Der Spiegel
OPER

Ende gut, alle tot
Dekadenz, Zerfall, Mord - wenn Martin Kušej Opern inszeniert, geht es ziemlich finster zu. Nun bringt er in Stuttgart Franz Schrekers "Die Gezeichneten" auf die Bühne - und beschwört die düstere Kraft des Eros.

Am liebsten inszeniert er Opern, die jeder kennt. Beethovens "Fidelio" etwa. Denn wenn gängige Werke auf die Bühne zu bringen seien, sagt der Regisseur, "können die Leute meine inszenatorische Leistung besser erkennen".

Wenn er aus Bekanntem etwas Unbekanntes mache, wenn die Zuschauer ihr geliebtes Musikstück in seiner neuen, bildermächtigen und radikalen Deutung gar nicht wiedererkennen, sagt Martin Kušej, dann "reagieren sie wie von der Tarantel gestochen".

Martin KusejKušej, 40, ist eine der verlässlichsten und giftigsten Taranteln im deutschsprachigen Theaterbetrieb. Bei seinem "Fidelio", den er 1998 in Stuttgart herausbrachte, versaute er den Leuten - gegen das Libretto - genüsslich das Happy-End. Gerade hat die liebende Gattin Leonore den gefangenen Gatten Florestan befreit, da schickt Kušej Pizarro, den Bösewicht des Stücks, noch einmal in den Kerker. Der tötet Florestan, daraufhin erschießt Leonore prompt den Mörder ihres Mannes.

Den triumphalen Schlussgesang ("Wer ein solches Weib errungen, stimm in unsern Jubel ein"), der gewöhnlich verhärmte Abonnenten wieder an die Kraft der ehelichen Liebe glauben lässt, verweigerte Kušej dem verdutzten Auditorium zwar nicht - aber nach dem Gemetzel war das gewohnte Pathos des Finales natürlich rettungslos perdu. Kritik und die Mehrheit des Publikums waren letztlich dennoch begeistert.

Nun aber hat sich der österreichische Regisseur für Stuttgart ein in Vergessenheit geratenes Werk vorgenommen: Franz Schrekers aufwendige Oper "Die Gezeichneten" von 1918. Schreker (1878 bis 1934) war in den zwanziger Jahren einer der erfolgreichsten Opernkomponisten in Deutschland. "Der ferne Klang" (1912) machte ihn schlagartig berühmt. Bei den Nationalsozialisten galt der klangselige Symbolismus des Tonsetzers, bei dem Wagner, Debussy und die deutsche Romantik eine originelle Symbiose eingingen, als "entartet". Schreker wurde systematisch gedemütigt, die Aufführungen seiner Werke von bestellten Randalierern gestört.

Schreker musste seinen Posten als Direktor der Berliner Musikhochschule aufgeben und die Akademie der Künste verlassen. Der Komponist starb - wenig später - an den Folgen eines Schlaganfalls. Eines hatten die Nazis erreicht: Seine Musik wurde gründlich vergessen. Erst lange nach dem Krieg erlangten Schrekers Werke mühsam wieder die Anerkennung, die sie verdienen.

Allerdings profitierten nicht alle Stücke von der Schreker-Renaissance. Die opulente Oper "Die Gezeichneten" wurde nach dem Krieg in Deutschland nur zweimal aufgeführt. Auch im Plattenkatalog sieht es mau aus: Lediglich zwei Gesamtaufnahmen sind aufgelistet. Die Decca-Produktion dirigiert Lothar Zagrosek, der auch die neue Stuttgarter Inszenierung (Premiere: 26. Januar) leiten wird.

Regisseur Kušej sieht in dem vertrackten Werk offenbar mehr als alle Kollegen, die es jahrzehntelang vernachlässigten. Für ihn erzählt die Oper, die im Genua des 16. Jahrhunderts spielt, eine Geschichte von "immensem erotischem Gehalt".

