Neue Zürcher Zeitung
28. Juli 2003, 07:35

Bayreuther Festspiele
Hinterfragte Rollenbilder
"Der fliegende Holländer", inszeniert von Claus Guth

von Marianne Zelger-Vogt

Ruhe vor dem Sturm? Ehe der skandalumwitterte Christoph Schlingensief im kommenden Sommer mit "Parsifal" im Bayreuther Festspielhaus einziehen wird, haben Claus Guth und sein Ausstatter Christian Schmidt eine Inszenierung des "Fliegenden Holländers" präsentiert, die alles andere als konventionell ist und dennoch einhellige Zustimmung des Premierenpublikums gefunden hat. Überlegt, konsequent, unaufgeregt sachbezogen, weit offen für die Musik, mit der die Bühne ständig Zwiesprache hält, klar und zugleich geheimnisvoll wirkt diese jüngste Einstudierung der Romantischen Oper am Grünen Hügel.

Das Auffälligste: Es gibt kein Meer, keine Klippen, Schiffe nur in Spielzeug- und Modellformat oder in Öl gemalt, Sturm und Wellengang werden mittels raffinierter Beleuchtungseffekte und Projektionen suggeriert. Alle drei Aufzüge spielen in einem geschlossenen grossbürgerlichen Interieur, dessen Tapeten aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu stammen scheinen. Spannung verleiht dieser Bühnenarchitektur eine breite Treppe, die in elegantem Schwung ins Obergeschoss führt. Zu Beginn geht ein kleines Mädchen in blauem Kleid mit Matrosenkragen diese Treppe hinauf, ein weisses Segelschiffchen in der Hand: Senta als Kind. Es erscheint in jedem Akt, bald mit einem Buch (der Holländer-Geschichte), bald mit einer Puppe. Dieses Kind steht für Sentas frühe Prägungen. Aus ihrer Perspektive, genauer: aus ihrer Innenschau wird die Oper hier erzählt. Das erinnert an die Zürcher "Fierrabras"- Inszenierung von Guth und Schmidt, die als Phantasiestück des Komponisten Franz Schubert angelegt war.

Doch im Bayreuther "Holländer" geht es nicht nur um die Geschichte des Holländers, der, nach Erlösung durch die unbedingte Treue einer Frau suchend, über die Meere irrt; Guth und Schmidt holen vielmehr ans Licht, was dieser Geschichte zugrunde liegt: die Rollenbilder einer patriarchalen Gesellschaft, deren Eckwerte männlicher Besitzanspruch und weibliche Selbstaufgabe sind. Nicht Liebe, sondern Abhängigkeit verbindet in einer solchen Gesellschaftsordnung Mann und Frau, und die Verhaltensmuster perpetuieren sich. Wohl folgt Senta am Schluss dem Holländer die Treppe hinauf, doch es gelingt ihr nicht, die Wand zu durchbrechen, durch die er entschwunden ist, aus ihrer Innenwelt ins Freie zu gelangen. Nur eine Senta-Puppe schwebt zwischen den Händen eines Gerippes in Kapitänsuniform in den Bühnenhimmel - nicht der geglückteste Moment der sonst so ästhetischen Inszenierung.

In diesem System fallen für Senta Vater und Holländer zusammen. Jaakko Ryhänen (Daland) und John Tomlinson (Holländer) gleichen sich nicht nur äusserlich, sondern auch im dunklen, kehlig rauen Klang ihrer schweren Bassstimmen. Um die Identität zu verdeutlichen, macht Schmidt die obere Wandhälfte zum Spiegelbild der unteren. Aber auch Senta spiegelt sich, einerseits in dem kleinen Mädchen, anderseits in der alten Frau Mary (Uta Priew). Während diese blind zu sein scheint, halten sich Senta, der Holländer, Daland, wirklichkeitsfremd, introspektiv, immer wieder die Hände vors Gesicht.

Die Geschichte des Holländers, wie Guth und Schmidt sie erzählen, erfüllt sich nicht in Erlösung und Verklärung, sondern dauert als fataler Kreislauf fort. Und so ist es vielleicht sogar folgerichtig, dass diese Aufführung nicht von überragenden Sängerpersönlichkeiten getragen wird. John Tomlinson darf als Darsteller keine Idealgestalt sein und kann es als Sänger mit seinen heutigen Mitteln nur bedingt sein. Und die Bayreuther Senta-Debütantin Adrienne Dugger wartet zwar mit kraftvollen Spitzentönen auf, doch für die grossen Melodiebögen fehlt ihr nicht nur der weite Atem, sondern auch das Gestaltungsvermögen. Der Eindruck einer gewissen Starre, den ihr Spiel - in dieser Inszenierung durchaus rollenkonform - erweckt, wird so durch das vokale Erscheinungsbild der Figur verstärkt. Umso mehr beeindruckt Endrik Wottrich mit seinem nuancierten Porträt des von Senta abgewiesenen Jägers Erik.

Zu den grossen Pluspunkten der Aufführung zählen einmal mehr die Chöre, die bei aller klanglichen Fülle unerhörte Ausdrucks- und Textdeutlichkeit gewinnen. Ermöglicht wird dies nicht zuletzt durch den Dirigenten Marc Albrecht, der die "Holländer"-Partitur ganz ähnlich auslegt wie Guth die szenische Handlung: ohne fiebrige Überhitzung, in klaren Formverläufen, bei geschärftem, aber stets aufgelichtetem Klangbild, in genau kontrolliertem Wechsel von Spannung und Entspannung. Bemerkenswert, wie schnell das Festspielorchester unter Albrechts Leitung zusammenfindet.

 

Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung, 27. Juli 2003, Nr. 30 / Seite 19

Bayreuth
Senta hinter den Spiegeln

Von Eleonore Büning

Das Deprimierendste an den Bayreuther Festspielen des letzten Vierteljahrhunderts waren die unfrohen Produktionen Wolfgang Wagners und ihr ritualisiertes Recycling. Die gute Nachricht: Nie wieder. Erstmals steht in diesem Sommer keine Chef-Inszenierung mehr auf dem Programm. Der symmetrisch sortierte Faltenwurf der Festwiese, das puffbeleuchtete Gralsglimmen - alles Fundus, fertig, abgespielt.

