Ausgabe 05/2002

Frankfurt am Main
Das verratene Meer

von L.-E. GERTH


Claudio Otelli (Ryuji), Pia-Marie Nilsson (Fusako), Peter Marsh (Noboru)
in »Das verratene Meer«

Die Werke Hans Werner Henzes erfreuen sich in Frankfurt besonderer Beliebtheit. Dies zeigte sich im vergangenen September, als die Auftakt-Reihe der Alten Oper dem nunmehr 75-jährigen Komponisten gewidmet war und zahlreiche seiner Sinfonien im Konzertsaal aufgeführt wurden. Aber auch zwei seiner Opern konnten die Musikfreunde in den vergangenen Monaten in der Mainmetropole erleben. Neben der Wiederaufnahme des 1952 entstandenen »Boulevard Solitude« ging nun eine Neuproduktion des vor zwölf Jahren uraufgeführten Dramas »Das verratene Meer« in Szene. Regie führte in beiden Fällen Nicolas Brieger, der sich mit schlüssigen Inszenierungen von Opern des 20. Jahrhunderts - unter anderem Wolfgang Rihms »Die Eroberung von Mexico« und Paul Hindemiths »Cardillac« - einen Namen gemacht hat. Und auch diese Produktion kann ohne Einschränkungen als ein gelungener Wurf bezeichnet werden. Brieger lieferte zusammen mit seinem Bühnenbildner Hans Dieter Schaal und Margit Koppendorfer, die für die Kostüme verantwortlich zeichnete, eine spannende szenische Dramaturgie, die sich mit dem homogenen Sängerensemble und dem blendend einstudierten und aufspielenden Museumsorchester zu einem Opernabend verband, der eindrücklich zeigte, dass modernes Musiktheater nicht nur abstrakt und schwer greifbar sein muss.

Die Musikalische Handlung in 14 Szenen fußt auf dem Roman „Der Seemann, der die See verriet" (Gogo No Eiko) des japanischen Schriftstellers Yukio Mishima. Im Mittelpunkt der zweiteiligen Oper steht ein Dreiecksverhältnis zwischen der jungen Witwe Fusako, ihrem 13-jährigen Sohn Noboru und Ryuji, dem Zweiten Offizier eines Frachtschiffs, der nach vielen Jahren auf See nun eigentlich sesshaft werden möchte, jedoch noch immer von der Weite des Meeres angezogen wird.

Das Meer spielt dann auch in der musikalischen Anlage Henzes, aber auch in den Bühnenbildern (unter anderem eine riesige wellenförmige Wand) und Visualisierungen (Hans Peter Böffgen betreute die Videoprojektionen) der Inszenierung eine wichtige Rolle. Die Sehnsucht nach der Freiheit und die Flucht aus den Zwängen der Stadt haben Ryuji Seemann werden lassen. Und der junge Noboru ist von einem ähnlichen Drang beseelt und dementsprechend zunächst begeistert davon, dass seine von ihm so geliebte Mutter (Brieger setzt auch den Oedipus-Komplex durch kluge Personenführung in Szene) und Ryuji sich voneinander angezogen fühlen.

Umso größer ist dann die Enttäuschung, als der Seemann seinen Beruf aufgibt, um Verkäufer in der Boutique Fusakos zu werden. Damit hat Ryuji in den Augen Noborus und seiner Freunde das Meer verraten und eine Todsünde begangen, wofür es nur eine Lösung gibt: Ryuji von seinem „erbärmlichen Leben zu erlösen", ihn zu töten.

Die Jungenbande ist sowohl in Yuko Mishimas Romanvorlage als auch in dem Textbuch von Hans-Ulrich Treichel bar jeden Unrechtsbewusstseins. Die Dramaturgin der Frankfurter Produktion, Jutta Georg, betonte in ihrem Einführungsvortrag, dass man gerade das Verhalten der fünf Jungen nicht vor der „Folie unserer christlich-moralischen Weltanschauung" sehen dürfe. Hier gehe es um Ehrenkodexe, Stolz und Männlichkeit, die im japanischen Verständnis eine ganz andere Bedeutung haben als in der westeuropäischen Welt. Yukio Mishima verkörperte dieses Verständnis übrigens selbst und ging schließlich bis zum Äußersten. Er sah Geschichte, Kultur und die Tradition des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg durch Japans Annäherung an die USA gefährdet, protestierte dagegen öffentlich und beging, nachdem er mit Gesinnungsgenossen eine Kaserne in seine Gewalt gebracht hatte, rituellen Selbstmord.

Henze und Treichel haben den politischen Aspekt, der im Roman evident ist, in ihrer Oper außen vorgelassen. Die Musik beinhaltet auch bewusst keine japanischen Anklänge und Folklorismen. Dementsprechend hat auch die Regie auf jede asiatische Andeutung verzichtet. Allein die weißen Bänder, die die Mitglieder der Jungenbande um die Stirn tragen, lassen auf einen japanischen Kampfbund hindeuten. Ansonsten könnte die Handlung genauso gut in einer Hafenstadt in den USA oder auch in Deutschland spielen.

Die Protagonisten boten durchweg ansprechende Leistungen. Allen voran muss hier der junge amerikanische Tenor Peter Marsh genannt werden, der den Noboru mit großer Intensität spielte und auch vokal ausgesprochen präsent war. Bereits bei diversen kleineren Rollen stellte er in Frankfurt unter Beweis, über welches Potenzial er verfügt. Die Stimme war stets gut geführt, sicher auch in den großen Ausbrüchen und vom Timbre her passend, um einen 13-jährigen Jungen glaubhaft darzustellen.

Pia-Marie Nilsson überzeugte als Fusako mit schön auf dem Atem liegender Stimme, sicherer Höhe und ausdrucksvollem Spiel. Die Liebe Fusakos zu ihrem Sohn machte die Künstlerin durch warme und umschmeichelnde vokale Linienführung deutlich.

