Wiesbadener Tageblatt
3. September 2002

Opernforum zu „Platée" im Foyer des Theaters
Von Juno verstoßen

Von unserem Mitarbeiter
Richard Hörnicke

Im olympischen Götterhimmel geht es bekanntlich sehr menschlich zu. Wie auf Erden regieren dort oben Neid und Zwietracht, lebt und liebt man recht ungeniert. Vom Göttervater Jupiter weiß man, dass er den Spielraum seiner amourösen Eskapaden zum Zorn der Göttermutter sehr weit bemisst. Deshalb kommt man auf die Idee, ihr zu beweisen, dass es mit der ehelichen Treue des Gatten doch gut bestellt ist. Man arrangiert eine „göttliche Komödie", an deren Ende ein befreiendes Gelächter steht, denn die vermeintliche Neuerwerbung in Gestalt der Sumpfnymphe Platée erweist sich als so grundhässlich, dass sie nach dem Festgelage von Juno verhöhnt wird und wieder in ihren Sumpf zurückkehren muss.

Im Großen Haus des Wiesbadener Staatstheaters hat am kommenden Sonntag Jean Philippe Rameaus Ballettoper „Platée" Premiere. In einem Opernforum führte Dramaturg Bodo Busse im Verein mit Dirigent Sébastian Rouland, Choreograf Antonio Gomez und Cembalist Yvon Reperant kundig und informativ in die erste Produktion der neuen Spielzeit im gut besuchten Foyer ein.

Man könne diese Oper in ihrer Mischung von Schauspiel, Gesang und Ballett als totales Theater, als Musical in der musikalischen Sprache des Barock bezeichnen. So sei es kein Zufall, dass die Oper nach ihrer Erstpräsentation 1745 vier Jahre später in der Karnevalszeit aufgeführt wurde. Aus festlichen Tanzdarbietungen am französischen Königshof habe sich allmählich die Form der Ballettoper mit eigenständiger Handlung entwickelt. John Dew inszeniere das Werk in der Sprache unserer Zeit.

Sébastian Rouland, Fachmann für die Interpretation barocker Musik, betonte, ihm sei es bei der Einstudierung um die Entwicklung leichten, durchsichtigen Klangs auf neuen Instrumenten gegangen. Tenor Paul Agnew, männliche Verkörperung der Platée, und Sopranistin Thora Einarsdottir vermittelten einen exzellenten, mit Fiorituren gesättigten Einblick in die musikalische Sprache Rameaus.

Am Ende des üppigen und abwechslungsreichen szenischen Geschehens reißt Juno Platée den Schleier vom Gesicht. Ein tragischer Ausgang einer doch recht perfide eingefädelten Intrige.

 

Wiesbadener Tageblatt
10. September 2002

Berufe hinter den Kulissen/
Zum Start unserer neuen Reihe stellen wir die Kascheure vor
Der blaue Mann ist leicht zu machen

Von unserer Mitarbeiterin
Marianne Kreikenbom

Eigentlich würde Christa Stoll lieber an ihre Arbeit gehen, als viel darüber zu reden. Zumal noch jede Menge zu tun ist zu Beginn der neuen Spielzeit. Die blonde junge Frau schaut sich ein wenig hilfesuchend in der Werkstatt um. „Was wollen Sie wissen? Was soll ich erzählen? Es gibt hier gar nichts Besonderes", sagt sie überzeugt. Und der blaue Mann mit Hut dort auf dem Stuhl? Oder dieser stattliche Styroporblock, auf den mit rotem Filzstift die Konturen einer Eule gezeichnet sind? Oder die riesige Narrenkappe, auf der eine Praktikantin gerade Perlenschnüre befestigt? Von den Löwen, dem Kruzifix und dem goldenen Buddha gar nicht zu reden.