Ja, der dreiundachtzigjährige Prinzipal beteuerte mehrfach öffentlich, er werde in alle Ewigkeit die Finger vom Regieführen lassen, weil jetzt die Jugend an der Reihe sei - wobei man sich schon mal als krönenden Abschluß in der Riege mehr oder weniger junger Wilder (nach Schlingensief mit "Parsifal" 2004, Marthaler mit "Tristan" 2005 und von Trier mit dem "Ring", 2006) die schöne, junge, forsche Wolfgang-Wagner-Tochter Katharina vorstellen sollte. Prognose: "Lohengrin" 2007. Das Stück bereitet sie gerade für die Ungarische Staatsoper in Budapest vor. Womit natürlich nebenbei auch endlich die heuer erstaunlich lau heruntergespielte "Erbfolge"-Frage geklärt wäre.

Um Gerüchten aus dem Weg zu gehen, ließ sich die Thronfolgerin auf der Pressekonferenz gar nicht erst blicken. Dabei sind die Gerüchte oft das Beste, weil Produktivste an Bayreuth. Das Zweitbeste sind die Einflüsterungen der Eingeborenen. Da die Stadt auf Monate im voraus an den Festvorbereitungen der arbeitgebenden Wagner-Werkstatt partizipiert, kennt jeder irgend jemanden, der jemanden kennt, der schon einen Zipfel von der neuesten Produktion gesehen hat. Hält man sich ein paar Tage länger auf, lernt man garantiert das Mädchen kennen, das vorletztes Jahr vom Drachen fiel. Kommt man frisch an zur Eröffnung, fällt man laufend Menschen in die Hände, die schon Bescheid wissen.

Kein Schiff wird kommen

Eine "tolle Treppe" habe der neue "Fliegende Holländer", erklärt die Aushilfe im Biergarten, nur leider keine Pause und kein Meer. Der Tankwart ist traurig: kein Schiff werde kommen. Dabei zeigt der "Nordbayerische Kurier", den er verkauft, auf Seite 19 im Vorabdruck einen veritablen Viermaster mit holländermäßig blutroten Segeln; auch besagte Treppe ist abkonterfeit, vollgestopft mit Chordamen in Frau-Antje-Trachtenhäubchen dergestalt, daß man sich eigentlich schon wieder alt, müde und sehr satt fühlt, wenn man das Festspielhaus betritt und angesichts der geballten Redundanzen am liebsten ein Nickerchen an der Schulter des Nachbarn halten möchte. Aber dann wird es dunkel, die Wagner-Gardine bleibt vorläufig geschlossen, und von irgendwoher spielt eine eilige, durch nichts mehr aufzuhaltende Musik.

Auftrumpfend scharf

Die Musik ist eine dynamische Zeitkunst. Sie läßt sich nicht einfangen durch schlechte Standfotos - noch viel weniger durch dürre Worte. Erst tönt dünn das Holländermotiv, molto marcato. Schnell und offenbar klein besetzt, aber dennoch volltönend eilt das schreckliche Meeresbrausen vorbei und kehrt zurück. Perfekt abgemischt die Horn-, Englischhorn- und Fagottklänge im durchsichtig glühenden Erlösungschoral; und der Klarinettentriller, der in die Steuermann-Ballade überleitet und für gewöhnlich untergeht, ist diesmal von einer boshaft-teuflischen Aufdringlichkeit, so wie es sein soll; tänzerisch elegant akzentuiert, zugleich scharf auftrumpfend, swingt die Ballade selbst. Kurzum: Marc Albrecht, Jahrgang 1964, setzt bei seinem ersten Bayreuth-Dirigat alles auf eine Karte.

Der Preis dafür ist zu verkraften: Kommt es anfangs in der Ouvertüre noch vor, daß ihm ein Horn entgleist, und laufen ihm zu Beginn des ersten Aktes noch ein- oder zweimal die Sänger davon, so hat Albrecht das Orchester alsbald im Griff und hält bei von ihm selbst vorgelegter Unbedingtheit der dynamisch-agogischen Zeitgestaltung doch die Zügel fest und sicher. Musiziert wird ein "Holländer" - in der kruden Erstfassung von 1841/42 -, dessen Widersprüchlichkeit lange nicht mehr so offen zutage trat und zugleich so dicht verfugt, noch in den aufeinanderprallenden Antagonismen so logisch erschien. Nachdem das Vorspiel wie ein schöner Spuk vorbeigaloppierte: verdutztes Schweigen. Dann hebt sich die Gardine, und sofort ist auch szenisch alles zum Greifen nah: das Meer, der Sturm, die Obsession.

Das Böse bleibt draußen

Ein kleiner Bewegungschor aus weißgekleideten Matrosen stemmt sich, gruppenweise mit den eignen Körpern Gischt und Welle formend, gegen hohe Gründerzeit-Türen. Mit Erfolg: Der Sturm beruhigt sich, das Böse bleibt vorläufig noch "da draußen". Während der Rest des Chores vorderhand im Graben bleibt und "hier drinnen", im Villen-Vestibül der Kaufmannsfamilie Daland mit der sich frei nach oben durch den Raum schwingenden Endlos-Treppe, eine etwa achtjährige Klein-Senta im Matrosenkleidchen erst mit einem Segelschiffchen und danach mit Holländerpüppchen spielt.

Das Kind, mit Schleife im Haar und selbstverständlicher Unschuld bewaffnet, wundert sich wie Lewis Carrolls "Alice hinter den Spiegeln" kein bißchen, wenn Puppen lebendig werden und Möbel umstürzen. Der hohe Raum ist von der Art, wie sie im untergegangenen Hause Usher üblich war oder von Mary Wollstonecraft-Shelley beschrieben worden ist: Hier fallen Bilder von der Wand, spiegeln sich fremde Schatten in den Fenstern, könnten jederzeit tote Tanten oder Gouvernanten auf der blutrot mit Samt verhängten Galerie erscheinen. Und die imposante Treppe ist von jener Südstaaten-Sorte, auf der jeden Augenblick Bette Davies irren Blicks auftauchen mag, der Lockvogelmelodie "Hush-hush, sweet Charlotte" nachlaufend.