Der Zwiespalt, in dem sich Ryuji befindet, griff Claudio Otelli in seiner Rollengestaltung auf. Im großen Finale, bevor er von der Jungenbande ermordet wird, offenbart der Seemann, dass er die Leidenschaft zur See noch in sich trägt. Stimmlich machte Otelli dies durch eine warm strömende Phrasierung deutlich. Leider wurde die Leistung des Baritons auch diesmal wieder durch manche Unsauberkeit in der Intonation und durch zu sehr unter Hochdruck gebildete Töne beeinträchtigt.

Aus dem Quartett der Jungenbande ragte Johannes Martin Kränzle als markante „Nummer eins" heraus. Die Gefährlichkeit des Anführers verstärkte er durch scharf konturierte Artikulation und vokale Durchschlagskraft. Bernhard Landauer, Matjaz Robavs und István Kovács gaben den drei weiteren Bandenmitgliedern vokal und darstellerisch klare, sprich abgründige Konturen.

Henzes mitunter sogar eingängige Musik war bei Bernhard Kontarsky in guten Händen. Das Schwelgerische in der Partitur, aber auch die harten Gegensätze wurden treffend herausgearbeitet. Das Museumsorchester spielte ausgesprochen konzentriert und zeigte nachdrücklich, dass es mit der Musik Henzes vertraut ist. Abschnittsweise hätte die Lautstärke vielleicht etwas gedrosselt werden müssen, denn die Textverständlichkeit litt doch ein wenig unter der musikalischen Dynamik. Insgesamt war es jedoch ein herausragender Opernabend, der vom Publikum mit einhelligem Applaus gefeiert wurde. Der Frankfurter Oper ist ein überzeugendes nachträgliches Geschenk zum 75. Geburtstag des Komponisten gelungen.

(Frankfurt, 9. März 2002)

 


11.03.2002

Henze will in seiner Oper vor allem "menschliche, seelische Zustände präzise bezeichnen". Diese Haltung, die der Komponist mit "Distanz und Einfühlung" umschreibt, kennzeichnet exakt Briegers Zugang, besonders eindringlich im zwiespältigen Charakterbild des dreizehnjährigen Noboru. Sein Zerrissensein zwischen verträumter Liebessehnsucht im erotischen, zugleich bürgerlich-konventionellen Dunstkreis seiner Mutter Fusako, in Männlichkeitswahn und übersteigertem Freiheitsdrang in seiner Bande bannt der Regisseur immer wieder in eindrückliche Bilder. So streichelt der Junge die Katze, ehe er sie totschleudert. Und in der elften Szene, in der Fusako dem Sohn ihre Pläne einer Heirat mit dem Seemann Ryuji mitteilt, biegt der Junge Drahtkleiderbügel zu Schiffen - Noboru versucht ein letztes Mal, traute bürgerliche Geborgenheit und die lebenssteigernde Entgrenzung im Elementaren, für die das Meer steht, zusammen zu sehen. (...)

Das Meer ist Leitmetapher auch in Hans Dieter Schaals Bühnenbild: Wie in Hokusais Holzschnitt erstarrt eine bühnenfüllende Welle vornüberkippend. Sie ist Projektionsfläche für Meergeflimmer und den Flug von Möwen, raubvogelhaft sich vergrößernd, je mehr die Todesfalle zuschnappt. Sie ist Rückwand für den Park mit seinem Fisch-Brunnen, Bild für die gezähmte Wasser-Natur, und für Fusakos biederes Heim. Rückseitig dräuen auf der Drehbühne lebensfeindliche Stadt- und Industriearchitektur und das Schiff, Mittler zwischen Meer und Maschine, Häuslichkeit und elementarer Entgrenzung. Die Schachtelung der Spielorte, in denen sich Naturgewalt und technisches Kalkül ineinander verkrallen, erinnert an Schaals Drehbühnen-Installation für Henzes "Boulevard Solitude". (...)

Auch Henzes Musik ist meerbesessen. Sie funkelt und sprüht, dehnt sich klangflächig, brandet und tobt, aber auch im Aufruhr verhängnisvoller Triebe und Elemente. Henze hat die Entgrenzung, die Flut in und rings um die Personen mitkomponiert, hat dabei die Schwerverständlichkeit der Texte in Kauf genommen. (...)

ELLEN KOHLHAAS

 

11.3.2002

Hans Werner Henzes Musikdrama "Das verratene Meer"
hatte an der Frankfurter Oper eine bildkräftige Premiere.
Im Bermuda-Dreieck der Triebe

Von Michael Dellith

Eine gewaltige, in Beton erstarrte Wellenwand schiebt sich auf die Bühne. Videobilder einer aufgebrachten See werden darauf projiziert. Erregt braust die Musik auf. Wie von Geisterhand fahren ein Boudoir, Bett und Schrank aufs Podium. Die attraktive Witwe Fusako bringt ihren 13-jährigen Sohn Noboru zu Bett, geht anschließend in ihr Zimmer und zieht sich aus. Noboru beobachtet seine Mutter beim Auskleiden - und begehrt sie in ihrer Blöße und Schönheit, ergeht sich in erotischen Träumen: der Ödipus-Komplex.

