Frankfurter Rundschau
16. June 2003

Wüste Gefühle
Löbliche Vermittlungsarbeit: Die Oper Frankfurt mit der unbekannten Haydn-Oper "L'Isola disabitata"

Von Hans-Klaus Jungheinrich

Indigniert stellt der Haushofmeister in Hofmannsthal/Strauss' Ariadne auf Naxos fest, dass im wohlausgestatteten Palais seines stinkreichen Herrn etwas so Despektierliches wie eine "wüste Insel" als Theaterort präsentiert werden solle.

Solch schwer zumutbaren Phantasie-Transfer forderte die jüngste Premiere der Oper Frankfurt kaum: Das diesmal als Spielstätte gewählte Depot an der Bockenheimer Warte hatte, ungeachtet angenehmer Außentemperatur am Premierenabend, in den vergangenen Hitzetagen eine tropisch-stickige Innenatmosphäre präpariert, die an der Konzentrationsfähigkeit der Künstler und des Publikums rüttelte. Immerhin konnte man so, im Kreise mitleidender Habitués, zwar nicht die Einsamkeit, wohl aber die gedörrte und gesottene Ausgesetztheit des Personals aus der zur Aufführung gelangten Haydnoper L'Isola disabitata (übersetzbar eben als "Die wüste Insel") unschwer nachfühlen.

Joseph Haydns reiches, wenn auch teilweise sprödes Opernschaffen schickt sich insgesamt dem Bild einer keineswegs wüsten, eher musikerfinderisch wohlausgestatteten, leider aber weidlich unentdeckten Inselhaftigkeit.

Eine hochlöbliche Opernvermittlungstat, wenn Intendant Bernd Loebe nun schon am Ende seiner ersten (phänomenal geglückten) Spielzeit, korrespondierend zur Schubert-Neubelebung Fierrabras als Einstand, den auf Schloss Esterháza 1779 uraufgeführten veritablen Einakter wieder ans Licht holte. Dessen 90minütige Spieldauer wurde sinnvoll zu reichlicher Abendfüllung ergänzt mit der thematisch nah verwandten (später komponierten) Haydnkantate Arianna a Naxos. Und selbstverständlich ließen sich die gewitzten Opernmacher auch den Bildungs-Querverweis auf die bekannteste Ariadne-Vertonung nicht nehmen: An geeigneter Stelle der Haydnopernouvertüre (zwischen dem langsamen Mittelteil und der knappen Allegroreprise) erklangen, putzwunderlich und dennoch passend, einige Strauss-Takte (aus der Ouvertüre zur eigentlichen Oper, nicht dem Vorspiel zu dem nachkomponierten Handlungs-Vorbau mit dem Haushofmeister).

Bezaubernd mithin bereits der 20minütige Kantaten-Einstieg mit dem weit ausfahrenden Gefühlsspektrum der verlassenen Ariadne, archetypisch alle Facetten weiblicher Schutzlosigkeit und Ungetröstetheit in sich versammelnd von stiller Klage bis zu ausbrechender Verzweiflung und Wut: das menschliche Herz als wüste Insel.

Hier war es die eminent bühnenpräsente Aktrice Annette Stricker, die, mit szenischen Andeutungen merklich vom konzertanten Vortrag abrückend, eine in sich geschlossene psychologische Studie von eindrücklicher Expressivität bot, bestens fundiert von einer in allen Lagen klar ansprechenden, markant auch ins Dunkle hin abgetönten Stimme. Vom Hammerflügel her sekundierte Roland Böer mit klavieristischer Könnerschaft diesen vokalen Gefühlssturm mit gleichrangiger Intensität.

Anschließend wechselte Böer (nach etwas störender "technischer" Pause für die erst dann auftretenden und einstimmenden Instrumentalisten) zur Direktion des 22köpfigen Museumsorchesters (in auffällig junger Besetzung), ebenfalls vom Tasteninstrument aus, dessen Bedienung als Continuo ihn nicht am energisch zupackenden, wachsam-dringlichen Dirigieren hinderte. Seine Aufgabe erschwerte sich durch die Partitur-Besonderheit der "akkompagnierten", oft vom vollen Orchester begleiteten und ins Dramatisch-Abrupte gelenkten Rezitative. Nicht nur deren Prägnanz und Sprachfähigkeit, sondern auch die zahlreichen Instrumentalsoli (Violine, Violoncello, Fagott) dokumentierten die enorme Einstudierungsqualität dieser Aufführung.

