es ist ein rares Vergnügen, Antonio Vivaldi nicht mit einem seiner zahllosen Concerti Grossi zu erleben, sondern als Opernkomponisten: wer kann schon von sich sagen, den Paganini des Barock je in der Oper gehört zu haben?

Darmstadt macht's möglich, wo im Großen Haus des Staatstheaters eine 1714 entstandene Vivaldi-Veroperung des Orlando furioso von Ludovico Ariosto neu in Szene ging. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war das ein höchst bekanntes Epos um allerlei Verwirrung zwischen hohen Paaren und Passanten im Liebeszaubergarten der nymphomanen Alcina. Aber dazu zwei Stunden lang ohne Pause all die venezianischen Skalenläufe, Dreiklangsbrechungen, Staccato-Ketten, Arpeggien und Doppelgriffe?

Tatsächlich ist es die reinste Wiederhörensfreude, als sich der Vorhang hebt und die Vier-Jahreszeiten-Melodie ertönt. Kann man also Igor Strawinskys böses Wort, Vivaldi habe in seinem Leben ein einziges Concerto geschrieben und das mehr als 600 Mal, auch auf seine gut zwanzig Opern, die auf uns gekommen sind, übertragen: Vivaldi habe seine Jahreszeiten zwei Dutzend Mal mit Gesangsstimmen ausgestattet?

Selbst wenn es so wäre, dann hätte man die Jahreszeiten so noch nicht gehört, denn vom ersten Ton an ist in Darmstadt sonnenklar: so subtil, so feingesponnen, so minutiös hingetupft, so körnig und punktgenau wie unter der Leitung des 1. Darmstädter Kapellmeisters Raoul Grün-eis bekommt man diese Musik fast nie geboten.

Tatsächlich stellt sich das Jahreszeiten-Gefühl im Lauf des Abends nicht mehr als drei oder vier Mal ein, denn was für den Vivaldi der Kammersonaten, der Psalmvertonungen oder des Stabat Mater gilt, das bestätigt sich auch hier: Verlässt man die musikbetrieblichen Trampelpfade der wenigen immer wieder und einzig und allein gespielten Werke, ist man bei dem riesenhaften Oeuvre oft auf Entdeckerfahrt.

Die wird in Darmstadt nicht nur durch die phantastische musikalische Realisierung (es spielt das Orchester des Staatstheaters) kurzweilig, sondern auch dadurch, dass von Dramaturgin Helga Utz, Regisseurin Rosamund Gilmore und Dirigent Grüneis das über drei Stunden währende Opus auf gut die Hälfte gekürzt wurde. Entstanden ist eine Abfolge von Personentableaus, die vor allem durch den Bühnenraum zusammengehalten wird. Der stellt Alcinas Zauberreich dar - eine Art erotische Duftfalle, in die die antiken Helden (zwischen Tropenforscher und Landser angesiedelt) gehen, um ihrer Eroberungsattribute durch die Dame des Hains entledigt zu werden.

Schöne Interaktionen sind da zu genießen, wenn etwa die weibliche Hand an Schulterhalfter und Schusswaffe dergestalt nestelt, als würde dem Objekt der Begierde der Büstenhalter geöffnet. Anschließend sind die Herren in lange Gärtner- und Kellnerschürzen gekleidet und halten statt Schwertern zwar nicht Pflugscharen, doch wenigstens Heckenscheren in den Händen. Am NVA-Helm lacht die pazifistische Margeritenblüte, wie überhaupt der zauberische Kontakthof passend zum hier statthabenden Bäumchen-wechsle-dich-Spiel den Charakter einer Pflanzschule hat.

Die Damen sind, ganz dem zeitgenössischen Geschlechterknigge gemäß, die Tapferen, Mutigen, Patenten und tragen praktikable Hosenanzüge, in denen sich, ähnlich wie im locker sitzenden Forscher- und Kämpferdress der Männer, gut tanzen lässt.

Und getanzt wird viel, denn Rosamund Gilmore hat die Bewegungszüge der Musik Vivaldis weniger in Gesten und Mimik als in Tanzbewegungen umgesetzt. Nach zwei Stunden Tanz auf dem Vivaldi konnte man sich gut vorstellen, dass der eine oder andere Turnverein bald neben seiner Jazz- auch eine Vivaldi-Gymnastik anbietet. Das aktuelle Trimmschuhwerk, das man auf der Bühne trug (präzise Ausstattung: C. F. Oberle), schien da ein deutlicher Hinweis.