Nicolas Brieger (Regie) und Hans Dieter Schaal mit seinem genialen, sich stets wandelnden Bühnenbild machen in ihrer Inszenierung gleich zu Beginn unmissverständlich klar, worum es in Henzes Musikdrama geht: Sie zeigen "Das verratene Meer" mit dem Libretto von Hans-Ulrich Treichel nach einer Roman-Vorlage Yukio Mishimas nicht etwa als japanische Version der "West Side Story", sondern als fesselndes Psychogramm eines Pubertierenden, der, schwankend zwischen kindhaft-naiver Unschuld und utopischen Männlichkeitsfantasien, zusammen mit seiner Jugendbande den von ihm zunächst bewunderten Liebhaber seiner Mutter, den Schiffsoffizier Ryuji, in einem Ritualmord tötet, als dieser das Meer verrät, weil er das in den Augen der Jugendlichen "heroische" Seefahrerdasein gegen ein trautes Heim und den "spießigen" Beruf eines Verkäufers eintauscht.

Henzes 1990 in Berlin uraufgeführtes, kurz darauf auch in Wiesbaden gezeigtes Stück verweist aber nicht nur auf die Problematik des Generationenkonflikts, sondern - ganz allgemein - auch auf die Beziehung des Menschen zur Natur. Das Meer dient Henze als Metapher. Einerseits steht es für die Freiheit und Ungebundenheit, nach der sich der zivilisierte Mensch sehnt, andererseits symbolisiert das Meer in seinem unaufhörlichen Wellengang auch, wie sehr der Mensch in seiner Triebhaftigkeit gefangen ist. Und so vollzieht sich das Drama in Henzes Oper gleichsam in einem Bermuda-Dreieck aus Liebesgefühlen, überkommener Heldenideologie und kollektiven pubertären Gewaltfantasien.

Der Henze-erfahrene Bernhard Kontarsky am Dirigentenpult des intensiv musizierenden Frankfurter Museumsorchesters trieb die vielschichtige, die psychologischen Vorgänge widerspiegelnde Partitur stringent voran und betonte dabei die maschinenhafte Motorik mehr als die Farbwirkung der changierenden Klangflächen, so dass die Musik stets sehr präsent war, über weite Strecken sogar auf Kosten der Textverständlichkeit den Gesang dominierte. Dabei waren die Partien mit Pia-Marie Nilsson (Mutter), Claudio Otelli (Seemann) und vor allem mit Peter Marsh als stimmlich wie darstellerisch überzeugenden Jungen tadellos besetzt. Auch die Jugendgang mit Johannes Martin Kränzle als Anführer, Bernhard Landauer, Matjaz Robavs und István Kovács demonstrierte in den heiklen A-cappella-Passagen Souveränität.

Am Ende gab's einhelligen Beifall für Sänger, Orchester und das Regie-Team.

 


11.3.2002

Zwei Wanderer und ihre Schatten
Oper und Gewalt: Giorgio Battistelli im Nationaltheater Mannheim,
Hans Werner Henze in der Oper Frankfurt

Von Hans-Klaus Jungheinrich

Faschismus als Horror-Show und Groß-Event im Nationaltheater Mannheim bei Giorgio Battistellis Ernst-Jünger-Vertonung Auf den Marmorklippen (Uraufführung). Faschismus als subtil durchädertes Psychogramm bei Hans Werner Henzes eher kammerspielhafter Oper Das verratene Meer in Frankfurt. Der Zufall zweier Wochenendpremieren bescherte die kontrastive Nähe zweier Musiktheaterstücke in Auseinandersetzung mit leidigster Erbschaft des 20. Jahrhunderts.

Auch biographisch berührten sich die Wege beider Komponisten; Battistelli (Jahrgang 1953) hatte einen prominenten Operntermin (Teorema nach Pasolinis Film) bei Henzes Münchner Biennale 1992, und von 1993 bis 96 war der Jüngere Leiter des von Henze gegründeten Cantiere im toscanischen Montepulciano. Das Marmorklippen-Projekt besprach er mit Ernst Jünger offenbar bereits 1986, ließ sich mit der Realisierung aber viel Zeit. Jüngers schmaler Roman, 1939 geschrieben und auch veröffentlicht, wurde wegen seiner Anspielungen auf den Nationalsozialismus zuweilen sogar als literarische Widerstandstat gewürdigt. Jüngers Hass auf Hitler (vielleicht eher Hassliebe) resultierte wohl auch aus seiner Bewunderung für den von den Nazis niederkonkurrierten Nationalisten Ernst Niekisch, den er auch in seinen Tagebüchern (wohl seiner bedeutendsten schriftstellerischen Lebensleistung) bis zum Ende immer wieder beruft. Hier spukt Hitler, der im Marmorklippentext als "Oberförster" figuriert, unter dem Decknamen "Knièbolo". Um kauzig-preziöse Namensgebungen war Jünger auch in den Marmorklippen nicht verlegen.

Sehr präzis gab Battistelli seiner Vertonung den Untertitel "szenische Visionen". Das Sujet enthält kaum dramatisches Potential, Einzelfiguren treten nur schwach hervor. Es geht um atmosphärische Veränderungen: Eine Naturidylle wird von den Umtrieben des Oberförsters und seiner Horden katastrophisch gestört und zersetzt und nach heftigen Kämpfen vernichtet. Eine Kernszene ist der Besuch des einsiedlerisch-beobachtenden Brüderpaares (!) in Köppelsbleek, einer Folter- und Hinrichtungsstätte. Der Wirklichkeit des Konzentrationslagers und seinen Opfern nähern sich diese Wanderer mit der Neugier von Käfersammlern (dies bekanntlich die andere Profession Ernst Jüngers).

Das musikdramaturgische Konzept verweist Battistelli auf einen im wesentlichen undramatisch-oratorischen, nichtnarrativen Stil. Die scheinbar moderne, der Opernkonvention absagende Annäherung wirkt in diesem Falle aber als untauglich, weil sie sich allzu genau mit Jüngers "atmosphärischer" Gewaltfaszination trifft. Der aufs neue zu den Marmorklippen wandernde Komponist wird vom mächtigen Schatten Jüngers überwältigt und aufgesogen. In zumeist chorisch-orgiastischen oder illuminierend orchestralen Klangtableaus verdoppelt und verklärt Battistelli die Jünger'schen Imaginationen. Musik, eine Aufquellung; kein Korrektiv. Es bleibt der Eindruck einer gut gemachten, aber geistig und künstlerisch nichts hinzu setzenden Bühnenmusik, die auch angesichts des äußersten Schreckens (Köppelsbleek) ihre mühelose Eloquenz niemals verliert.