Christa Stoll ist Kascheurin und arbeitet seit sieben Jahren am Staatstheater Wiesbaden. Nach Vorgaben des Bühnenbildners, in Absprache mit dem Regisseur und in Zusammenarbeit mit der Theaterschreinerei und dem Malsaal gestalten sie und ihr Kollege Hans-Jürgen Bastian aus leichtem Material wie Styropor oder anderen Kunststoffen, aber auch mit Hilfe von Gips oder Tonformen, mit Papier, Pappe, Stoffen oder Folien plastische Kulissen und Dekorationsteile aller Art, die den Vorbildern in Form und Material täuschend ähnlich sehen. „Kaschieren Alles Theater!bedeutet, immer so zu tun,als wäre etwas echt. Ist es aber nicht." Dreidimensional bildet Christa Stoll für die Bühne Menschen, Tiere, Figuren oder Architekturteile wie Mauern, Säulen und Kamine sowie Landschaften einschließlich Bäumen, Sträuchern, Blumenwiesen und Bergen nach.

Kascheure oder Bühnenplastiker, wie die Berufsbezeichnung korrekt lautet, schnitzen, formen und modellieren, sind Spezialisten im Kopieren von Statuen, Gefäßen und Reliefs. Sie beherrschen nicht nur diverse Modellier- und Kaschier-, sondern auch Reproduktionstechniken wie den Abguss oder das so genannte Tiefziehen zur Vervielfältigung von Ornamenten aller Stilepochen.

Im Ton fachlicher Selbstverständlichkeit erklärt die Kascheurin, dass die Herstellung einer Figur wie die des Blaumanns „ganz schnell" gehe und nicht viel Aufwand bedeute: Man ziehe einer Puppe nur einfach Anzug und Schuhe an, klebe ihr einen Hut auf, sprühe das Ganze ab und härte es. Ein Kinderspiel im Vergleich zu Landschaft und Bodenbelag der Wiesbadener „Aida"-Inszenierung, zur versenkbaren Sphinx in „Peer Gynt" oder zum Kriegerdenkmal für die Shakespeare-Komödie „Viel Lärm um nichts". Letzteres war eine der aufwendigsten Arbeiten seit langem, meint Christa Stoll. Wenns darauf ankommt, etwa in der Endphase einer Produktion, arbeitet sie wie die meisten Theaterleute auch abends oder an den Wochenenden. Allgemein ist der Zeitdruck am Theater enorm.

Ungefähr tausend Überstunden hat beispielsweise das Bühnenbild von „Peter Pan" gekostet. „Da tut es einem schon in der Seele weh, wenn die Inszenierung beim Publikum durchfällt und vom Spielplan abgesetzt wird." Der Erfolg des Weihnachtsstücks „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" im selben Jahr mag sie getröstet haben, denn ohne Kascheure wären die Drachenköpfe von Frau Mahlzahn und Nepomuk, dessen Wohn-Vulkan und die Insel Lummerland undenkbar gewesen.

Aber zurück zu Narrenkappe und Styropor-Eule. Es handelt sich um Dekorationen für das barocke Premieren-Spektakel. Die aufgeklebten Perlenschnüre, so Christa Stoll, imitierten handgefertigte Verzierungen und seien ein einfacher Trick. Aus dem Styroporblock schnitzt sie mit einem gewöhnlichen Fleischmesser eine Bütt in Eulenform. Ein Brunnen, fünf überdimensionale Tiere und ein roter Cadillac standen für „Platée" ebenfalls auf dem Herstellungsplan.

Der Beruf des Bühnenplastikers gehört noch nicht lange zu den staatlich anerkannten Ausbildungsberufen. Seit 2000 kann man ihn im dualen Verfahren „Schule und Beruf" an der Gewerbeschule Baden-Baden erlernen. Die Ausbildung dauert drei Jahre und schließt mit einer bundeseinheitlich geregelten Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer ab. „Bevor ich meine Ausbildung am Wiesbadener Theater anfing, habe ich hier drei Wochen Praktikum absolviert", erzählt Christa Stoll. „Nach der ersten Woche wusste ich, das ist mein Beruf."