Überwältigte Jungfer

Regisseur Claus Guth, Jahrgang 1964, und Ausstatter Christian Schmidt, Jahrgang 1966, haben kurzerhand die deutsche, romantische Gespenstergeschichte zu einem britischen "Seapiece" umgeschrieben. Statt des ewig über die Weltmeere fliegenden, markig-nervigen Holländerkapitäns, der seine süße, blondbezopfte Holländerfrau vorsichtshalber nicht der Untreue überführen und mit ins gottlästerliche Verderben ziehen möchte, zeigen sie einen hinter langem Brahmsbart versteckten älteren Zausel, der durch Wände gehen kann, sowie eine in Kindheitserinnerungen schwelgende, vom Vaterkomplex schier überwältigte Jungfer. Spiegelverkehrt stapelt sich im Leben dieser sitzengebliebenen Senta Traum über Wirklichkeit: Oberhalb der Treppe führen die Türen ins Nichts.

Wie ein Spiegelbild ihres Vaters tritt ihr der Liebhaber entgegen, und mitunter hat sie es sogar mit beiden Graubärten zugleich zu tun. Diese Rechnung geht auf.Aller Peinlichkeiten, die der Senta-Rolle sonst eignen, ist das Stück für diesmal enthoben: Blutjunge Blondmädels (Silja) haben für gewöhnlich nicht Kern und Volumen für die Partie, den dramatischen Sopranen indes mangelt es in der Regel an der zarten Erscheinung. Bayreuths neue Senta, die amerikanische Sopranistin Adrienne Dugger, bringt für ihr Debüt beides mit: enorme Stimmkraft und steifleinene Glaubwürdigkeit wie auch Inbrunst, die die ihr zugedachte Rolle abverlangt.

Gruselkomik

Auch John Tomlinson paßt als Holländer perfekt ins Konzept der gothic novel. Die Choreographie in seinem Duett mit dem Singspiel-Kapitän Daland (Jaakko Ryhänen), der exakt denselben marineblauen Zweireiher trägt, entbehrt nicht einer gewissen Gruselkomik. Und wann immer recht rauh Nord- oder Ostsee gefragt sind im Orchester, wird das Paisley-Muster der Wohnzimmertapete mit mächtigen Unterwasser-Videos überblendet, in denen es schäumt oder blubbert. Egal, wie viele Schiffe stranden, durch alle drei Akte hindurch bleibt das Bühnenbild stets dasselbe: ein Treppenhaus der Durchgangsmöglichkeiten. Nur die Schatten wachsen an der Wand, und die Gespenster vermehren sich, lassen Türen auffliegen, führen hölzerne Maskentänzchen auf und nehmen im dritten Akt vollends überhand.

Knochenmann kopfüber

An dem musikdramatischen Höhepunkt, da Matrosenchöre und Holländerchor ineinanderrasseln müßten, kippt der Gruselkrimi naturgemäß um in eine banale Geisterbahngroteske: Denn nichts kann noch schrecklicher sein als der Schrecken selbst. Aus dem Schnürboden senkt sich kopfüber ein Riesenknochenmann im kapitänsblauen Zweireiher, taucht die Skelettfinger tief in die Versenkung und zieht Alice-Bette-Senta mit sich in die Höhe. Very british wirkt auch das den Erlösungsschluß verweigernde Finale: Statt erwartungsgemäß von der Treppe zu springen, folgt Senta ihrem Holländer einfach durch die Wand - um sich frustriert wiederzufinden vor blanker, undurchdringlicher Mauer.

Eine Bruchlandung, die in der Seele weh tut. Es gibt viele Bilder dieser Art in der neuen "Holländer"-Produktion, die etwas Archetypisches an sich haben. Man muß nicht mit jedem Detail einverstanden sein. Aber niemand wird bestreiten können, daß die Werkstatt Bayreuth mit dieser Regiearbeit endlich wieder Anschluß gefunden hat an das Reflexionsniveau der Wagner-Exegese in den deutschen Stadttheatern und anderswo auf der Welt. Wenn es überhaupt etwas zu meckern gibt, dann an der Sängerbesetzung: Es wurde am Premierenabend chronisch zu hoch (Senta) oder zu tief (Daland und Mary) oder zu schwerbeladen vibratoverunziert (Holländer und Steuermann) gesungen. Einzige Ausnahme: Endrik Wottrich in der Rolle des Erik. Zu Recht erntete er am Ende eine Extraportion Jubel.

Auch das Festspielorchester zeigte sich auf der Bühne, um den Applaus persönlich abzuholen: in leichter, bunter Sommerware, hellen Hemdchen, kurzen Hosen, wie sie im überhitzten Graben des Festspielhauses beim unsichtbaren Orchester seit je gang und gäbe sind, grüßten sie mit ihren Instrumenten in der Hand freundlich hinüber ins Publikum. Auch das hat es bislang bei einer Festivaleröffnung nicht gegeben. Wenn die Rituale der Kleiderordnung so selbstverständlich aufgehoben werden, ohne daß noch ein Hahn danach kräht, dann ist die Revolution, auf die alle warten, vielleicht schon gewesen.

 

DER TAGESSPIEGEL
27.7.2003

Trepplein deck dich
Wie sich die Bayreuther Festspiele das 21. Jahrhundert vorstellen: Claus Guth inszeniert den „Fliegenden Holländer"

Von Jörg Königsdorf

Bis ins Unterbewusstsein sind es genau zweiundvierzig Stufen. Eine große, halbgewendelte Stiege führt in diese Rumpelkammer verdrängter Wünsche und Begierden und wirft unheimliche Schlagschatten, die man aus alten Hitchcock-Filmen zu kennen glaubt. Der Fliegende Holländer, Wagners ewig verdammter Liebessucher, wird über sie in die triste Living Hall der Familie Daland gelangen, und Kapitänstöchterchen Senta wird später vergeblich auf dieser Treppe ihrer Chimäre des untoten Seemanns nachjagen.

