Frankfurter Rundschau
Freitag, 9. Januar 2004

"Warte, bis die Sänger dazu kommen"
Eine weitere Verdi-Rarität für Frankfurt: GMD Paolo Carignani dirigiert "Giovanna d'Arco" in der Alten Oper

Paolo CarignaniFrankfurter Rundschau: Herr Carignani, wie viele Sänger kennen Sie, die die Giuseppe Verdis Oper "Giovanna d'Arco" derzeit im Repertoire haben?

Paolo Carignani: Ich persönlich? Vielleicht drei.

FR: Ist es eine Katastrophe, wenn wie jetzt der Sänger des Carlo VII. kurzfristig absagt?

PC: Natürlich, das kann zur Katastrophe werden. Wir haben eine Liste bekommen, nach der vier Tenöre die Rolle des Carlo VII. schon einmal studiert hatten. Da hat sich zum Beispiel ein ganz junger italienischer Tenor gemeldet - aber ich weiß genau, dass Giovanna d'Arco seit zehn Jahren in Italien nicht mehr gespielt wurde. Er kann sie also nicht gesungen haben. Vielleicht einstudiert, aber nie wirklich gesungen! Jetzt haben wir einen Australier gefunden, Julian Gavin, der die Partie bereits auf der Bühne gegeben hat. Speziell bei dieser Oper braucht man einfach unbedingt schöne, ausdrucksstarke Stimmen, sie sind entscheidender noch als sonst bei Verdi.

FR: Gibt die "Giovanna" ansonsten nicht viel her?

PC: Es ist ein interessantes Stück. Wobei man es eher als Zusammenfassung dessen sehen muss, was Giuseppe Verdi bis dahin geschrieben hatte. Es ist etwas konservativ, und, ehrlich gesagt, ganz auf die Singstimme konzentriert. Die schöne Stimme ist wichtiger als das Orchester, der Chor, auch die Handlung. Ohne die richtige Italianitá in der Stimme kann das Stück schnell schwach werden.

FR: Gibt es nicht, vergleichbar mit der Szene der Alten Musik, einen Zirkel von Spezialisten, die sich gezielt auf Verdi-Raritäten fokussieren?

PC: Nein, leider, niemand spezialisiert sich auf unbekannten Giuseppe Verdi. Für eine CD-Einspielung eignet sich schon mal jemand die Partie an - unsere Giovanna-Sängerin Marina Mescheriakova etwa hat das kürzlich für die bislang erste Jérusalem-Aufnahme gemacht. Aber nur für zwei Live-Vorstellunegn? Nein, dafür ist die Arbeit zu groß. Und da sind auch oft die Agenten der Sänger dagegen, denn dieses Repertoire ist viel zu selten gefragt. Auch das Marketing sorgt also dafür, dass immer nur das Gleiche gespielt wird.

FR: Als einen Spezialisten für seltenen Verdi könnte man jedoch Sie bezeichnen, nach all dem, was Sie in Frankfurt schon an Raritäten vorgestellt haben.

PC: Nein, ich bin kein Spezialist. Was heißt das auch? Besonders gut? Besonders interessiert? Auf jeden Fall wäre ich nicht besonders inspiriert, wenn ich nur noch diesen Stoff machen würde. Sicher, ich habe schon viele Verdi-Opern dirigiert, aber das liegt schlicht auch daran, dass man mich als Italiener gerne für solche Produktionen einlädt.

FR: Etwa zur gleichen Zeit wie die "Giovanna" entstand auch die Oper "Nabucco". Das eine Werk ist unbekannt geblieben, das andere Werk heute ein Riesenerfolg. Wo sind die Unterschiede zwischen den Opern, wo die Gemeinsamkeiten?

PC: In Giovanna d'Arco fehlt der entscheidende Hit. Zu Nabucco fällt jedem sofort der Gefangenenchor ein, ansonsten aber kennen die Leute auch hier keinen Ton der Oper! Die beiden Opern ähneln sich überhaupt sehr, Verdi arbeitet jeweils mit den gleichen Mitteln.

FR: Warum wird "Giovanna d'Arco" nur konzertant gemacht und nicht im Rahmen einer Inszenierung?

PC: Es gibt Stücke, die sich leider für das Repertoire-Theater verbieten, denn die Nachfrage des Publikums wäre nicht groß genug. Wenn man eine große Bühnenproduktion macht, muss sie auch ins Repertoire passen und über vielleicht fünf Jahre regelmäßig gespielt werden. Denn der Aufwand ist riesig, ein Regisseur braucht sechs bis sieben Wochen Arbeitszeit mit den Sängern. Übrigens stehen immer weniger bekannte Sänger für solch eine lange Zeit zur Verfügung, das Problem kenne ich bei vielen Opern. In Italien wird höchstens drei Wochen geprobt, manche Stars kommen vielleicht auch nur für eine Woche - sie denken, sie wissen ohnehin, was sie machen müssen. Sie glauben zu wissen, was Verdi wollte, und was der Regisseur sagt, ist unwichtig. Das ist ein Problem, das zunehmend größer wird.

FR: Eine Oper ohne Szene: Ist damit das Kunstwerk überhaupt komplett?

PC: Entscheidend bei Verdi ist immer der Mensch, er macht das Kunstwerk lebendig. Als ich als Student meinen ersten Verdi-Klavierauszug sah, war ich enttäuscht, weil die Harmonien so einfach waren. Aber mein Lehrer sagte: Warte, bis die Sänger dazu kommen, der Chor! Der Verdi gerade dieser frühen Phase hat in seiner Einfachheit direkt die Gefühle der einfachen Menschen auskomponiert, ja er war ein geradezu kommunistischer Komponist, könnte man sagen. Verdi konnte mit allen kommunizieren, das war seine Kunst. Der Gefangenenchor aus Nabucco etwa hat eine ganz einfache, einstimmige Melodie, jeder kann sie mitsingen. So hätte in Deutschland niemand für einen Opernchor komponiert.

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Dokument erstellt am 08.01.2004 um 17:08:03 Uhr
Erscheinungsdatum 09.01.2004