Die optische Präsentation trumpfte mit dem Gleichen nochmals auf und lancierte die Sache endgültig damit ins ebenso naiv wie virtuos Spektakelnde. Lange vorbei offenbar die Zeiten, da der Katalane Carlos Padrissa mit seinem Straßentheater La Fura dels Baus in Barcelona innovativ Furore machte. Diese Phantasieproduktion ist inzwischen so trendy, dass sie fabrikmäßig hergestellt werden kann - Regisseur und Ausstatter Padrissa brauchte sich selbst bei den Mannheimer Proben nur ein paarmal sehen zu lassen. Das Ergebnis war von betäubender Turbulenz, ansehnlich nur im verblüffenden Sinne einer theatralischen Materialschlacht. An der musikalischen Arbeit der zahlreichen Gesangssolisten, des Chores, des von Adam Fischer vehement zusammengerafften diversifizierten Klangapparats, gab es nicht das geringste auszusetzen.

Auch Henze ist ein die Gefahr (und dort das Rettende?) suchender Wanderer ohne Rücksicht auf vorgegebene Linien von political correctness. Seine bisher vorletzte Oper mit dem poetisch-hintersinnigen Titel Das verratene Meer (Libretto: Hans-Ulrich Treichel) benutzt eine Long Short Story von Yukio Mishima, der sich den ausdrücklich politisch begründeten Sepukko- "Heldentod" zufügte. Faschistisch aktualisierte Samurai-Tugenden durchwittern auch das Dreiecksgefüge der Opernhandlung, in der ein Halbwüchsiger (mit einigen Gleichaltrigen) einen Seeoffizier a.D. liquidiert - nicht so sehr, weil dieser als Liebhaber seiner Mutter eine Symbiose stört, sondern vor allem als "Verräter" seiner seemännischen und militärischen Ehre, indem er eine banale Landratte und, besonders verwerflich, Kaufmann wird.

Zumindest in der Oper sind die Charaktere so ausbalanciert, dass sie weder zur Identifikation einladen noch als ganz "böse" erscheinen. An einer Stelle (die Jugendbande fängt und tötet eine Katze) wird Grausamkeit ganz unmittelbar und "unkonsumierbar" auf die Bühne gebracht, so dass der Rahmen theatralischer Darstellung gesprengt scheint (mit diesem Schock werden die Zuschauer in die Pause entlassen, eine ähnliche Markierung wie die "Schande"-Schmieraktion im Jungen Lord). Opernhafter ausgeführt dagegen das Schlussensemble mit den Jungen und ihrem Opfer, so etwas wie ein ritueller Trauergesang, der freilich schroff endet. Henzes Musik lotet in jedem Moment in psychologische Abgründe, lässt sich in ihrer Sprödheit und Verletzlichkeit niemals auf einen Pakt mit der Gewalt und ihrer angeblichen Schönheit ein, ist demnach nie in der Gefahr, vom Schatten Mishimas geschluckt zu werden.

Auch in Frankfurt gab es unter der Leitung Bernhard Kontarskys eine klar disponierte, zupackende und ausdifferenzierte Orchesterleistung. Nicht weniger überzeugend die Sängerdarsteller: Pia-Marie Nilsson als kapriziöse und in weiten Legatobögen traumwandlerisch intonierende Fusako (ihr großes arioses Adagio kurz vor Schluss rückt sie weit von "nuttenhafter" Charakteristik ab), Claudio Otelli als immer mehr ins Weiche und "Zivilisierte" driftender viriler Seemann Ryuji, der jugendliche Tenor Peter Marsh als pubertierender Noburo mit beklemmenden Zügen von Hilflosigkeit und Autoritätssehnsucht, daneben die Gruppe der jugendlichen Phantasten und Täter, scharf individualisiert mit Johannes Martin Kränzle, Bernhard Landauer, Matjaz Robavs und István Kovács.

Hart und ungemütlich die szenische Sphäre der Aufführung mit dem zentralen multifunktionalen Architekturteil Hans Dieter Schaals (Schiffsinneres, Rohbau, überkippende Beton-Riesenwelle) und Gucklöchern für den allgegenwärtigen Voyeurismus dieses Beziehungskäfigs, der, in Nicolas Briegers gekonnt spannungsvoller, auf Genauigkeit bedachter Personenregie schließlich (mit gewaltig herabgefahrenen Containern) zur tödlichen Falle wird.

Nationaltheater Mannheim: 10., 16., 22. März, 19. April, 2. und 23. Mai.
Oper Frankfurt: 15., 23., 30. März, 5., 7., 10. April.

 


13.03.2002

"Das verratene Meer" von Hans Werner Henze
Frankfurter Städtische Bühnen:
Der junge Mann und das Meer

von Susanne Benda

Wie viel Sehnsucht verbindet sich doch mit dem Meer - und wie viel Furcht. In der Kunst steht das Meer zeichenhaft für die Natur, für Freiheit, Träume und Entgrenzung, ebenso wie für ungebändigte Kraft. Schon in Benjamin Brittens "Peter Grimes" ist das Meer die heimliche Hauptperson.

Auch in Henzes Oper "Das verratene Meer" ist das nicht anders. Naturklänge, weite, statisch erscheinende Klangflächen prägen die Musik. Aus deren epischer Breite, aus ihrer betont offen gehaltenen Form schälen sich spezifische Klangfarben nur heraus, um den drei Protagonisten des Stücks den Anhauch des Individuellen zu verleihen.