Haydns Opernmusik ist vielleicht nicht in allen Momenten hochfliegend inspiriert; immer wieder zeigen sich Diskrepanzen zwischen schablonenhaften Wendungen und rabiater Ausdrucks-Unmittelbarkeit. Es fehlt Haydn nicht an dramatischer Begabung, wohl aber an der Fähigkeit, Theaterfiguren ganz lebendig zu machen. Sie scheinen bei ihm eher "Instrumente" einer Darstellung, die ihr Spannungspotential aus der Totale der vokal-instrumentalen Beziehungen schöpft. Kein Wunder, dass zum Stärksten der Oper das weiträumig und akribisch ausgearbeitete Quartett-Finale gehört, zunächst mit instrumental kommentierten strophenartigen Sologesängen, erst gegen Ende mit dem vollen, dann umwerfenden Klangzauber der gemeinsam singenden "Viererbande" aufwartend. Eine Episode von der elaborierten Großformatigkeit der Martern-Arie aus Mozarts Entführung.

Das zuvor mitunter etwas schemenhafte Nebeneinander von Arien (freilich voluntaristisch-experimentell durchpflügt von den antreibenden Accompagnato-Rezitativen) entspricht auch dem nicht sehr erleuchteten Libretto des Routiniers Metastasio, das eine verwässerte Variante des Ariadne-Sujets transportiert mit einem "seriösen" und einem halbernsten Paar. Costanza versteht den Verlust ihres Gatten Gernando "tragisch", ihre Gefährtin Silvia wird durch die Erkenntnis vermeintlicher männlicher Untreue zur koketten, indes auf Anhieb vom Gegenteil belehrbaren Männerfeindin. Es gibt natürlich ein Happyend à quatre. Britta Stallmeister war eine sichere, ansprechende Costanza, Jenny Carlstedt die soubrettenhaft muntere Silvia. Tenoral differenziert der Gernando von Yves Saelens, jugendlich baritonal beschwingt der Enrico von Nathaniel Webster. Unnaturalistisch das eine große Schrägtreppe mit Spiegelelement exponierende Bühnenbild von Benoit Dugardyn, lebhaft und dezent zugleich die Personenführung (Arianna durfte im späteren Spiel stumm bedeutsam mitmischen) des Regisseurs Guillaume Bernardi.

Oper Frankfurt im Bockenheimer Depot: 18., 21., 25., 27., 28. und 30. Juni sowie 3.Juli.

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2003
Dokument erstellt am 15.06.2003 um 18:28:38 Uhr
Erscheinungsdatum 16.06.2003
URL:
http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/feuilleton/?cnt=231827

 

Frankfurter Neue Presse
16.06.2003

Zwei Schwestern auf dem Eiland der Verzweiflung
Mit Haydns "Die wüste Insel" brachte die Frankfurter Oper ein Kleinod des 18. Jahrhunderts ins Bockenheimer Depot.

Von Michael Dellith

Es muss ein Dorado der Künste gewesen sein: Auf Schloss Esterháza von Fürst Nikolaus I., in dessen Diensten Joseph Haydn viele Jahre als Kapellmeister stand, fanden fast täglich wechselnde Aufführungen von italienischen Opern, deutschen Komödien, Farcen und Lustspielen statt. Der Fürst hatte dafür eigens ein Opernhaus und ein Marionettentheater erbauen lassen. "Die wüste Insel", uraufgeführt 1779, ist eines vom mehreren Huldigungswerken, die Haydn zum Namenstag seines Dienstherrn am 6. Dezember zu komponieren hatte – keine pompöse Opera seria, sondern eine kleine, aber feine Kammeroper, bei der Haydn auf ein Libretto des Wiener Hofpoeten Metastasio zurückgriff.