In der Bilderwelt des psychologischen Surrealismus hat Claus Guth den neuen Bayreuther „Holländer" vor Anker gehen lassen, der viel beschworene Neuanfang, bei dem jüngere Regisseure wie Guth, Schlingensief und Lars von Trier für frischen Wind auf dem Grünen Hügel sorgen sollen, steht überraschenderweise im Zeichen René Magrittes und James Ensors. Ein Neuanfang ist es tatsächlich: Nach dem eher altmodischen „Ring" von Jürgen Flimm, nach Philippe Arlauds dekorativ gestelltem „Tannhäuser" ist mit Guth die Musiktheater-Ästhetik des 21. Jahrhunderts im Festspielhaus angekommen – und mit ihr allerdings auch das Misstrauen, das dieses Jahrhundert der Oper und ihren großen Gefühlen entgegenbringt.

Denn die wundersame Mär vom ruhelosen Mann auf der Suche nach der „Treu bis in den Tod", allzu querständig scheint sie dem Zeitgeist des Musiktheaters zu sein, das mit der „Krieg ich nicht den einen, nehm' ich eben den anderen"-Philosophie der Barockoper weit mehr anfangen kann als mit den schicksalhaften Unbedingtheiten Verdis und Wagners. Die werden, weil nicht passend, eben mit mehr oder weniger Gewalt passend gemacht – und die Regie hat für das abnorme Verhalten der Figuren eine möglichst lückenlose psychoanalytische Rechtfertigung vorzulegen. Die Leidenschaft wird zum Symptom, das Regietheater frisst seine Figuren. Denn die schrumpfen im Zuge der Gefühlszerlegung mehr und mehr zu normalen Menschen, die nur durch ihre Defekte ein begrenztes Interesse auf sich ziehen können – oder sie geben sogar völlig ihre Existenz als handelnde Identifikationsobjekte auf und mutieren vom singenden Menschen zur bloßen Projektion ihrer Umwelt.

Die Gefahr des schleichenden Bedeutungsverlustes ist in dieser Bayreuther Eröffnungspremiere ebenso deutlich präsent wie die ausgeprägte optisch-kulinarische Qualität dieses zeitgeistigen Musiktheaters: In ästhetischer Hinsicht ist die Ausstattung von Christian Schmidt tipptopp: Das öde Treppenhaus, das auf halber Bühnenhöhe gespiegelt wird, ist hoch fotogen, nahezu uneingeschränkt kompatibel auch für das konservativere Publikum (ein paar Premierenbuhs sind diesmal nur das Salz in der Jubelsuppe) und darüber hinaus auch noch suggestiv genug, um der Szene eine halbe Stunde lang atmosphärische Vorschussenergie zu geben. Die Matrosen, die als Spukgestalten im Halbdunkel diesen verwaisten Raum bevölkern, der Steuermann (anmutig gesungen von Tomislav Muzek), der mit einem Kerzlein in der Hand umherirrt – das verträgt sich durchaus mit Wagners brausender Stimmungsmalerei. Auch später, im dritten Akt, wird die Chorszene mit zum Gelungensten des Abends gehören: Eine groteske Maskenparade wie auf den Gemälden James Ensors, bei der am Ende ein riesiges Pappmachégespenst vom Schnürboden herunterfährt.

Doch das ist letztlich nur wenig mehr als der dekorative Rahmen für eine Interpretation, die sich allzu bald im Gespinst ihrer Bedeutungsstränge verheddert. Denn nicht genug damit, dass Guth die ewige Unerfüllbarkeit weiblicher Wunschträume dadurch deutlich macht, dass Senta in drei Lebensaltern gleichzeitig präsent ist, auch der Holländer darf nicht länger Holländer sein, sondern wird zum Double Dalands. Mithin die Geschichte vom Mädchen, dass nicht erwachsen werden will (und sich immer noch die Hände vors Gesicht hält, wenn es etwas nicht wahrhaben will): Senta sucht im Geliebten immer nur den Vater, der Klein-Senta einst aus dem Holländer-Märchenbuch vorgelesen hatte, bekommt Probleme, als ein echter Mann (Erik) mit diesem Wahnbild konkurriert, und bleibt schließlich mit der eigenen Zukunft als frustrierte Frau Mary vor Augen zurück – ohne die Aussicht auf Trost im Jenseits und auf den von Wagner nachkomponierten Erlösungsschluss selbstredend.

Doch was sich als Konzept noch einigermaßen plausibel ausnimmt, wirkt auf der Bühne des Festspielhauses oft ziemlich gezwungen, erschöpft sich im andauernden treppauf, treppab an der Schwelle zum Unterbewusstsein und im Gefuchtel mit Handpuppen als offenbar unentbehrlichen (und von Guth besonders gern eingesetzten) Versatzstücken der Bedeutungsaufspaltung. Persönliche Präsenz kann da keiner der Beteiligten gewinnen. Senta nicht, deren Konflikt zwischen Traum und Realität seltsam prosaisch bleibt, und der Holländer erst recht nicht, der als bloße Projektion Sentas ohnehin nicht leidensfähig ist und zudem dauernd Gefahr läuft, mit seinem Alter Ego Daland verwechselt zu werden. Da Guth sich nicht dafür entscheidet, die Geschichte aus der Perspektive einer Figur zu erzählen und statt dessen die Wechselwirkung aller auf alle setzt, bleiben letztlich alle Figuren in dieser Grauzone der Wirklichkeit unscharf.