Sänger sind zwar keine Balletttänzer, doch die Verlegenheit beim Inszenieren von Barock-Arien, wo der halbe Fundus samt Statisterie vorüber rollt, dieweil der Gesang nicht enden will, tauchte kein einziges Mal auf. Das bisschen Psycho-Theater, als Alcina, bevor sie zu den Furien fährt, aus ihrem Phalli-Faible in veritable Fallsucht verfällt, war durchaus thematisch motiviert und blieb im Bereich des Dezenten.

In der Sänger-Riege kein einziger Ausfall und bei den Damen, Susanne Reinhard (Alcina), Lauren Francis (Angelica) und Kathärin Gerstenberger (Bradamante), regelrecht große Momente bei schön tragendem, nicht zu üppig ausgelebtem Stimmformat. Bestechend auch der kontratenorige Ruggiero von Arno Raunig. Das Darmstädter Publikum zeigte sich trotz vehementen Reizhustens begeistert und feierte auch die Inszenierungs-Leitung ausgiebig.

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2002
Dokument erstellt am 13.05.2002 um 21:10:15 Uhr
Erscheinungsdatum 14.05.2002

 

Offenbach Post
14. Mai 2002

Lustvoll magische Barockoper

von AXEL ZIBULSKI

Da müssen manchem Alt-Achtundsechziger die Augen leuchten: Lust und freie Liebe herrschen auf Alcinas Insel. Jeder Mann, der aus ihrer Quelle trinkt, vergisst seine frühere Liebe, verfällt dem reizvollen Matriarchat. Und findet sich bald in einen Stein oder ein Lorbeerbäumchen verwandelt. Denn bei Alcina hat Mann schnell ausgedient, ihr Motto vielleicht: Wer zweimal mit demselben pennt ... Doch nein, wir befinden uns nicht zwischen muffigem Kommunen-Mobiliar, sondern in einer ordentlichen Barockoper.

In Antonio Vivaldis "Orlando", jetzt auf dem Spielplan des Staatstheaters Darmstadt, kommen auch Alcina irgendwann Bedenken, ob sie wohl den wahren Weg zum Glück gefunden hat. Und das ist gut so, denn die Arie, in der diese Zweifel an ihr nagen, singt Susanne Reinhard mit solch kultiviertem Piano, so ergreifenden Zwischentönen, dass man ihre Alcina am Schluss des zweistündigen Abends fast ein wenig bedauern möchte: Da versinkt sie, von der aufbegehrenden Manneswelt in ihrer Macht gebrochen, nach zwei pausenlosen Stunden in Rauch und Bühnenboden. Rosamund Gilmore hat Vivaldis Oper, die auf Ariosts Epos "Orlando furioso" basiert, grandios inszeniert.

Für die Bühne (Carl Friedrich Oberle) genügen ihr ein paar zeltartige Häuschen, die, vom Schnürboden herabgelassen, Menschen ein- sowie Bäumchen enthüllen - und umgekehrt. Aus den drei Fassungen, die von Vivaldis Oper überliefert sind, hat Gilmore eine eigene zusammengestrafft, in der sich alles auf Alcina und sechs von ihrem Zauber gebannte Personen konzentriert. Zu erleben ist das in einer so exakt choreografierten, von ständiger Motorik geprägten Personenführung, wie man sie etwa aus Gilmores Frankfurter Inszenierung von Monteverdis "Krönung der Poppea" kennt. Bei den herausragenden Sänger-Darstellern sitzt jede Geste, jede Bewegung, und so wird Vivaldis Oper zu einem hoch lebendigen Ereignis.

An erster Stelle ist Countertenor Arno Raunig zu nennen, der sich mit einem wilden Schuhplattler bedankt, als ihn seine Verlobte Bradamante (sehr wendig: Katrin Gerstenberger) aus den Liebesklauen Alcinas befreit. Die männliche Schwäche verkörpert Andreas Wagners Tenor (Medoro) glaubhaft, als Titelheld Orlando führt sich Hans Christoph Begemann mit etwas holprigen Koloraturen ein, gefällt dann aber durch seinen klangschönen Bariton. Seine unerwiderte Liebe treibt ihn in den Wahn - will in diesem Fall sagen: Er wechselt plötzlich vom Italienischen ins Französische. Zum Schluss stehen er und die anderen Opfer nach Alcinas Liebeshändeln ernüchtert an der Rampe, erschöpft auch von der fordernden Regie. Diese wird mit zahlreichen "Bravo"-Rufen gewürdigt, ebenso das in kleiner Streicherbesetzung plus Flöte feinfühlig aufspielende, von Raoul Grüneis souverän geleitete Orchester.