Die auf einer imaginären Insel in Westindien angesiedelte Geschichte, eine aparte Mischung aus Robinsonade, Ovids "Pyramus und Thisbe" und Glucks "Orpheus und Euridike", handelt von den beiden Schwestern Costanza und Silvia, die seit 13 Jahren auf dem kleinen Eiland ohne Hoffnung auf eine Rückkehr nach Europa leben. Die Ältere, Costanza, will verzweifelt ihrem Leben ein Ende setzen, glaubt sie doch, ihr (vermeintlich) untreuer Gatte Gernando hätte sie für immer verlassen.

Doch dann wendet sich alles zum Guten: Gernando, der vor 13 Jahren von Piraten überfallen und entführt worden war, kehrt mit Gefährte Enrico auf die Insel zurück, das Naturkind Silvia verliebt sich in den tapferen Enrico, und Gernando und Costanza sind am Ende wieder glücklich vereint. Haydn ließ sich von der intensiven Gefühlswelt dieses Stoffes zu einer empfindsamen und gleichsam "sprechenden" Musik inspirieren, die aus der "Wüsten Insel" ein psychologisches Kammerspiel macht und den zartesten Seelenregungen der Personen in den fantasievollen Rezitativen und Arien nachspürt. Der kanadische Regisseur Guillaume Bernardi, der in seiner Frankfurter Inszenierung Haydns Oper auf zwingende Weise mit der Kantate "Ariadne auf Naxos" verknüpfte (eine wunderbare Partie für die Mezzosopranistin Annette Stricker), hat die innere Welt der Protagonisten behutsam in subtile Gesten und Bewegungen umgesetzt, die vor Benoit Dugardyns raffinierter Kulisse (eine ansteigende Treppenlandschaft mit fahrbarer Spiegelwand) und in den quasi-historischen Kostümen von Peter DeFreitas besonders eindrücklich zur Wirkung kamen.

Auch musikalisch war der Abend eine Wohltat: Fast ausschließlich mit Frankfurter Ensemblemitgliedern besetzt, glänzten allen voran die liebreizende Jenny Carlstedt als Silvia, aber auch Britta Stallmeister in der Partie der tiefempfindenden Costanza, Yves Saelens mit tenoralem Schmelz als Gernando und Nathaniel Webster als Enrico mit sympathischen Bariton. Zu dem geschmeidig und koloraturengewandt agierenden Gesangsquartett fügte sich das unter Roland Böer trotz tropischer Temperaturen im Raum tonschön, rhythmisch akzentuiert und klanglich nuanciert musizierende Opernorchester im Kammerformat vorzüglich. Ein hinreißender Abend mit wohl verdienten Bravo-Rufen, diesmal auch für die intelligente, feinsinnige Regie.

 

Darmstädter Echo
16.6.2003

Insel der Hoffnung
Haydn-Oper: Hübsche Wiederentdeckung: „L’isola disabitata" im Bockenheimer Depot – Geschickt kombiniert mit einer passenden Haydn-Kantate um „Ariadne"

Von Albrecht Schmidt

FRANKFURT. Dass Haydns Opern weitgehend in Vergessenheit geraten sind, gehört zu den Merkwürdigkeiten des Musikbetriebs. Immerhin wurden im Residenzschloss Esterháza zwischen 1780 und 1790 über 70 Opern in 1100 Vorstellungen gespielt, darunter an erster Stelle die Bühnenwerke des dort wirkenden Kapellmeisters Haydn. In Esterháza wurde 1779 auch die „azione teatrale" genannte Oper „L’isola disabitata" („Die wüste Insel") uraufgeführt, ein kleines einaktiges Kammerspiel mit psychologischem Tiefgang, an das die Frankfurter Oper jetzt mit einer Neuproduktion erinnert.

An dem beliebten Libretto von Metastasio hatten sich vor Haydn bereits 13 Komponisten versucht. Die logisch aufgebaute Geschichte zwischen Robinsonade und Gattentreue wahrt die aristotelische Einheit von Ort, Zeit und Handlung: Costanza und ihre jüngere Schwester Silvia leben auf einer Insel, ohne Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat. Ein Schiff naht mit Gernando, Costanzas Gatten, und Enrico. Silvia verliebt sich in Enrico, und Gernando, der Costanza für tot hält, schließt seine Gattin wieder in die Arme.