Künstlerisches Talent und besondere Begabung für räumlich-plastische Darstellung, handwerkliches Geschick und technisches Verständnis, Formgefühl, Einfühlungsvermögen, Phantasie und Erfindungsgeist und natürlich Interesse fürs Theater nennt Christa Stoll als Berufsvoraussetzungen. Vom Schilfhalm bis zum Barockbrunnen reichen ihre Aufgaben. Was macht sie am liebsten? „Alles!" antwortet sie ohne Zögern. Schwierig seien allerdings nackte Körper. „Meine erste menschliche Figur war eine griechische Götterstatue und eine echte Herausforderung." Bis heute steht das göttliche Werk bei ihr zu Hause im Schlafzimmer.

 

Wiesbadener Kurier
04. September 2002

„Eine Theatralik, die mir sehr liegt"
Der Opernregisseur John Dew vor der Premiere von Jean-Philippe Rameaus „Platée"

Von Kurier-Redakteur
Volker Milch

Wie die Ruhe selbst gibt sich der Regisseur, obwohl die Anstrengungen der Eröffnungs-Oper „Platée" im Staatstheater schon mit dreifachen „Meistersingern" und anderen Unmöglichkeiten verglichen werden.

An schweren Brocken wird es John Dew in Wiesbaden nicht mangeln: Der international engagierte Theatermann, der einst Bielefeld zum Zentrum kecker Opern-Archäologie machte und nach Intendanten-Jahren in Dortmund zu den Bewerbern um den hiesigen Chefposten gehörte, wird in Wiesbaden Wagners „Ring" inszenieren: „Rheingold" hat im Juli 2003 Premiere. Zunächst aber Barockoper im Pseudo-Barock des Großen Hauses. Fühlt sich Dew da humoristisch inspiriert? Er lächelt: Das Team amüsiere sich durchaus über architektonische Details des Theaters, dessen Bau ja der Versuch sei, „eine Zeit wieder zu beleben, in der das Stück geschrieben wurde". Laut denkt Dew über mögliche Parallelen zwischen wilhelminischer Epoche und Versailles nach: „Kunst hat immer etwas mit Politik zu tun, es gibt keine Kunst außerhalb der Gesellschaft". Aber er hasse „Agitprop" im Theater, einem beliebigen Werk aufgepfropfte Gesellschaftskritik.

Ist Jean-Philippe Rameaus doppelbödige „Platée", 1745 in Versailles zur Vermählung des Dauphins mit der spanischen Infantin uraufgeführt, ohne Kenntnis des historischen Kontextes nicht schwer zu vermitteln? Dew widerspricht: „Wir haben das Werk ausgesucht, weil es das lebendigste, verständlichste der Versailler Periode ist. Man könnte auch sagen, es ist ein Schwank". Jedenfalls dürfe das Publikum keinesfalls eine „weihevolle Barock-Inszenierung" erwarten: „Es ist sehr lustig". Der Regisseur findet es selbst ziemlich mutig, die erste Spielzeit eines neuen Intendanten komödiantisch zu beginnen, denn „das Lachen ist das Schwerste für einen Künstler".

Dew kennt das Werk schon lange, sah aber „keine Möglichkeit, ihm gerecht zu werden". Zur „stiltreuen" Aufführung gehöre zum Beispiel der Einsatz des Balletts. Vom Wiesbadener Staatstheater, ansonsten nicht unbedingt ein Hort historischer Aufführungspraxis, kannte er immerhin „beeindruckende Händel-Platten", Resultate der Bemühungen des Kapellmeisters Michael Hofstetter um Händels Opernschaffen.

Den Einsatz für Rameau sieht Dew auch als Erweiterung seiner Erfahrung mit dem französischen Repertoire: „Französische Stücke haben eine Theatralik, die mir sehr liegt". Barocke Ästhetik wird in der Inszenierung durchaus zitiert, etwa in der Choreografie der Ballett-Einlagen, aber Dew lässt die Handlung in einer „märchenhaften" Gegenwart spielen.