Bei der Neuproduktion des Stücks an der Frankfurter Oper nimmt eine riesige hölzerne Welle zunächst die ganze Bühne ein. Hans Dieter Schaal hat sie für sein Bühnenbild entworfen; belebt wird sie durch Projektionen - Filmsequenzen, die das Gewaltige in kleine Bewegungen untergliedert, wie das Henzes Musik auch tut. Das mildert zumindest ein wenig den Eindruck des Faschistoiden, den die Roman-Vorlage des japanischen Schriftstellers Yuko Mishima durchaus vermittelt. Das Individuelle gegenüber dem Kollektiv zumindest ein wenig verteidigt zu haben, das ist eine große Qualität von Henzes (bislang) vorletzter Oper.

Entscheidender für deren Qualität ist indes die große Effektsicherheit, mit der "Das verratene Meer" komponiert ist, ihre instrumentatorische Raffinesse und ihre oft betörende Sinnlichkeit, die Bernhard Kontarsky und das Frankfurter Museumsorchester ebenso virtuos ausreizen wie die exzellenten Sänger. Faszinieren kann das Stück dennoch nicht ganz, dazu ist der Stoff zu fern, das Sujet zu fremd.

Wie gerne fühlen wir uns schließlich eins mit einem, der singend leidet. Der Seemann Ryuji (Claudio Otelli) indes, der seinen Beruf nur wählte, weil er das Land hasst, die junge Witwe Fusako (Pia-Marie Nilsson), um derentwillen Ryuji seinen Beruf aufgeben und sesshaft werden will, und schließlich auch deren Sohn, der junge Mann Noboru (Peter Marsh), der sich um seine ödipalen Fantasien ebenso wie um seine Träume von einem starken, unabhängigen und führenden Vater betrogen sieht - sie alle verbleiben im allzu Schemenhaften.

Dagegen kann auch der Regisseur Nicolas Brieger wenig machen, der die Trias genau und einfühlsam nicht nur über die verwinkelten Schiffs-Brücken auf der Rückseite der hölzernen Woge führt, sondern sehr subtil immer wieder einander annähert und voneinander entfernt.

Am greifbarsten wirkt die Jugendbande, deren verzweifelte Suche nach Entgrenzung geradezu zwangsläufig in die Ermordung des Seemanns mündet. "Wir müssen dem Himmel neues Leben einhauchen", singt der Anführer (Johannes Maria Kröger) der Gang.

 

Der Tages-Anzeiger
14.03.2002

Vatermord
Hans Werner Henzes Oper "Das verratene Meer" wird in Frankfurt gespielt und überzeugt trotz der problematischen literarischen Vorlage des Japaners Yukio Mishima.

Von Reinhard Kager

Aufgeregt wogen die Wellen, die ein Kahn durchbricht. Wie sich die Bilder doch gleichen: Tags zuvor hatten "La fura dels Baus" in Mannheim mit einem sehr ähnlichen Bild die Uraufführung von Giorgio Battistellis Jünger-Vertonung "Auf den Marmorklippen" begonnen (TA vom 11.3.). Eine Parallele ergibt sich auch aus der literarischen Vorlage von Hans Werner Henzes vorletzter Oper "Das verratene Meer": Als ähnlich problematisch wie Ernst Jünger in Deutschland gilt in Japan der Dichter Yukio Mishima, der als Capo einer paramilitärischen Organisation an den Rechtsradikalismus herangerückt war.

Um so verwunderlicher, dass Hans Werner Henze, der doch als Exponent der politischen Linken gilt, eine Vorliebe für den Roman von Mishima hegen konnte. Denn Mishimas Geschichte von dem Seemann Ryuji, der das Meer verriet, um an Land in der Boutique seiner Geliebten Fusako zu arbeiten, und der deshalb von der Gang von Fusakos Sohn Noboru regelrecht hingerichtet wird, erinnert an Heldenepen der faschistischen Literatur: Ruyji muss sterben, weil er dem Ideal vom stählern-männlichen Heros nicht entspricht.

Freiheit und Pflichterfüllung

Was Henze an Mishimas zweifellos faschistoider Vorlage interessierte, war jedoch etwas anderes: In der Dualität zwischen dem Meer, als Symbol eines kosmischen Naturelements, und dem Heim, das Ryuji und Fusako gemeinsam errichten möchten, spiegelt sich die Kluft zwischen Freiheit und Pflichterfüllung. Zugleich kollidiert in dem Stück die von strengen Normen diktierte Welt der Erwachsenen mit der noch von Träumen und Idealen erfüllten Welt der Jugendlichen - worin sich Henzes eigene biografische Erfahrungen spiegeln. Deshalb wählte er auch ziemlich unterschiedliche Klangelemente für diese Welten: Während die Gang der Halbwüchsigen von den Schlaginstrumenten dominiert wird und die Traumwelt des Noboru von einem oft solistischen Pianino, von Marimba und Vibrafon, werden der Seemann Ryuji und dessen Sehnsucht nach einer Familie von den Holzbläsern charakterisiert, die bürgerliche Welt der Fusako wiederum von den Streichern.

Mehrschichtig

Allein durch diese instrumentale Differenzierung verleiht Henze der problema-tischen Vorlage jene Mehrschichtigkeit, die Battistellis Jünger-Vertonung vermissen liess. Auch der virtuose Umgang mit dem oft bis zur straussschen "Salome" zurückreichenden musikalischen Material lässt nie Zweifel offen, wie stark sich der Komponist von Gewalt distanziert. Und Nicolas Brieger, der "Das verratene Meer" an der Frankfurter Oper inszenierte, arbeitet ebenfalls konsequent gegen jede Verherrlichung faschistoider Machtfantasien: Die meisten Szenen spielen vor einer sich riesig aufbäumenden Woge, die allein durch ihre Erstarrung eine Blut-und-Boden-Verehrung der entfesselten Natur konterkariert.