Der kanadische Regisseur Guillaume Bernardi verklammert dieses Geschehen mit Haydns Kantate „Arianna a Naxos", was schlüssig wirkt angesichts der vergleichbaren Situation der Frauengestalten Costanza und Ariadne, die beide – von ihren Männern verlassen – über Todessehnsucht und Todesmüdigkeit monologisieren. Bernardi lässt es nicht mit der Kantate (von Annette Stricker ausdrucksstark gesungen und von Roland Böer einfühlsam am Hammerklavier begleitet) als bloßem Vorspiel vor der Opernhandlung bewenden, sondern bezieht Ariadne als Todes-Schatten bei den Trauergesängen von Costanza und Gernando, ins Bühnengeschehen ein. In fein ironisierendem Zeitsprung zitiert Ariadne sogar einen schaurigen Klageruf aus Richard Strauss‘ „Ariadne".

Für die Produktion im Bockenheimer Depot hat Benoit Dugardyn ein einfaches, äußerst praktikables Bühnenbild mit großer Holztreppe und verschiebbarer Spiegelwand geschaffen. Hammerflügel und eine Muschel erscheinen als Metaphern von Vertrautheit und Geborgenheit.

Hervorragende Nachwuchskräfte der Frankfurter Städtischen Bühnen, in luftige, geschmackvolle Kostüme gesteckt (Peter DeFreitas), verleihen den Figuren klare Konturen und stimmliche Präsenz (gesungen wird in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln): Britta Stallmeister (Costanza), Jenny Carlstedt (Silvia), Yves Saelens (Gernando) und Nathaniel Webster (Enrico).

Für die sorgfältige musikalische Betreuung zeichnet, mit suggestiver Gestik vom Cembalo aus leitend, Roland Böer, der junge Frankfurter Kapellmeister. Er erinnert mit seinem aufmerksam musizierenden kleinen Orchester auch immer wieder daran, dass man es hier nicht mit einer landläufigen Opernmusik, sondern mit der Partitur des bedeutendsten Symphonikers seiner Zeit zu tun hat. – Durchweg positive Aufnahme und begeisterte Zustimmung für alle Beteiligten.

Weitere Aufführungen im Bockenheimer Depot in Frankfurt: am 18., 21., 25., 27., 28. und 30. Juni sowie am 3. Juli – jeweils ab 20 Uhr.

 

Offenbach Post
16. Juni 2003

Rare Haydn-Kammeroper à la carte
"L’isola disabitata" von der Oper Frankfurt im höllisch heißen Bockenheimer Depot herausgeputzt

Von KLAUS ACKERMANN

Was für ein erhabener Kontrast: Joseph Haydns "L’isola disabitata" vom Schlosstheater der Esterhazys in das metallene Industrie-Relikt des Bockenheimer Depots zu verlegen, war ein geschickter Schachzug des Regisseurs Guillaume Bernardi. Zur Premiere der "Wüsten Insel", von Textdichter Pietro Metastasio irgendwo im westindischen Ozean angesiedelt, wartete die Spiel-Halle am Samstagabend dann auch mit ganz realistischen tropischen Temperaturen auf.

Zudem hatte der Kanadier Haydns "Azione teatrale" geschickt dessen Kantate "Arianna a Naxos" vorangestellt und mit solchem Überbau eine respektable psychologische Kammeroper gewonnen. Und weil Roland Böer mit dem auf Kammerstärke geschrumpften Frankfurter Museumsorchester die so genannte historische Spielpraxis in Sachen Emotion und Dramatik noch links zu überholen trachtete, das Opernpersonal bis zur Pantomime hin hoch motiviert wirkte, gab’s einen durchweg spannenden Abend - trotz der Hitzegrade ohne den geringsten Durchhänger. Und am Ende der Koproduktion von Oper Frankfurt und dem Brüsseler Theatre Royal de la Monnaie anhaltenden Beifall für alle, von Bravos durchsetzt.