Neben den Proben zu „Platée" ist der in Berlin lebende und dort die „angenehme Verbindung von Ruhe und Aufregung" genießende Regisseur schon mit der Konzeption seiner „Ring"-Inszenierung beschäftigt: „Das wird im Moment geboren". Eine komplizierte Geburt, wie Dew verrät, denn sämtliche Bilder der Tetralogie wollen zugleich entworfen werden. Zu wichtigen „Ring"-Inszenierungen der letzten Jahre und Jahrzehnte hat Dew übrigens nichts zu sagen: „Ich schaue mir das nicht an".

Aber in England oder Amerika gehe er „eifrig" ins Schauspiel: „Das ist für mich Erholung und Inspiration".

 

Allgemeine Zeitung
17. August 2002

„Ein Stück mit tausend Ideen"
Opernregisseur John Dew inszeniert in Wiesbaden Rameau bis Wagner

gbs. – Er gehört zu den interessantesten zeitgenössischen Opernregisseuren, die an deutschen Theatern wirken. John Dew gilt als phantasievoller und kluger Mann, immer anregend und sehr vielseitig. Dem 1944 geborenen intellektuellen Theatermann angloamerikanischer Herkunft – bis Sommer 2001 sechs Jahre lang Intendant in Dortmund – eilt der Ruf voraus, dass er Wagner, Verdi und Donizetti mit der gleichen Leidenschaft und Phantasie inszeniert, stets originell, ohne forciert zu sein.

Es ist ein kluger Schachzug des neuen Wiesbadener Intendanten Manfred Beilharz, dass er Dew ab seiner ersten Spielzeit als prägenden Regisseur einbezieht. Beide waren die favorisierten Kandidaten in der Endrunde zur Neubesetzung der Wiesbadener Intendanz. Bereits in Bonn arbeitete Beilharz eng mit Dew zusammen. Jetzt betraute er ihn sowohl mit Rameaus Ballettoper „Platée" zum Spielzeitauftakt des Musiktheaters am 8.September als auch mit der höchst reizvollen Aufgabe, langfristig Wagners „Ring" zu inszenieren („Rheingold"-Premiere: 5.Juli). Inszenierungen von Dew kennt man in Wiesbaden bereits aus Maifestspielen unter Claus Leininger. Dew war damals Oberspielleiter der Oper in Bielefeld.

„Platée" hat Dew bisher noch nie inszeniert. Er verrät: „Das Stück mit 1000 Ideen passt sehr gut zu mir. Rameau war ein großer Musiktheoretiker, zugleich bricht er hier alle Musikgesetze. Das gefällt mir, denn er macht sich über die selbst aufgestellten Gesetze lustig." Quasi en passant, während wir längst schon über den „Ring" sprechen, erfährt man von ihm dann auch, dass „Platée" viel anstrengender ist als die ganze Tetralogie zusammen, „weil so viel passiert, quasi alle zehn Sekunden, im ,Ring alle halbe Stunde".

Den „Ring" hat er vor etwa 20 Jahren bereits in Krefeld-Mönchengladbach inszeniert. Er bezeichnet den Zyklus bewusst als ein Stück, basierend auf den Gedanken des jungen Wagners. An der Interpretation habe sich nicht so viel geändert. Aus seiner Sicht hat Shaw eine treffende Analyse geschrieben, wenn er das Werk als politisch sehr brisant bezeichnet. Es gehe um den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts und den Untergang des Föderalismus. Shaw habe die „Götterdämmerung" nicht interessiert, „weil die Moral der Geschichte ein kleines Mäuschen ist, das aus einem sehr gewaltigen Gebäude herauslugt".

Für Dew ist ähnlich wie bei Mahler das weltumspannende Thema entscheidend, denn gerade die Elemente spielen bei Wagner sehr wesentlich mit. Als er den „Ring" erstmals inszenierte, war die Atomenergie ein heißes Thema. Dazu sagt er: „Sie spielt heute eine sekundäre Rolle, weil wir merken, dass Fossilenergie das große Problem ist."