Um wenigstens vokal eine eigene Identität zu behaupten, nimmt sich John Tomlinson als Holländer ein Höchstmaß an Willkür heraus, überdehnt und überzeichnet seinen schon etwas abgeblätterten Bass, um sich gegen Jaakko Ryhänens statischen Daland abzusetzen. Musikalisch ist dieser „Holländer" ohnehin eher eine Produktion, die den Werkstattcharakter des Neuen Bayreuth einfordert, statt bereits Standards moderner Wagner-Interpretation zu setzen. Der verhärtete Glanz von Endrik Wottrichs Erik, das warmherzige, aber gänzlich uncharismatische Timbre und die gesunde (wenn auch nur begrenzt treffsichere) Höhenkraft von Adrienne Duggers Senta – all das gehört mehr in den Bereich redlicher, akzeptabler Bewältigung als zum Hort singulärer Sangesereignisse.

Mit Marc Albrecht steht ein junger Dirigent am Pult, und auch er verweigert sich der großen Leidenschaft, dirigiert das Schauerstück gewissermaßen als „Sommernachtstraum". Schon der Ouvertüre fehlt jegliche romantische Abgründigkeit, jenes Anrennen gegen die Grundfesten der Welt, das ein Gegengewicht zur seltsamerweise extrem breit ausgespielten Andacht des Erlösungsthemas hätte bilden können. Sicher, vieles klingt sehr elegant und in der für den „Holländer" nur begrenzt geeigneten, gedeckten Festspielhaus-Akustik sogar duftig und filigran, doch zündende Impulse vermag Albrecht nicht zu geben.

Ein Neuanfang, immerhin: Das Musiktheater der Gegenwart ist in Bayreuth angekommen. Nur, was es dort eigentlich will, muss sich noch zeigen.

 

Die Tageszeitung
Nr. 7115 vom 28.7.2003, Seite 17, 214 Zeilen (Kommentar)

Zu viele Kapitäne in dieser Welt

Eigene Wege verboten: Die Bayreuther Festspiele 2003 begannen mit einer überraschend neuen Lesart von Wagners "Fliegendem Holländer" als fein gesponnenes Drama von der Unfreiheit der Töchter. Vielleicht weil hier niemand mehr etwas erwartet hatte, war die Freude doppelt groß

von SABINE ZURMÜHL

Eine merkwürdige Sommerdebatte in den Medien stellt die Frage, ob nicht inzwischen "das Feuilleton" zu weiblich geworden ist. Als Nachricht von der Bayreuthfront lässt sich, zumindest, was die Pressekonferenzen betrifft, nur Entwarnung geben: Das deutsche Feuilleton, soweit es dort sprechend und fragend in Erscheinung tritt, ist männlich, ist arrogant (O-Ton: "Meinetwegen kann das ja in einem Vestibül spielen, aber muss das wirklich sein?") und inqusitorisch (O-Ton: "Herr Wagner, wie viele Produktionen haben Sie von Schlingensief wo gesehen und wie heißen die?"). Ebendieses Feuilleton ist im Moment heftig bemüht, sein Bayreuth vor den "jungen Wilden" in Sicherheit zu bringen, vor den Respektlosen und Hinwegfegern, den Umkremplern.

Die jungen Herren Musikredakteure mausern sich zu traditionswahrenden Bedenkenträgern: Können diese Wilden eigentlich Partituren lesen, werden die sich genug Mühe geben, wird das etwa ein Spaßtheater? Scheinheilige Fürsorge.

Der Alte in Bayreuth ist ganz offensichtlich auf der Überholspur. Wolfgang Wagner schließt mit der Verpflichtung von Christoph Schlingensief, der selber fast als Parsifal, der junge Tor, durchgehen kann, für den "Parsifal" 2004, mit Christoph Marthaler, der weder jung noch wild der melancholische Musiker unter den Regisseuren ist, für "Tristan" 2005 und mit Lars von Trier, dem chaotischen Dogmatiker, für den "Ring" 2006 an die gegenwärtigen ästhetischen Debatten an: an die Zeiten von Cross-over, neuer Askese, Trash und Pomp und den Verlust der alten Sicherheiten von rechts und links. Wolfgang Wagner gibt die Werke seines Großvaters frei für Rüttelung und Schüttelung.

Die Premiere der diesjährigen Bayreuther Festspiele, der "Fliegende Holländer", wurde ein bejubelter und behutsamer Triumph. Claus Guth (Regie) und Christian Schmidt (Kostüme und Bühnenbild), ein inzwischen eingeschworenes Paar (Guth: "Ich bin ein extremer Teamworker"), machten aus diesem ziemlichen Berserkerstück ein zartes und elegisches Kammerspiel, das ein trauriges Denkmal für die Kinder und insbesondere die Töchter setzt, die nicht ins Leben gelassen werden. Das Hemdsärmelige und Dröhnende, das die Mannenchöre der Oper ausstrahlen, trat so zurück. Dass sich die Oper einmal so gegen die Ideologie wenden ließe, für die Wagner fast zu einem Logo geworden ist, ist das Überraschende.

Guth interessierte nicht mehr das Drama des "Holländers", der wie Ahasver oder Dracula ewig unerlöst umherschweift, wohl aber die Motive der Romantik, wie sie im Doppelgänger, im Spiegelbild bei E. T. A. Hoffmann, Edgar Allen Poe oder eben Heine, der direkten Vorlage für den "Fliegenden Holländer", zu finden sind. Er verlegt die in einem norwegischen Hafen spielende Handlung in ein bürgerliches Haus: Das ist ein schöner und verwirrender Innenraum, in dem oben auch unten ist und die Dinge sich spiegeln wie bei einer Spielkarte. Für diese Verirrung verwendet Guth als wiederkehrendes Zeichen, fast somnambul die Augen mit flachen Händen zuzuhalten, wie Kinder es tun, wenn sie sagen, ich bin nicht da. Ein riesiger roter Kinovorhang verbirgt zeitweise die eine oder andere Hälfte des Raums, zerkratzte Filmstreifen tanzen über die Flächen, Türen stehen auf dem Kopf, Menschen laufen rückwärts, verquere Chiffren der Normalität.