Eine mythologische Geschichte mit negativem Ausgang geht unspektakulär in eine menschliche mit glücklichem Ende über. Dazu ließ Bernardi das Depot zur Hälfte in tiefem Dunkel, den Blick auf eine schräg zum Publikum platzierte Showtreppe lenkend, die den Eindruck eines Schau-Stücks noch verstärkt. Im Vordergrund das Hammerklavier, als seitlichen Rahmen eine bewegliche Spiegelwand, die den Raum nicht nur vergrößert, sondern den Akteuren dazu erlaubt, ihr Selbst zu entdecken oder sich rückwärts einander zu nähern (Ausstattung: Benoit Dugardyn).

Den Inselkoller pflegt zunächst Arienne auf Naxos, eine göttliche Dame in dunkler Tragödinnen-Robe, vielleicht der "Ariadne" von Richard Strauss entlehnt (Kostüme: Peter DeFreitas). Mit wilder Haarpracht zum Raufen. Hat sie doch ihr Liebhaber Theseus verlassen, dem sie bei der Ermordung ihres Bruders Minotaurus half, indem sie ihrem Helden den "AriadneFaden" gab, auf dass er aus dem Labyrinth des stierköpfigen Minos-Sohnes finden würde. Jetzt ist Theseus abgehauen - Grund für ein Kantaten-mäßiges Lamento zwischen Liebessehnsucht und schnöder Erkenntnis, bei der die Leidende auch mal hastig, aber immer rhythmisch die Stufen hinaufhetzt.

Zeit der Empfindsamkeit bei Haydn, der hier den musikalischen Psychoanalytiker so überdeutlich hervorkehrt, wie er als Klangmaler in seinen Oratorien der Weltfrömmigkeit ins Detail geht. Annette Strickers Mezzosopran kann wunderschön Dunkles dräuen, steht stimmlich und emotional über den Dingen, die Roland Böer aus dem Hammerklavier zwischen aufbegehrendem Rezitativ und gefühlsinniger Arie selbst rhythmisch mitreißend klopft. Diese Arienne scheint ihren Kummer auch ohne Musik überschwänglich in Bewegung zu halten, eine Schwester von Donna Elvira aus Mozarts "Don Giovanni".

In solchen Ausdrucksmomenten geht Regisseur Bernardi auf ironische Distanz, die den Abend so griffig macht. Zu den letzten Leidenstakten ist ihr alter ego Costanza bereits auf der Treppe, ebenso vom Gemahl Gernando auf einem wüsten Eiland hinterlassen, nichts ahnend, dass dieser in die Fänge von Piraten geriet und als Sklave schuften musste. Britta Stallmeister zeigt sich stimmlich recht wendig zwischen in Wut umschlagendem Kummer und später Freude. Reife auf der Insel erlangt dazu ihr Schwesterlein, eine anrührende Naive, zwischen zahmen Tieren großgeworden und von Costanza wider die grausame Männerwelt aufgewiegelt.

Diese Silvia, mit üppigen Formen nicht geizend und wie das Restpersonal in Rokoko-Robe inklusive HippieLook gesteckt (Gernandos Krieger ziert der IrokesenSchopf) scheint wie Botticellis Venus aus einer großen Muschel geboren. In der versteckt sie sich auch, um die Eindringlinge zu belauschen.

Jenny Carlstedt geht in dieser Rolle förmlich auf, besitzt einen ideal temperierten Sopran, der zu girren, locken und an bisherigen Einstellungen zu zweifeln vermag. Ein Sonnenschein unter Haydns per Arie und orchestralem Rezitativ ausgemalten klanglichen Leidensmienen, wozu auch Yves Saelens’ Gernando zählt, ein milder lyrischer Tenor. Erobert wird Silvia im Nu vom Gernando-Gefährten Enrico (Nathaniel Webster), blondes Langhaar mit moderatem Bass. Und weil die Helden in Haydns Psycho-Gespinst neben der mythologischen Hilfestütze durch Arianna, die sogar Hammerklavier spielt, auch Instrumenten zugeordnet sind, haben nicht erst zum glücklichen Finale Querflöte, Fagott, Violoncello und Violine Soloaufgaben, bei denen allein die erste Geige ein wenig Nerven zeigt.