 

John Dew

Frankfurter Rundschau
10. September 2002

Das Staatstheater Wiesbaden startet mit dem Opéra-Ballet "Platée" von Jean-Philippe Rameau - Ein Gespräch mit dem Premieren-Regisseur John Dew
Warum lachen wir über eine Frau, die hungrig ist nach Liebe?

Mit der Barockoper Platée, die in Wiesbaden die neue Staatstheater-Spielzeit eröffnet, ist der Regisseur John Dew in seinem Element: Der Brite hat französische Raritäten zu seinem Spezialgebiet gemacht. Nicht erst seit seiner 2001 zu Ende gegangenen Dortmunder Intendanz gilt Dew als ebenso unbequemer wie unkonventioneller Theatermann.
Mit John Dew sprach FR-Mitarbeiter Stefan Schickhaus.

FR: Herr Dew, sind französische Opern spannender als deutsche oder italienische, oder woher kommt Ihre lebenslange Fokussierung auf das französische Repertoire?

John Dew: Lebenslang kann man das nicht nennen, obwohl die ersten beiden Opern, die ich überhaupt gesehen habe, Manon und Carmen waren. Dem Französischen habe ich mich als Regisseur zugewandt, weil ich neugierig bin und mich beim immer Wiederkehrenden schnell langweile. Egal, ob barock oder modern: Die französischen Stücke haben immer etwas Komödiantisches. Bei der Barockoper hat das sicher auch mit dem Tanz zu tun - wer in Versailles nicht tanzte, war unten durch.

Diese auf den Geschmack des Königs zugeschnittenen Ballette haben mit der Opernhandlung selbst ja kaum etwas zu tun. Empfindet man sie heute nicht eher als Fremdkörper?

Da ist Rameaus Platée ein gutes Gegenbeispiel: Hier sind die Ballette ganz klar in die Handlung integriert. Es stimmt, für viele Komponisten waren diese Tanzeinlagen damals lediglich eine lästige Pflicht, Gluck sprach einmal von einer "dummen Hüpferei" oder so ähnlich. Am Hof von Versailles waren aber die Opernsänger immer auch ausgebildete Musiker und Tänzer, das kann man sich heute so gar nicht mehr vorstellen - außer man schaut auf den legitimen Erben dieser Gesamtkunstwerke, das Musical, wo auch alle alles können müssen. Eine der lustigsten Tanzstellen in Platée, an der man die Dramaturgie schön herauskitzeln kann, findet sich im letzten Akt - lustig natürlich nur, wenn man ein bisschen was von Musik versteht, ich habe es zunächst auch nicht so begriffen. Der ganze letzte Akt besteht aus einer Verzögerungstaktik, der Auftritt der Juno muss hinausgezögert werden. Das Ballett dazu ist in Form einer Chaconne, also gebaut nach dem Prinzip der Wiederholung. Diese Wiederholungen aber finden einfach kein Ende. Rameau verarscht damit geradezu die Struktur der Musik, ihren seitenlangen Leerlauf. Das dem Publikum zu vermitteln ist meine Aufgabe, und die ist hier sehr reizvoll.

Während die italienische Barockoper in den letzten Jahren eine Renaissance erfuhr, liegt die französische noch weitgehend im Dornröschenschlaf. Woran kann das liegen?

Mittlerweile ist die Zeit gekommen, dass man diese Opern wieder ernst nimmt. Vor William Christie gab es einfach keinen Dirigenten, der damit umzugehen verstand - so wie es damals in Zürich einen Nikolaus Harnoncourt brauchte, der einen mit Monteverdi geradezu hypnotisieren konnte. Gerade die Franzosen fanden es übrigens noch jüngst völlig absurd, ihre eigenen Opern wieder zu spielen.

Ihre Stärke als Regisseur, heißt es, sei die Personenführung. Haben wir in dieser Rameau-Oper überhaupt individuelle Personen, oder werden nicht eher schematische Figuren verschoben?