Mit Bernhard Kontarsky, der kurzfristig für Paolo Carignani die Leitung dieser Premiere übernahm, stand ein henzegeschulter Interpret am Pult des Frankfurter Opernorchesters. Obwohl es ihm gelang, die Klangfarben betörend schillern zu lassen, fehlte doch ein wenig der grosse dramatische Bogen, Tadellos das Ensemble mit dem Tenor Peter Marsh als Noboru und Johannes Martin Kränzle als Anführer der Gang. Präsent auch Pia-Marie Nilsson als Fusako, einzig Claudio Otellis Ryuji wirkte etwas zu schwächlich.

 


Samstag/Sonntag, 16./17. März 2002, Seite 32

Töne ohne Meinung
Giorgio Battistellis "Auf den Marmorklippen" in Mannheim und Hans Werner Henzes "Verratenes Meer" in Frankfurt: Zwei politisch brisante Werke provozieren die Frage, ob das Operngenre dem heiklen weltanschaulichen Gestus der vertonten Vorlage tatsächlich mit Gleichgültigkeit begegnen darf.

Von Reinhard Kager

Mannheim/Frankfurt - Es qualmt aus allen Ritzen der berstenden Bühne. Stuntmen fliegen durch die Luft, während auf dem Boden die in Lumpen gehüllte Menge heult und kläfft. Ein machthungriger Oberförster hat die Meute wieder in Tiere verwandelt und die Ruhe der Marina um die bizarren Marmorklippen zerstört, ein sadistischer Waidmann, in dem viele Fans von Ernst Jünger eine Karikatur des gerne jagenden Generalfeldmarschalls Hermann Göring erblicken.

Während den einen der Roman als Zeugnis des Widerstands gilt, wird er für die anderen zum Beleg für Jüngers Affinität zu rechtsnationalem Gedankengut: Auf den Marmorklippen, 1939 entstanden und nun im Auftrag des Mannheimer Nationaltheaters von Giorgio Battistelli vertont, gilt als eines der umstrittensten Bücher des Dichters. Nicht minder umstritten ist auch Schriftsteller Yukio Mishima, dessen Roman Der Seemann, der die See verriet als Vorlage der vorletzten Oper von Hans Werner Henze diente.

Der Zufall wollte es, dass Das verratene Meer einen Tag nach der Uraufführung von Battistellis Marmorklippen in der Frankfurter Oper in einer Inszenierung von Nicolas Brieger auf die Bühne gelangte. Und somit die Frage provozierte: Kann Oper der politische Gestus ihrer Vorlagen gleichgültig sein? Es wäre verwunderlich, könnte Henze als Exponent der politischen Linken diese Frage bejahen. Was Henze an dem Roman Mishimas interessiert hatte, war auch nicht das faschistoide Ideal vom männlichen Heros, dem der Seemann Ryuji entsagt, weshalb er von der Jugendgang Noborus regelrecht hingerichtet wird.

Vielmehr spiegelt sich für Henze in der Dualität zwischen dem Meer, als Symbol eines kosmischen Naturelements, und dem Heim, das Ryuji und seine Geliebte Fusako, die Mutter Noborus, errichten möchten, die Kluft zwischen Freiheit und Pflicht- erfüllung. Während Henze in seinem Libretto stark abweicht vom zweifellos problematischen Original, übertrugen Battistelli und sein Librettist Giorgio van Straten den Roman Jüngers eins zu eins für die neue Oper:

Kritische Position

Just in der Verdichtung zu neun Szenen wirkt die mythische, direkt aus der Prosa zu Dialogen geformte Sprache Jüngers, die wohl nur mit Mühe eine kritische Position gegenüber der eskalierenden Gewalt herauslesen lässt, nur umso problematischer. Und der Geruch des Faschistoiden wird noch erheblich penetranter angesichts von Sätzen wie: "Er hat den Drachen der Furcht in seiner Brust erlegt."

Zu allem Überfluss verstärkt Battistellis Musik, die durch Schlagwerkeinsatz immer rhythmischer verdichtet wird, bloß den atavistischen Grundzug von Auf den Marmorklippen. Da nutzt es wenig, dass der 49-Jährige die musikalischen Schichten auffächert, um den Chor im Sinne einer "akustisch-visuellen Dramaturgie" oft aus dem Off singen zu lassen, wenn die (Dirigent: Adam Fischer) immer brachialer werdende Rhythmik Jüngers Distanzlosigkeit zur Gewalt auch noch musikalisch verdoppelt.

Dass Musik sehr wohl Stellung beziehen kann gegenüber einem politisch fragwürdigen Stoff demonstriert Henze: Während die brutale Gang der Halbwüchsigen von den Rhythmen der Schlaginstrumente dominiert wird und die Traumwelt des ödipal an seine Mutter geketteten Noboru (Peter Marsh) von einem Pianino, werden der Seemann Ryuji (Claudio Otelli) und dessen Sehnsucht nach Familie von den Holzbläsern charakterisiert, die bürgerliche Welt der Fusako (Pia-Marie Nilsson) wiederum von Streichern.

Durch diese instrumentale Differenzierung lässt Henze im Gegensatz zu Battistelli nie einen Zweifel offen, wie stark er sich von Gewalt distanziert. Solche Distanz konnte in Mannheim auch das von fliegenden Leibern und forschen Feuerschluckern bestimmte Regiekonzept von La Fura dels Baus nicht erzeugen. Immerhin zeigten die Szenen, als sich die Hirten rund um die Brüder Minor (Thomas Berau) und Otho (Thomas Jesatko) zu einer Art Gralsprozession um Computerbildschirme formieren, technikkritische Züge.