Schließlich geht es um einen verkrüppelten Krösus, der eine Liebesinsel für junge Leute einrichtet, weil er selbst nicht begehrt wird. Doch dann verliebt sich noch eine junge Beauty in den hässlichen Mann. Natürlich geht die Geschichte von der Schönen und dem Biest übel aus: Die Liebe zu dem Buckligen erweist sich als Illusion.

Solche Dramen füllen heute die Klatschblätter. Erzählen wollen Kušej, der Lehrersohn aus Kärnten, und sein langjähriger Bühnenbildner Martin Zehetgruber, 40, die Oper deshalb "ganz heutig", als das "erste postmoderne Stück" der Opernliteratur. Die Genueser Renaissance-Society, die Schreker - er verfasste auch den Text - in den "Gezeichneten" beschreibt, erscheint dem Regisseur als "eine Gesellschaft im Zustand der Dekadenz, des Niedergangs und des Zerfalls" - also, ganz klar, als Spiegelbild der Jetztzeit.

Wie da aber etwa die Liebesinsel aussehen soll, auf der die Genueser Jeunesse dorée im Orgientaumel kopuliert, weiß Kušej vor Beginn der Proben noch nicht. Er werde das freizügige Eiland wohl kaum naturalistisch, sondern nur mit Menschen darstellen. Und dafür müsse er mal wieder intensiv mit dem Chor arbeiten.

Das kennen die Damen und Herren des Stuttgarter Staatsoper-Chors von ihm auch nicht anders. 1998 sollte Kušej bei Luigi Nonos Stück "Al gran sole carico d'amore" Regie führen. Das Werk galt als schwer inszenierbar, Kušej hatte trotzdem ein Konzept. Bis zu einer der ersten Chorproben, als sich alle Ideen plötzlich aufzulösen schienen und er vor dem Nichts stand. Er wusste nicht mehr, warum er das Riesenwerk überhaupt inszenieren wollte, und war im Begriff, die Regie kurzerhand niederzulegen. Aber dann richteten sich "140 Augen auf mich, die hoffnungsvoll" Hilfe suchten. Der Chor wollte einfach wissen, was es mit diesem schwierigen Stück denn nun auf sich hat".

Kušej überschlief seine Resignation und hatte am nächsten Tag tatsächlich eine Antwort. Seitdem wird er in Stuttgart bei jeder Probe von allen 70 Choristen per Handschlag begrüßt und empfindet dies zu Recht als Auszeichnung.

Drei Inszenierungen pro Jahr - diese Zahl hat sich Kušej als Limit gesetzt. Angebote vom Sprechtheater und von der Oper summieren sich dabei längst auf ein Vielfaches. Die kluge Beschränkung hat sich gelohnt. Der Regisseur, der sich intensiv vorbereitet und nie "ein Stück zweimal inszenieren" will, ist nun im Opern-Olymp gefragt: Im Sommer bringt er bei den Salzburger Festspielen Mozarts "Don Giovanni" mit dem US-Star Thomas Hampson in der Titelrolle heraus. Am Pult der Wiener Philharmoniker steht Nikolaus Harnoncourt. Und auch bei Kušejs Bayreuth-Debüt 2004 wird ihn einer der Großen begleiten: Der greise Festspiel-Patriarch Wolfgang Wagner hat den Franzosen Pierre Boulez als Kušejs musikalischen Partner für "Parsifal" engagiert.

Die Angebote aus der Beletage des Opernbetriebs kommen dem Regisseur immer noch ein bisschen so vor, als sei er, der "halbwegs gute Einhandsegler", zum "Kapitän eines Supertankers" berufen worden.

Aber schließlich, beruhigt er sich mit gesundem Selbstbewusstsein, halte er sich auch schon eine Weile wacker in der Oberliga seiner Zunft: "Ich bin haltbar." Offenbar ist er genau so resistent gegen flüchtige Moden, wie es die oft beklemmenden Bilder sind, mit denen er immer wieder die alten und neuen Geschichten des Theaters erzählt. Bilder, deren oft gewalttätige Kraft sich unvergesslich einbrennt und Kušejs Zuschauer zu einer bevorzugten Kaste von Gezeichneten macht.

Joachim Kronsbein