Nicht schlimm, denn das von Böer am Cembalo dirigierte Orchester beweist viel stimmlichen Durchzug in einem ironisch gebrochenen Rokoko-Schäferspiel, die "Azione teatrale" beim Wort nehmend. Ein schönes Stück Sommertheater unter der Hitzeglocke des Depots - und hier noch am 18., 21., 25., 27., 28., und 30. Juni sowie am 3. Juli zu erleben.

 

WIESBADENER KURIER
16.06.2003


Britta Stallmeister als Costanza.
Foto Oswald

Auf einer wüsten Insel
Joseph Haydns knappe Oper "Isola disabitata" im Bockenheimer Depot

Von Axel Zibulski

Bockenheim liegt am Meer. Zumindest jene anderthalb Stunden lang, in denen das Bockenheimer Depot zur wüsten Insel wird, zur "Isola disabitata". Sie ist der Titel gebende Schauplatz einer knappen Oper von Joseph Haydn, uraufgeführt 1779 vor der Gesellschaft auf Schloss Esterháza und jetzt in einer Neuinszenierung der Oper Frankfurt zu sehen. Musikalisch entpuppt sich die "Azione teatrale" auch im ehemaligen Straßenbahn-Depot als kleine Kostbarkeit, obwohl dessen Werkhallen-Flair doch ebenso höfisch ist wie Bockenheim am Meer liegt.

Diese wüste Insel ragt offenbar in tropischen Gefilden aus dem Wasser, sinnieren wir bei knappen 40 Grad Innentemperatur. Seit geschlagenen 13 Jahren wartet eine gewisse Costanza auf den Gatten Gernando, denkt ans Sterben sogar (traurig, traurig), bis ihr Bester auf der Insel auftaucht. Doppelte Freude: Costanzas jüngere Schwester Silvia, eben noch fest von der Grausamkeit der Männer überzeugt, lässt sich mit Gernandos Gefährten Enrico ein. Glücklich, glücklich. Recht flugs, in den Stimmungsumschwüngen nicht immer ganz zwingend geschieht das im (italienischen) Allerwelts-Libretto von Pietro Metastasio. Haydn immerhin bietet anspruchsvolle Arien. Und von denen lenkt die dezente szenische Ausstattung kaum ab: Für die Inszenierung von Guillaume Bernardi hat Bühnenbildner Benoît Dugardyn eine große Treppe errichtet, die von einer verschiebbaren Spiegelwand unterteilt wird. Da stehen die vier Solisten ganz im Mittelpunkt - nur manchmal huschen drei bunt ausstaffierte Eingeborene (Kostüme: Peter DeFreitas) durch die Szene, erschrecken sich am Zivilisations-Klang des kleinen Flügels, der auf der Bühne steht.

Denn vorab ist dort ein kleines Präludium erklungen: Haydns Kantate "Arianna a Naxos". Noch so eine Einsame auf einer Insel. Und die Mezzosopranistin Annette Stricker, die diese Kantate mit bewegendem Ausdruck und einem betörenden Pianissimo gestaltet, taucht als Ariadne auch in "L'isola disabitata" auf, mischt sich in der Ouvertüre mit einigen Tastentönen ein, hält selbst während des glücklichen Endes immer noch Ausschau. Eine passende Klammer, warum nicht?Auch die anderen Damen überzeugen vokal, die affektvoll gestaltete Costanza von Britta Stallmeister, die jugendlich-wendige Silvia der Jenny Carlstedt. Nicht ganz so präsent und makellos singen Yves Saelens (Gernando) und Nathaniel Webster (Enrico). Die Mitglieder des seitlich postierten Museumsorchesters musizieren unter der Leitung von Roland Böer mit schlankem, aufgelichtetem Klangbild. Und die intonatorischen Unschärfen der Solo-Violine sind vielleicht ein Tribut an die enorme Hitze in Bockenheims Depot.