 

Frankfurter Neue Presse
15. Mai 2002

Die Vivaldi-Oper „Orlando“ hatte am Darmstädter Staatstheater Premiere.
Flottes Verwirrspiel der Liebe

Die einschlägigen Opernführer gehen im Komponisten-Alphabet meist von Verdi direkt zu Wagner über. Antonio Vivaldi und das Opernschaffen, dies ist wie vieles im Leben des italienischen Barockmeisters ein Buch mit sieben Siegeln. Dem Darmstädter Staatstheater gelang es nun in einer vergnüglichen Inszenierung der zwischen 1714 und 1727 entstandenen Oper „Orlando“, wenigstens eines dieser Siegel zu lösen.

Die Opernhandlung ist banal und kompliziert zugleich: Orlando liebt Angelica, Angelica liebt Medoro, Alcina liebt schließlich Ruggiero, Ruggiero aber Bradamante. Noch Fragen? Man sollte sich während der Inszenierung von Rosamunde Gilmore gar nicht erst zu weit in diesen Dschungel der Beziehungen hineinwagen. Sonst läuft man vielleicht noch Gefahr, einige der drolligen Regieeinfälle Gilmores zu verpassen. Zunächst einmal halten sich die Hauptakteure auf der von der Liebeszauberin Alcina beherrschten Insel hinter weißen Schleiern verborgen. Dann aber treten sie der Reihe nach auf: Ruggiero, Astolfo, schließlich der aus dem Orchestergraben emporsteigende Schiffbrüchige Medoro. Besonders die einem Synchrontanz nachempfundenen Bewegungsabläufe der Darsteller rufen immer wieder Heiterkeit im Publikum hervor. Und der Schuhplattler-Auftritt des liebestollen Ruggiero natürlich ebenfalls.

Das sind die passenden ironischen Ergänzungen zur bezwingenden Musik Vivaldis, in der man viele Orchesterkompositionen wiederzuerkennen glaubt. Hier ein paar Takte „Jahreszeiten“, dort ein Spritzer aus einem Flötenkonzert. Bereits in der ersten Szene wird der Zuhörer mittels einer bezaubernden Flöten-Kantilene in die Geheimnisse der Musik Vivaldis eingeweiht. Das Orchester des Staatstheaters bot eine überzeugende Leistung. Dirigent Raoul Grüneis konnte sich auf ein ausgewogenes und gut harmonierendes Ensemble verlassen. Unter den Solisten fielen besonders Hans Christoph Begemann in der Titelrolle, sowie die in hübschen Koloraturen singende Lauren Francis (Angelica) auf. Aber auch Susanne Reinhard (Alcina) und Katrin Gerstenberger (Bradamante) zeigten ein gutes stimmliches Potenzial und ließen die Aufführung zu einem Erfolg werden. (Ge)

 

egotrip.de
Mai 2002

Ironischer Tanz um die Liebe Vivaldis Oper "Orlando" in Darmstadt

Bereits Homers "Odyssee" berichtet von der Zau- berin Circe, die allen Männern den Kopf verdrehte und sie dann in Schweine verwandelte. Diese Urangst aller Männer hat sich in späteren Mythen forgesetzt, nur, dass die Angst einflößende Frau dort Alcina heißt und erst einmal die Liebe der Männer genießt, bevor sie sie in Bäume und andere Gegenstände der Natur verwandelt. Nachdem vor einigen Jahren Friedrich Meyer-Oertel in Darmstadt Händels Opernfassung dieses Stoffes, "Alcina" , inszeniert hatte, hat sich jetzt Rosamund Gilmore unter Assistenz von Konzertmeister Raoul Grüneis der Variante von Antonio Vivaldi angenommen, die nur zwei Jahrzehnte vor dem Händelschen Werk entstanden ist.