 

Mannheimer Morgen
13.3.2002

OPER: Nicolas Brieger inszenierte Hans Werner Henzes "Verratenes Meer" an der Frankfurter Oper
Wer kein Held ist, verdient es zu sterben

Von unserer Mitarbeiterin
Susanne Kaulich

Was ist ein Held? Sicherlich keiner, der sich "normal" benimmt, jovial, herzlich, bürgerlich-bieder zumal. Zumindest die halbwüchsige Jungensbande, die sich die Zeit mit gewaltverliebter Phrasendrescherei und rituellen Tiermassakern vertreibt, hat da ganz andere Vorstellungen. "Ein wildes Tier" muss ihr Held sein, der sich ständig mit den Naturgewalten des Meeres misst und "etwas macht, wozu andere nicht fähig sind." Der Seemann Ryuji könnte für solch ein Klischee taugen. Dass er es nicht tut, ist sein Verhängnis. Er gibt die Seefahrerei der Liebe zu Fusako wegen auf, will deren Sohn Noboru, Nummer Drei in der fanatisierten Bubenbande, ein guter Vater sein, wird Kaufmann und verrät so - nach Ansicht der fünf Jungs - das Meer genauso wie die jugendlich kruden Heldenideale.

Hans Werner Henze, mittlerweile 75-jähriger Doyen unter den zeitgenössischen Opernkomponisten, der die jüngere Generation - etwa Detlev Glanert und auch Giorgio Battistelli - entscheidend beeinflusste, hat 1990 unter dem Titel "Das verratene Meer" ein Musikdrama nach der Romanvorlage des Japaners Yukio Mishima vorgelegt. Der hatte übrigens 1970 unter Rückforderung der Samurai-Sitten öffentlich Harakiri begangen. Seine rechtskonservative und blutrünstige Herrenmenschen-Ideologie gilt als ähnlich fragwürdig wie Ernst Jüngers Werke, dessen Buch "Auf den Marmorklippen" ja soeben in Battistellis Vertonung in Mannheim uraufgeführt worden ist.

In Frankfurt hat sich jetzt Nicolas Brieger, der ehemalige Mannheimer Schauspieldirektor, an Henzes Oper gewagt, die der Komponist und sein Librettist Hans-Ulrich Treichel unter Ausblendung der problematischen Grundaussage freilich von vornherein zu einer spannenden, blutigen und etwas verklärenden Dreiecksgeschichte entschärft haben. Weit weg von japanischem Kolorit und diffuser Gewaltverklärung, dafür psychologisch einsichtig führt Brieger nun mit Entschiedenheit vor, wohin ideologische Verblendung zumal junger Menschen führen kann - man denke nur an die Satanisten-Schlagzeilen der jüngsten Zeit.

Hans Dieter Schaal hat auf die Drehbühne der Frankfurter Oper seine typische, assoziationsreiche, aber auch sehr kühle Betonarchtitektur gebaut. Eine riesenhafte, konkav gebogene Wand suggeriert Welle und Schiffsbauch, Bedrohung und Schutz gleichermaßen. Sie dient als Film-Projektionswand für Meeresbrandung, Schiffe und Möwen. Dahinter evozieren Verstrebungen, Treppen, Reling und Balkone Industrielandschaften genauso wie Schiffsdeck und -Maschinerie. Davor schiebt sich bei Bedarf eine Wand mit Bullaugen und Schiffstür. Möbelversatzstücke definieren Fusakos Heim, wo Sohn Noboru die Mutter, später dann auch das Liebespaar, pubertär, ödipal und in Embryo-Haltung durch ein Loch im Schrank beobachtet.

In dem an Bergs "Wozzeck" erinnernden Stationendrama aus kurzen Szenen und Verwandlungsmusiken sammelt der ahnungslose Ryuji, von dem großartigen Sängerdarsteller Claudio Otelli genauso sympathisch, artig und farblos dargestellt wie die Figur zu sein hat, Punkte gegen sich und für sein Todesurteil. Alles macht er falsch unter Noborus erwartungsvollen Augen und dem rigorosen Banden-Tribunal, das Johannes Martin Kränzle bestechend präsent anführt. Brieger und Schaal finden treffliche und eindrucksvolle Bilder, um uns das Nicht-Nachvollziehbare erklärlich zu machen: Ein gigantisches Auge, ein blutiger, Noborus Gewaltfantasien anregender Hai, dann wieder brave Schulranzen und weiße Binden, die bei den konspirativen Treffen lächerlich bedeutungsschwanger um den Kopf gebunden werden.

Die Videomöwen geraten wie bei Hitchcocks "Vögeln" immer bedrohlicher. Das (täuschend echt aussehende) Kätzchen wird vor seiner rituellen Hinschlachtung noch ausgiebig liebkost. Kindlich verzweifelt bastelt der Junge aus Drahtbügeln - seine Mutter führt eine Boutique - Schiffe: Symbol für Freiheit, Abenteuer und Heldentum.

Als dann Ryuji dem Ziehsohn seinen Voyeurismus auch noch verzeiht, steht dieser förmlich "neben sich". In der zornig wilden Verwandlungsmusik sieht man zwei weitere Noborus projeziert. "Es gibt Schlimmeres als geschlagen zu werden": Der Tod des Seemanns, der das Meer und die Heldenideale verriet, ist beschlossene Sache. Wie Siegfried darf er noch ein letztes Lied von seinen vermeintlichen Heldentaten singen, bevor er mit allerhand martialischem Mordwerkzeug hingerichtet wird.