 

Allgemeine Zeitung
17. Juni 2003


Gernando muss sein ganzes in die Jahre gekommenes
Verführungstalent aufbieten, um die furiose Costanza zu besänftigen
(Szene mit Britta Stallmeister u. Yves Saelens).
Bild: Charlotte Oswald

Lecker wie ein zartes Sahnebaiser
Ungewöhnliches im hübschen Gewand: Haydns Oper "Die wüste Insel" im Bockenheimer Depot

Von Ines Steiger

"Infido! (Treuloser!)" - Verzweifelt klagt Ariadne ihren Liebhaber Theseus an. Erst rettet sie ihm das Leben, dann segelt der Undankbare übers Meer auf und davon! Ende des 18. Jahrhunderts komponierte Joseph Haydn die Kantate "Ariadne auf Naxos" einer venezianischen Sängerin auf den Leib. Als Vorspiel zur neuen Frankfurter Inszenierung der Haydn-Oper "Die wüste Insel" ("L'isola disabitata") im Bockenheimer Depot erweist sich das Klagelied als Glücksgriff. Denn Annette Stricker als Ariadne stimmt das Hauptmotiv der folgenden Oper an: Die Heldin aus der griechischen Mythologie teilt die Trauer und die ohnmächtige Wut aller Verratenen und Verlassenen der Welt.

Für "Die wüste Insel" vertonte Haydn ein lyrisches Libretto des Dichters Pietro Metastasios. Sie ist eine kleine, aber feine und dynamisch durchkomponierte Oper in zwei Bildern (uraufgeführt 1779); Rezitative und Arien gehen ineinander über. Die Herz-Schmerz-Geschichte mit glücklichem Ausgang wird vom Frankfurter Museumsorchester unter der musikalischen Leitung von Roland Böer, der nicht nur dirigiert, sondern streckenweise auch Hammerklavier und Cembalo spielt, schwungvoll begleitet. Mit einem hübschen Aperçu für Kenner warten die Frankfurter auf: Es erklingen einige "hineingeschmuggelte" Takte aus der Ariadne-Oper von Strauss.

Die Handlung: Costanza lebt mit ihrer jüngeren Schwester Jenny seit dreizehn Jahren wie Robinson auf einer Insel. Sie glaubt, ihr Gatte Gernando habe sie betrogen und verlassen. Die Wende zum Guten kommt mit einem Schiff. An Land gehen Gernando, der sich aus einer Piraten-Gefangenschaft befreien konnte, sowie sein Gefährte Enrico. Während sich Silvia sofort in Enrico verliebt, erwacht auch die alte Zuneigung zwischen Gernando und Costanza neu.

Ein schlichtes, edles Bühnenbild hat Benoît Dugardyn für Inszenierung im ehemaligen Straßenbahn-Depot geschaffen: Geheimnisvoll und düster singt und spielt Annette Stricker die Ariadne auf einer breiten, bernsteinfarbenen Treppe mit geschwungenen Stufen aus Holz. Das seitlich platzierte Orchester ist für die Zuschauer wie bei einer konzertanten Aufführung gut zu beobachten. Eine getönte Spiegelwand erweckt den Anschein, als tummelten sich doppelt so viele Akteure auf der Bühne; sie erlaubt zugleich einen Blick in die innere Traumwelt der Figuren: Zuerst im Spiegelbild erkennen sich die Liebenden wieder.

Dabei arbeitet Britta Stallmeister eine verbitterte Costanza am Rande des Abgrunds beeindruckend heraus. Unermüdlich graviert sie ihr Verlangen nach Rache mit einem Dolch in einen Stein. Ariadne und Costanza tragen beide wirre Medusa-Frisuren (Maske Antje Schöpf) - in ihrer Einsamkeit sind sie Schwestern im Geiste. Einen barfüßigen Wirbelwind dagegen gibt Jenny Carlstedt in der Rolle des Naturkinds Silvia. In ihrem Rüschenkleid ist sie zum Anbeißen wie ein Sahnebaiser (Kostüme: Gabriele Nickel). Den Geliebten beschnuppert Silvia wie ein neugieriges Kätzchen aus einem originellen Versteck heraus: einer riesigen weißen Muschel. Tenor Yves Saelens singt als Gemütsmensch Gernando auch auf dem Rücken liegend wunderbar raumfüllend. Eine runde, kurzweilige Inszenierung, die dem gebürtigen Kanadier Guillaume Bernardi gelungen ist.