Alcina hat Ruggiero mit einem Zaubertrank in Liebe zu ihr entbrennen und seine Geliebte Bradamante vergessen lassen, die ohnmächtig dem Untreuen zusetzt. Zur gleichen Zeit muss sich Angelica der heftigen Liebesschwüre des Draufgängers Orlando erwehren, während sie noch um den in Seenot geratenen Geliebten Medoro zittert. Als sie ihn wieder in ihre Arme schließen darf, beschließt sie, Orlando durch einen gefährlichen Auftrag loszuwer- den. Bradamante gewinnt Ruggieros Gedächtnis und Liebe über den Verlobungsring zurück, und der von der gefährlichen Reise unvermutet heil zurück- gekehrte Orlando muss erkennen, dass Angelica und Medoro ein Paar sind, worüber er verrückt wird. In seiner rasenden Wut raubt er die geheimnisvolle Statue der Alcina und nimmt ihr damit ihre Zauber- kraft. Am Ende fährt Alcina, Verwünschungen aus- stoßend, zu den Furien in die Tiefe, während Orlando, nun von der Liebeswut befreit, in heiterem Wahnsinn dem weiteren Treiben der Liebe zuschaut, das sich in den beiden glücklichen Paaren zu manifestieren scheint. Fazit: nur wer frei von Liebe lebt, lebt wirklich frei.

Susanne Reinhard als Alcina und Werner Volker Meyer als Astolfo

Man sieht, dieses Libretto bietet keine großen dramatischen Konflikte, die sich auf der Bühne abhandeln ließen. Der Rückgriff auf die Zauberin verweist auf das Irrationale, dem der Mensch mehr oder minder hilflos ausgeliefert ist. Man darf davon ausgehen, dass diese Oper zur Entstehungszeit eher zur Unterhaltung gespielt wurde und die Aufführungen im Großen und Ganzen aus der Präsentation der einzelnen Arien bestanden. Eine frontale Darbietung aneinander gereihter Arien kann man heute jedoch keinem Opern- publikum mehr zumuten, und so hatte sich Rosamund Gilmore Einiges einfallen lassen, um diesem Werk neues Leben einzuhauchen.

Erst einmal wurde das Orchester in die Hand- lung "rückintegriert", das heißt, der Orchester- graben wurde auf nahezu Bühnenhöhe ange- hoben, so dass die Musiker des sparsam besetzten Orchesters mit den Darstellern auf der Bühne eine Einheit bildeten. Da die Hand- lung auf der Bühne keinen Ausschließlich- keitsanspruch stellt und auch keine beson- ders hohe Aufmerksamkeit des Publikums verlangt, kann das Orchester auch keine ablenkende Wirkung ausüben. Durch die optische Einbeziehung ins Geschehen erhält die Aufführung dagegen in gewisser Weise einen "familiären" Charakter, so wie bei einer halb privaten Aufführung "bei Hofe".

Die Szenen auf der Bühne hat Rosamund Gilmore mit einer allgegenwärtigen, humor- vollen Ironie unterlegt. Alcina kommt hier nicht als bäsartige Zauberin daher, die sich willfäh- rige Liebssklaven schafft, sondern sie umgarnt die Männer leicht und frivol, rückt ihnen auf den Pelz und beraubt sie ihrer männlichen Attribute, will sagen ihrer Waffen. Sowohl Medoro als auch Orlando kommen als kriege- rische Helden mit Degen und Schulterholster - es lebe der Anachronismus! - auf die Bühne und enden waffenlos, in eine Gärtnerschürze gewandet. Astolfo, der so vertrottelte wie in Alcina verliebte Vetter Orlandos, trägt als Einziger zu einer mehr als biederen Gärtner- tracht während des ganzen Stücks einen Stahlhelm - als ironischen Verweis auf die Lächerlichkeit des Kriegerischen. Er versorgt brav all die Topfpflanzen auf der Bühne, Alcinas einstige Liebhaber.

Die Männer kommen wieder einmal nicht gut weg: Alfosto zählt nicht, Orlando ist ein so ungestümer wie blindwütiger und ahnungs- loser Draufgänger, der sich blindlings in jedes Abenteuer stürzt und nur durch Glück über- lebt, Medoro ein eher hilfloser Liebhaber, der mit der Konkurrenz Orlandos nicht fertig wird und sich ganz auf die Planungen seiner Braut Angelica verlässt. Ruggiero ist ein leicht zu verführendes Opfer, das sich kindisch über seine Rettung vom Zauber freut. Die Frauen dagegen lenken das Spiel, Alcina als allen anderen Frauen gefährliche Verführerin, Bradamante als resolute Geliebte, die ihren Ruggiero in ihrem Zorn verbal und tätlich für seine Untreue abstraft, und Angelica, die schlaue Pläne schmiedet, um Orlando loszu- werden.

Mag sein, dass sich in dieser Darstellung schon damals die Auffassung niederschlug, die Männer seien in der Auseinandersetzung der Geschlechter die Unterlegenen, da sie den geschickten Schachzügen der Frauen nicht gewachsen seien. An dieser Ansicht hätte sich dann jedenfalls bis heute wenig geändert.