Der konzeptionelle Kunstgriff der Regie erweist sich schnell als schlüssig, unheimlich, faszinierend: Guth spiegelt Daland und den Fliegenden Holländer, also Sentas Vater einerseits und Sentas herbeifantasierten Geliebten andererseits, als zwei Vexierbilder, zwei Facetten einer Person, zwei Kapitäne mit Uniform, randloser Brille, Mütze, grauem Bart, die sich synchron bewegen und mit sich selbst sprechen, wenn sie einen Dialog halten. Fast wie siamesische Zwillinge.

Die Verheißung, die Senta, das Bürgerkind, Senta mit dem blauen Matrosenkleidchen, Senta mit der Matrosenpuppe, für ihre Zukunft hat, nämlich den "Fliegenden Holländer" zu lieben, ist keine: Willst du den Vater oder den Vater? Am oberen Ende der Treppe steht der "Holländer", am unteren Ende der Vater. Und was in traditionellen Inszenierungen noch als Entscheidung Sentas für den geheimnisvollen Fremden dargestellt werden kann, ist hier schon für sie entschieden.

Vergangenheit und Gegenwart mischen sich. Die kleine Senta - als reales Kind immer wieder durch die Szene laufend - erlebt die Innigkeit mit dem Vater, das Vorlesen der Holländer-Geschichte, Geborgenheit und Sehnsucht. Anrührend und gespenstisch der Chor der Matrosen, der als Marionettenballett wie auf einem Kindergeburtstag zwischen bunten Lampengirlanden und unter einem blutroten Spielzeugschiff auftritt, als Überraschung für die kleine Prinzessin, das einsame Kind. Für die erwachsene Senta wird diese Konstellation mit dem Vater zum Gefängnis und zum Liebesverbot.

Es ist keine eindeutige Inzestgeschichte, wie vor der Premiere als Gerücht kolportiert wurde, es ist eher die Geschichte eines geistigen Inzests, eines umklammernden unfairen Machtanspruchs aus Liebe. Unfreiwillig treue Töchter. Die Welt vom Vater erklärt, eigene Wege verboten. Das Beharren zu Hause verhindert den Liebes-Opfertod, den Senta sonst sterben würde, aber sie wird auf andere Weise der Lebendigkeit beraubt.

Am Ende steigt Senta die Treppe hinauf und sucht den Ausgang aus ihrem Kinderhaus. Hinter der Tür ist die Wand, und Senta wird hier im Haus bleiben, einfach immer. Aber auch der Vater wird das Haus wohl nicht verlassen, es fängt alles immer wieder von vorne an.

Marc Albrecht, der fast kammermusikalisch arbeitende Dirigent, wurde bejubelt und ebenso Adrienne Dugger als fulminante Senta, Jaakko Rhyänen als Vater Daland, Tomislav Muzek als Steuermann: Sie alle sind zum ersten Mal in Bayreuth. Der "Holländer" wird von John Tomlinson gesungen, dem wunderbaren Wotan des letzten "Rings".

Die genaue, frappierende, gänzlich neue Lesart des "Holländer" steht damit im wohltuenden Gegensatz zum konzeptions- und lieblosen "Tannhäuser" Philipp Arlauds von 2002, dieses Jahr ohne Korrekturen oder Veränderungen wieder aufgenommen und der eigentlich nur durch das überragende Dirigat Christian Thielemanns lohnend bleibt. Das nächste Festspieljahr darf kommen, wie wild, wird sich weisen.

 

DIE WELT
28. Juli 2003

Das dreifache Sentachen
Putzfimmel im Irrenhaus: Klaus Guths allzu psychotischer "Fliegender Holländer" in Bayreuth

von Manuel Brug

Der über Bayreuth sinnierende Bayern-3-Moderator hat Recht: "Fliegende Holländer bei stürmischer See, das gibt es nicht mehr, dafür viele Holländer auf der Autobahn." Damit hat der Mann vom Verkehrsfunk die Zweifel des Regisseurs Klaus Guth eingekreiselt. Der mag nicht an gischtende Wogen und hüpfende Schiffe glauben, an verfluchte Seefahrer als Widergänger des ewigen Juden, an "Hojohe"-schreiende Matrosen, rustikale Spinnerinnen, an Selbstopfer und Erlösung.

Wir auch nicht. Aber wir wollen trotzdem sehen, was einem "Fliegenden Holländer" heute jenseits des Staus wiederfahren kann. Oder sind wir nur wegen des Festspiel-Rituals gekommen? Längst ist nicht mehr die Oper der Mythos, sondern die notorische Überbuchung: Hier gilt's der Kunst der Kartenbeschaffung.

Nun also sollte der 38-jährige Klaus Guth den Spagat vom selbstgefälligen Wagner-Museum zu Wolfgangs alterswildem Freakhaus der Schlingensiefs, Marthalers und von Triers schaffen. Wo im augenblicklichen Spielplan einzig Keith Warners pessimistischer "Lohengrin" einen Ansatz von Deutungswillen auf der Höhe der Zeit erkennen lässt, will der immer professionelle, selten anrührende oder begeisternde Guth moderat die Brücke des Übergangs bauen. Was ihm beim Publikum erstaunlich widerspruchsfrei gelungen ist.

Was aber auch zeigt, dass er vieles gebracht hat, um jeden Geschmack zu bedienen. Dabei setzt seine mit stets neuen, in der Rezeptionsgeschichte des "Holländers" im einzelnen mit wenig originellen Ansätzen aufwartende Inszenierung keine sinnigen Klammern - wie hier noch 1978 Harry Kupfer mit seinem Alptraum der Senta. Guth, an der Kupfer-Verfilmung als Assistent beteiligt, hat diese genau studiert und mit gängigen Regieversatzstücken weitergeführt.