Aufführungen: 18., 21., 25., 27., 28., 30. Juni; 3. Juli, jeweils 20 Uhr.

 

Opernnetz
14. Juni 2003

Emotionsgeladen

In der intimen, werkstattmäßigen Atmosphäre des Bockenheimer Depots bringt die Frankfurter Oper Haydns Hofoper "Die wüste Insel" in Kombination mit der Kantate "Ariadne auf Naxos" für Mezzosopran als beeindruckendes psychologisches Kammerspiel auf die Bühne.

Die Parallelen in der Geschichte der von Theseus verlassenen Ariadne und der sich verlassen glaubenden Costanza legen die Kombination der beiden Werke nahe, und sie erweist sich auch szenisch und musikalisch als schlüssig. Das Bühnenbild von Benoît Dugardyn besteht aus einer sanft geschwungenen, nach links ansteigenden hölzernen Treppe und einer Spiegelwand und liefert so mit minimalen Mitteln einen harmonischen Raum für das Spiel, das sich aus der Konzertsituation des Vorspiels entwickelt: Annette Stricker als verzweifelnde Ariadne wird vom Dirigenten Roland Böer am Clavichord begleitet, löst sich allmählich von dessen Seite und eröffnet den Blick in die seelischen und räumlichen Dimensionen, in welchen sich der Abend bewegen wird, unterstützt durch die warmen Lichteffekte von Olaf Winter und die historisch angelehnten, geschmackvoll- eleganten Kostüme von Peter de Freitas.

Der Regisseur Guillaume Bernardi hat größte Sorgfalt auf die Gestik und Mimik der Sänger verwandt und diese gekonnt mit den Affekten in Haydns Musik verwoben. Der Bewegungsraum ist durch die Treppe zwar begrenzt, doch nimmt man diese im Banne der Sänger gar nicht mehr wahr, sondern folgt ihnen vielmehr durch innere Welten. Schon in der Ariadne- Szene tritt Costanza auf und übernimmt nach gelungener Überleitung durch die selbst am Clavichord spielende Ariadne das Thema ihrer Schwester im Geiste. In den Arien der Costanza lässt sich dank Britta Stallmeisters engelsgleichem Sopran wunderbar schwelgen, als neues bühnenbildnerisches Element kommt eine Projektion der Inschrift, die sie in den Fels ritzt hinzu. Lebendiger gestaltet sind die Szenen der Silvia dank der für sie vorgesehenen Rolle als Naturkind, welches von Jenny Carlstedt mit großer Ausstrahlung und Liebenswürdigkeit verkörpert wird. Außerdem darf sie sich in einer riesigen Muschel, die nach dem Wegfahren der Spiegelwand zum Vorschein kommt, verstecken und in süßer Naivität den ersten Mann ihres Lebens entdecken.

Die musikalische Gestaltung sowohl des Frankfurter Museumsorchesters mit Roland Böer am Cembalo als auch der Sänger trägt wesentlich zur Spannung des Abends bei, denn hier wird in großer Bandbreite musiziert und genauestens auf den Affekt abgestimmt.

Die schon erwähnten vorzüglichen Frauen stellen die ebenfalls exzellenten männlichen Kollegen lediglich auf dramatischer Ebene in den Schatten, stimmlich glänzen sowohl Yves Saelens mit flexiblem Tenor als auch Nathaniel Webster mit jugendlich warmem Bassbariton.

Aufgrund der nahtlosen Übergänge der Szenen bekam das Publikum während des Stückes kaum Gelegenheit zu Zwischenapplaus, bedankte sich am Ende aber ausgiebig mit Bravi für die Ausführenden und das Regieteam. Besonders die beiden Mezzosopranistinnen wurden für ihre ausdrucksstarke Rollengestaltung bejubelt. Bleibt noch zu erwähnen, dass die Leistung der Künstler bei einem wüstenähnlichem Raumklima gar nicht genug gewürdigt werden kann. (if)

POINTS OF HONOR
Musik 5/5
Gesang 5/5
Regie 4/5
Bühne 4/5
Publikum 4/5
Chat-Faktor 4/5