Nein, in Platée spielen Menschen, wie man sie überall auf der Straße treffen kann. Es sind zwar Nymphen und Götter - Platée selbst ist eine alternde Nymphe -, aber deren Tugenden und Laster sind auch unsere Tugenden und Laster. In einer Komödie wie Platée sind das natürlich Clowns, weil alles überzogen dargestellt ist, aber gleichzeitig sind es auch Menschen. Das ist überhaupt die Frage des Stückes: Warum lachen wir über eine Frau wie Platée, nur weil sie ein wenig überreif geworden ist? Wir lachen über eine Frau, die hereingelegt wird, die hungrig ist nach Liebe. Aber wie oft sind wir selbst liebeshungrig geblieben, sind ausgelacht worden? Wie häufig in der großen Kunst bleibt ein gewisses Unwohlsein in einer komischen Situation.

Lange Zeit galten Sie als Enfant terrible der Opernregie, als einer, der nicht immer Sympathieträger sein wollte, sondern auch mal laut wurde. Da muss eine Rameau-Oper fast wie eine Zen-Übung wirken: Hier ist Contenance ja geradezu Pflicht.

Ich gebe zu, dass Platée das schwierigste Stück ist, das ich je gemacht habe. Aber gerade in diesem Stück wird der für die Zeit übliche Schematismus und Formalismus ad absurdum geführt, das Stück hat einen wunderbaren Fluss. So wie das steife Protokoll von Versailles mit der allzu menschlichen Realität nichts zu tun hatte: Es muss dort vielmehr furchtbar gestunken haben, man urinierte in die Kamine, viel zu viele Menschen drängten sich auf engstem Raum. Jeder, der ein Schwert besaß, hatte Zugang zu allen Königsräumen, und wer kein Schwert hatte, konnte am Eingang eines mieten. Das muss schon sehr kurios gewesen sein.

An welcher Realität haben Sie sich bei der Inszenierung orientiert: am Protokoll-Versailles oder am allzu Menschlichen?

Das alles habe ich nur im Hinterkopf. Die Oper spielt hier unabhängig von der Zeit, so, als wäre sie erst gestern für uns komponiert. Statt Versailles findet man eher Wiesbaden wieder, der Ort spielt bei meiner Arbeit immer irgendwie mit hinein.

Hat man Sie gewarnt vor dem Wiesbadener Publikum und dessen Traditionsbewusstsein?

Vor dem Berliner Publikum hatte man mich einmal gewarnt, und vor den kalten Norddeutschen, und dabei habe ich in Hamburg und Kiel das wärmste Publikum überhaupt gefunden. Was die konventionelle Einstellung des Publikums angeht: Nach Dortmund kann mich nichts mehr überraschen.

Die Auswüchse des modernen Regietheaters, so sagten Sie einmal sinngemäß, verprellten irgendwann noch das letzte Publikum. Sind Sie nicht selbst ein Vertreter des Regietheaters?

In Deutschland hat mich immer zum Exoten gemacht, dass ich aus einer ganz anderen Tradition komme. Viele große Theatermacher finden mich suspekt und attestieren mir mangelnde Intellektualität, weil ich für das Publikum spiele. Ja, ich habe nach wie vor Angst, dass wir das Publikum verlieren und immer noch nicht begriffen haben, dass wir allein für dieses Publikum da sind. Wenn man wie hier ein lustiges Stück macht, ist es immer die größte Schwierigkeit, den Darstellern zu vermitteln, dass das Publikum auch Spaß haben möchte. Ich möchte dann einfach keine traurigen Gesichter sehen. Das Publikum zahlt nicht Geld, um irgendjemandes Nierensteine anzuschauen.

Platée hat in Wiesbaden Premiere am Sonntag, 8. September, 19.30 Uhr. Heute, Samstag, findet im Staatstheater das große Theaterfest zur Spielzeiteröffnung statt. Der Eintritt ist frei, Beginn 14 Uhr.