Neben der humoristisch-ironischen Anlage der Per- sonen hat Gilmore auch die szenische Darstellung phantasievoll aufgelockert. Nahezu jede Szene wird tänzerisch dargestellt oder zumindest untermalt, so wenn Alcina anfangs Ruggiero umgarnt oder wenn Bradamante den selben Ruggiero straft, wenn Orlando um Angelica buhlt oder später Ruggiero und Bradamante wieder zusammen führt. Diese Tänze sind jedoch weniger ballettös sondern erin- nern eher an Breakdance oder leicht verballhornte Menuette. Fast möchte man dazu die üblichen Tanzanweisung "vor-vor-Seitschritt-an" zitieren. Die Anlehnung an eher einfache Tanzformen der Gegenwart verstärkt den ironischen Effekt, ohne dabei satirisch oder gar karikierend zu wirken. Die scheinbare Diskrepanz zwischen Thema und Tanz wirkt einfach witzig und erntete bei der Premiere auch entsprechend viele Lacher.

Susanne Heubach als Statue und Hand-Christoph Begemann als Orlando

Kostüme und Bühnenbild unterstützen diese Wir- kung durch viel Farbentfaltung und -symbolik. Alcina erscheint in einem zeitlosen lila Gewand, und bei ihren großen Auftritten färbt sich die Büh- nenwand in der gleichen Farbe ein. Bradamente kommt in Hoffnungsgrün, währende Angelica in Liebe signalisierendes Rot gekleidet ist. Und immer gleicht sich die Bühnenbeleuchtung dieser Farbe an. Ebenso bei den Männern, wenn der heroisch sich gebärdende Medoro in strahlendes Heldengelb getaucht ist. Auch diese Farbwirkung trägt deutlich ironische Züge und übt dabei eine starke optische Wirkung aus.

Die Darsteller identifizieren sich offensichtlich vollständig mit dieser Inszenierung, sind sie doch mit wahrer Begeisterung bei der Sache. Susanne Reinhard spielt eine erotisch-frivole, durchaus nicht unsympathische Alcina, die zum Schluss sogar Mitleid ob ihres Macht- und Liebesver- lusts weckt. Auch stimmlich überzeugt sie sowohl in den furiosen wie in den lyrischen Szenen. Lauren Francis als Angelica beein- druckt vor allem durch ihre lyrischen Interpre- tationen und Katrin Gerstenberger spielt eine kraftvolle und selbstbewusste Bradamante, die sich nicht so leicht den Mann wegnehmen lässt.

Bei den Männerrollen hat Hans Christoph Begemann mit dem Orlando eine Paraderolle zu bewältigen, was er mit offensichtlicher Lust tut. Vom großsspurigen Aufschneider über den rasenden Betrogenen bis zum still ver- gnügten Wahnsinnigen spielte er jede Rolle mit Verve und vollem Einsatz. Stimmlich brillierte er trotz einiger Versuche im Bass vor allem in seinem gewohnten Bariton. Arno Raunig legte als Ruggiero eine fehlerlose Countertenor-Partie hin und überraschte die Zuschauer nach der Errettung durch Bradamante noch mit einem Fußbad und einem waschechten Schuhplattler. Da mögen einige Barockpuristen durchaus schockiert gewesen sein, den meisten jedoch hat´s gefallen. Auch Andreas Wagner entdeckte diesmal als Medoro sein komödiantisches Talent und karikierte das falsche Heldentum der Männer mit viel Witz und Ironie und kam auch stimmlich gut zur Geltung. Werner Volker Meyer entlockte dem Pubikum mit seiner Version des trottligen Astolfo so man- chen Lacher und brachte auch die traurige Verliebtheit dieses armen Kerls gut zum Aus- druck.

Bleibt noch zu erwähnen, dass einige kleinere Pannen die Premiere anreicherten, so wenn sich der Vorhang beim langsamen Vorspiel des Orchesters mit Geklapper hebt, wenn mitten in der Szene ein Blumenkübel umfällt, wenn Alcina es erst im dritten Versuch schafft, Orlandos Schürze zu schließen oder zwischendurch ihre Schnürsenkel binden muss. Doch das sind eher Kleinigkeiten, die man fast als inzenierte Apercus werten könnte, die dem Ganzen das i-Tüpfelchen der Ironie aufsetzen sollen.

Das Publikum dankte allen Beteiligten mit geradezu begeistertem Beifall für diese gelungene und sehr kurzweilige - weil auch kürzere - Aufführung.