Henze hat eine in der Anlage dem konventionellen Muster aus Ariosi, Terzetten und Ensembles folgende expressive und hochdramatische Opernmusik geschaffen, der sich das Frankfurter Museumsorchester unter Bernhard Kontarskys engagierter Stabführung mit Verve und Hingabe annimmt. Dem süffigen, suggestiven Sog der auch mit etwas Elektronik angereicherten Klänge und der kunstvollen Verschlingung der drei verschiedenen Instrumentengruppen - Bläser, Streicher sowie Tasten- und Schlagwerkinstrumente - kann man sich ebenso wenig entziehen wie den lyrischen Kantilenen und packenden Ensembles. Die sieben Solisten, allen voran Peter Marsh als Noboro, Pia-Marie Nilsson (Fusako) und Claudio Otelli tragen entscheidend zum unbestrittenen Erfolg des Abends bei und bleiben Hans Werner Henzes Oper genauso wenig schuldig wie die szenische Realisation.

Die nächsten Vorstellungen am 15., 23., 30. März sowie am 5. April. Tel.: 069/13 40 400

 


11.3.2002

Battistelli in Mannheim, Henze in Frankfurt
Wenn dem Helden Pantoffeln drohen

Von Volker Milch

Es war ein ausgesprochen männliches Wochenende im Reich der Oper: Giorgio Battistellis "Musikalische Visionen" nach Ernst Jüngers Roman "Auf den Marmorklippen" wurden nun endlich, nach diversen Umplanungen, in Mannheims Nationaltheater in die Tat umgesetzt, während anderntags in Frankfurt Hans Werner Henzes Oper "Das verratene Meer" nach Yukio Mishimas Roman "Der Seemann, der die See verriet" durch Dirigent Bernhard Kontarsky, Regisseur Nicolas Brieger und den großartigen Bühnenbildner Hans Dieter Schaal eine sehr ansehnliche Wiederbelebung erfuhr. Man erinnert sich: Henzes Oper wurde 1990 in Berlin uraufgeführt und kurz darauf unter Ulf Schirmers Leitung und in Alois Heigls Inszenierung in Wiesbaden nachgespielt.

Sowohl Battistellis Opus (dessen Uraufführung von Mannheims Publikum mit fast schon verstörender Freundlichkeit aufgenommen wurde) als auch Henzes Oper beziehen sich auf Werke von einiger politischer und ästhetischer Fragwürdigkeit: Ein Dunst von Blut und Hoden durchzieht das Werk Mishimas, der eine paramilitärische Kampftruppe für das wahre Japan gegründet hat und sich 1970 mit öffentlich angekündigtem Harakiri das Leben nahm. Auch an den "Marmorklippen" des unter Kanzler Kohl in den Rang eines Staatsdichters beförderten Jünger scheiden sich die Geister: Selbst wenn man den im mythischen Irgendwann spielenden Roman von den friedfertigen Bewohnern der Seenlandschaft Marina und den brutal einfallenden Horden des "Oberförsters" als Parabel auf die Nazi-Barbarei lesen möchte, bleibt doch im hohlen Dröhnen von Jüngers Stil eine ästhetische Fragwürdigkeit, die bei Battistelli voll auf die Komposition durchschlägt: Bis zur Lächerlichkeit will die Partitur eine mythische Klangaura beschwören, und das chorische Raunen und wilde Getrommel kulminiert in einer unfreiwillig komischen Parodie auf Strawinskys "Sacre": Der Frühling wird mit heißen Rhythmen und einer fröhlichen Rudel-Kopulation gefeiert. Positiv kann man von Battistellis Werk höchstens sagen, dass die leichtere Konsumierbarkeit es immerhin erträglicher macht als Jüngers Sprachschraubereien. Am ansehnlichen Event-Charakter des von Adam Fischer dirigierten Abends hatte auch die katalanische Regie-Truppe "La Fura dels Baus" erheblichen Anteil: Der mythische Raum, in den das Publikum mit durchaus eindrucksvollen Video-Projektionen hineingezogen wird, wird mit Elementen des Straßentheaters aufgemöbelt und allerlei pyrotechnischem Schnickschnack garniert. Bevölkert ist er von lemurenartigen Wesen, über denen offenbar die Knute eines "Big Brother" der Informationsgesellschaft droht.

Frappierend die Ähnlichkeit des optischen Auftakts in Frankfurt: Auch hier evozieren Video-Projektionen mythische Meeresstimmung, während das Orchester unter Bernhard Kontarskys zuverlässig Wellen schlägt. Fast zu dominant sind in dieser Inszenierung (wie 1998 in Henzes "Boulevard Solitude" vom selben Team) die starken visuellen Reize von Schaals Bühnenkunst: Die Figuren bleiben trotz der sehr respektablen Gesangsleistungen von Pia-Marie Nilssons Fusako, Peter Marshs Noboru, Claudio Otellis Ryuji oder Johannes Martin Kränzles "Nummer Eins" merkwürdig blass, wie Staffage in einem eiskalten Labor, in einem moralfreien Raum, in dem das Töten einer Katze die effektvolle Fingerübung für den Mord an dem Seemann ist. Er möchte sich als Noborus Stiefvater ins bürgerliche Familienleben zurückziehen, das Heldenleben gegen die Pantoffeln tauschend. Das verzeiht ihm Noborus in der Leere ihrer Zeit herumhängende Gang nicht, und am Schluss sehen wir, wie die Szene zur Kettensägen-Schlachtung von Ryuji gefriert: Bei Mishima in einer finalen Vision Ryujis eher die Rettung des Helden durch die Grausamkeit als ein Kapitalverbrechen.

Das Licht geht dann in Frankfurt schlagartig aus, die Applaus-Maschine funktioniert wie in Mannheim irritierend reibungslos, und trotz der Frühlingsluft nimmt man, übersättigt von stählernen Visionen ganzer Kerle, ein starkes Frösteln mit nach Hause.