Christian Schmidts Bühnenbild: ein augenblicklich vielfach gesehener Einheitsraum Marke fünfziger Jahre mit beiger Tapete und graphisch gemustertem Teppich, Schleiflacktüren, dreckigen Heizkörpern und einer Freitreppe, die eher an eine Plantagenbesitzervilla erinnert als an eine nordische Reederrotunde. Hinter der Treppe, über die zu Beginn Senta als Kind im Matrosenkleid heraufstürmt, hängen rote Theatervorhänge. Später fungieren sie als blutige Segel des Holländerschiffs. Sind sie nach oben gezogen, offenbaren sie noch einmal das nun auf dem Kopf stehende Zimmer.

Meer und Natur kommen nur als Chiffren vor, filmisch auf die Wand projizierte Wellen, Funkengarben, Blutregen. Daland liegt anfangs über einer Seekiste mit Handpuppen, die sich im dritten Akt als lebensgroß folkloristische Tanz- und Singgruppe in Gestalt des vorzüglich von Eberhard Friedrich einstudierten Chores erweisen.

Ein Modellschiff wird zerlegt, ein herabsinkender Pappklabautermann, der mit Knochenhänden eine Senta-Puppe holt, erweist sich - wie vorher schon die Revuegirl-Spinnerinnen mit Kittelschürze und Putzfimmel - als fauler Geisterbahn-Zauber: Nichts ist wie es scheint, dem Regisseur darf kaum geglaubt werden.

Ein dreifaches Sentachen, das Statistenkind, die zwar leidenschaftliche, aber in der Höhe heftig flackernde und intonationsgetrübte Adrienne Dugger, und die blinde Mary der ausgeleiert tönenden Uta Priew, irrlichtert im gleichen Matrosenkleidchen über die Bühne. Während Steuermann (Tomislav Muzek) und Sentas Gärtnerfreund Erik (mit nach innen gestülptem Tenor: Endrik Wottrich) nicht weiter stören, sehen auch der weichstimmige Daland Jaako Ryhänens und der aus dem Altersheim bassbellender Seefahrer entwichene John Tomlinson doppelt: Sie gleichen sich bis auf Brille, Haar und Kapitänsuniform, schütteln sich im selben Moment den Reisestaub vom Ärmel.

Am Ende, wir ahnten es, kommt die offenbar schizophrene Senta um Todessprung und Erlösung, steht vor einer nicht mehr vorhandenen Türe, während die übrigen Irrenhaus-Insassen dahindämmern. "Herr Direktor, wir sind eingemauert", hätte jetzt der "Fledermaus"-Frosch über dieses fidele Wagner-Gefängnis gekalauert. Ein "Holländer" auf professioneller Höhe des Inszenierungsepigonentums, kühl und unsinnlich. Anderswo Alltag, im lange rückständigen Bayreuth lokale Sensation. Selbst Katharina Wagners durchgeknallte Anfängerinnen-Etüde in Würzburg offenbarte mehr Herzblut und Erzählwut. Vielleicht sollte Wolfgang Wagner als nächsten Regisseur den Bayern-3-Moderator fragen.

So schlägt, auch wegen weitgehend dürftiger Sängerleistungen, die Stunde des Dirigenten: Hügel-Debütant Marc Albrecht, konnte sich - anders als an der Deutschen Oper Berlin - endlich als Thielemann-Antipode positionieren. Schlank und tragfähig ist sein Klang, biegsam, elegant, weil die rohe Wucht dieser Musik notgedrungen am Bayreuther Orchesterschalldeckel stranden muss. Intelligent, sicher und reduziert setzt er Akzente, weiß um Töne des dunklen Abgrunds, verlangsamt den Fluss geschickt, hat auch Sinn für den grellen Singspielhumor dieser Seefahrer-Ballade.

P.S.: Fragt nach kurzem Applaus ein schwitzender rheinischer Industrieller den anderen: "Kennen Sie Schlingensief?" - "Nur den Namen. Soll autonom sein, immer halbnackt." Freuen wir uns auf "Parsifal" im nächsten Jahr.

 

Kölner Stadt Anzeiger
26.07.03 | 14:20h - aktualisiert 14:35h

Bayreuther Festspiele
"Holländer" als spannendes Psychodrama in Bayreuth

Von Stephan Maurer

Bayreuth - Auf einer langen Reise ist der «Fliegende Holländer», stets auf der Suche nach dem einen Weib, das ihn vom Fluch ewiger Fahrt erlöst. Und auf eine lange, gleichermaßen spannende wie anspruchsvolle Reise begibt sich auch Regisseur Claus Guth bei seiner gelungenen «Holländer»-Neuinszenierung für die diesjährigen Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele.

Guth inszeniert die Saga bei seinem Bayreuth-Debüt als eine Flucht in Innenwelten, als ein Psychodrama par excellence. Das Premierenpublikum belohnte den Seelentrip am Freitagabend mit begeistertem Applaus, der ebenso den Sängern, dem von Marc Albrecht geleiteten Orchester und dem Festspielchor galt.

Claus Guth schickt die Akteure auf eine Reise ins Irreale und Fantastische, er legt ihre verborgenen Träume und Sehnsüchte bloß. Schon in der ersten Szene wird deutlich, dass die gesamte «Holländer»-Saga hier ein Traumbild Sentas ist: Ein kleines Mädchen - Senta als Kind - beobachtet die der Heimat zustrebenden norwegischen Seeleute.

Dann taucht der Holländer auf, auch er eine Projektion: Gleicht er dem Norwegerkapitän Daland doch bis aufs (eisgraue) Haar, beide stecken in der gleichen Kapitänsuniform, und dass die beiden Sänger auch fast gleicher Statur sind, tut ein Übriges. Daland ist selbst der Holländer, die Rollen fließen ineinander. Während Holländer und Senta ihr großes Duett singen, liest Daland der kleinen Senta dieselbe Geschichte vor. Es ist eine eigenartige, vom Wechselspiel aus großer Nähe und scheuer Distanz bestimmte Vater-Tochter-Beziehung, die der Regisseur zeigt.

Das Irreale, zugleich auch Beklemmende dieses «Holländers» wird bestätigt von einem Bühnenbild (Christian Schmidt), das die Akteure in die Enge treibt, ihnen keinen Ausweg lässt. Ein riesiger Saal, in dem sich eine Freitreppe nach links herunterschwingt. Große Türen und Fenster, doch sie bleiben meist verschlossen. Bilder mit einem Segelschiff an der Wand. Es gibt keine einzige Verwandlung, alles spielt sich in jenem bedrohlichen Saal ab. Und doch sieht man sich nicht satt - denn Lichtblitze schrecken auf, raffinierte Überblendungen scheinen den Raum zum Schweben zu bringen, und der leibhaftige Tod fährt kopfüber herab und greift nach Senta.

Zum Höhepunkt treibt Guth das psychoanalytische Spiel im großen Chor-Wettstreit der Norweger mit den Holländern. Welch gutes, genaues Regietheater er abliefert, zeigt sich in der bravourösen schauspielerischen Einlage des Chors. Als maskierte Marionetten hampeln die Norweger herum - während Klein-Senta mit ihren Puppen spielt, die ganz genauso aussehen. Am Ende, als Senta dem Holländer durch den blutroten Vorhang folgen will, den verschlossenen Raum aber doch nicht verlassen kann, mag Mancher sich erschlagen fühlen von der Fülle der Andeutungen und Symbole. Es ist eine neue, spezielle Sicht auf Wagners romantische Oper, die Claus Guth anbietet, doch sie fesselt und bleibt in sich schlüssig.

Den Sängern wurde in diesem Rollenspiel vor allem darstellerisch einiges abverlangt, und sie gingen hoch motiviert zu Werke. Der ganz große stimmliche Glanz fehlte freilich. «Hügel»-Debütantin Adrienne Dugger als Senta steigerte sich nach nervösem Beginn, wirkte in den Spitzentönen aber doch etwas wackelig. Bayreuth-Liebling John Tomlinson sang die Titelrolle souverän, ohne zu brillieren. Endrik Wottrich zeigte einen emotionalen und verunsicherten Erik - vielleicht der einzige reale Mensch in diesem seltsamen Figurenkabinett. Solide sangen Jaakko Ryhänen (Daland), Uta Priew (Mary) und Tomislav Muzek (Steuermann).

Begeisterung galt den Chören, die sich bereits in guter Festspielform zeigten. Getrübt wurde der Eindruck allerdings durch den reichlich verwaschenen Part der Holländer-Mannschaft. Marc Albrecht, einer der herausragenden deutschen Nachwuchsdirigenten, trieb das Festspielorchester an, jagte vorwärts, arbeitete aber auch manche Nuancen der Wagnerschen Partitur klug heraus.

Im vergangenen Jahr hat Katharina Wagner, möglicherweise die nächste Bayreuther Festspielchefin, in Würzburg den «Holländer» als ihre erste Regiearbeit vorgelegt. So ist ein Vergleich natürlich doppelt reizvoll. Katharina zeigte das hoffnungslose Aufbegehren einer jungen Frau gegen eine Macho-Welt. Claus Guths Ansatz ist völlig anders, vielschichtiger und tiefgründiger. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung. (dpa)

 

DER SPIEGEL
Juli 2003

EIN PSYCHOTHRILLER-HOLLÄNDER IN BAYREUTH
Genial einfach, einfach genial

Von Werner Theurich, Bayreuth

Mit einer Neuinszenierung vom "Fliegenden Holländer" eröffneten die diesjährigen Richard-Wagner Festspiele in Bayreuth. Und so beschwingt und munter wie sich der Festspiel-Chef Wolfgang Wagner in den Wochen vor der Premiere den Medien präsentierte, perlte auch die tiefsinnige Meeres-Mär vom verfluchten Seefahrer über die Rampe.

Premiere in Bayreuth, das bedeutet meist nicht nur in meteorologischer Hinsicht eitel Sonne. Vergessen scheinen die Tage, in denen Patrice-Chéreaus "Ring"-Inszenierung Saalschlachten und Morddrohungen auslöste. Heute freuen sich alle Jahre wieder bekannte Menschen wie Edmund Stoiber und Sabine Christiansen Seit' and Seit' mit Neu-Wagnerianer Thomas Gottschalk über solides Operntheater, das letztjährig mit Philippe Arlauds bunt-bieder inszeniertem "Tannhäuser" und davor in der von Jürgen Flimm gestalteten Version vom "Ring des Nibelungen" eher verhalten begeisterte. Doch mit Regisseurs-Namen wie Schlingensief (2004), Marthaler (2005) und von Trier (2006) sollen Wagnis und Wagner wieder ein Paar werden.

In diesem Jahr jedoch hielt der durchaus schon Wagner-erfahrene 39-jährige Regisseur Claus Guth den Ball erfreulich flach und ließ den Skandal-Gral noch einmal an Bayreuth vorüberziehen. Dennoch gelang es ihm, mit dem "Fliegenden Holländer" erheblich zu irritieren. Die alte Sage vom verfluchten Kapitän, der ewig und ruhelos über die Weltmeere segeln muss und nur von der treuen Liebe einer Frau erlöst werden kann, ist ein bedeutungsbefrachteter Stoff, über den man sich gefährlich breit und öde auslassen kann. Claus Guth tat etwas gänzlich anderes: Er warf die Sage auf sich selbst zurück und untersuchte sie von innen.

David-Lynch-Figuren in einem Hitchcock-Film

Der Seefahrer und Kaufmann Daland, dessen Tochter Senta ja die Seelenrettung des Holländers übernehmen soll, kommt als piekfeiner und geschniegelter Traumschiffkapitän auf eine Schiffsbühne, die eher eine gute Stube denn eine Kajüte ist. Der Chor der Matrosen hangelt sich immer an der Wand lang, und die einzigen Schiffe, die man sieht, sind Modelle und Gemälde. Hier wird eher geträumt als gesegelt, und genau so träumt sich der Kaufmann Daland einen wilden und ungezähmten Seemann an Land, der ihm denn auch verdächtig und gespenstisch ähnlich sieht: Der Holländer ist in Outfit, Frisur, Maske und Jahrgang das exakte Ebenbild des Daland.

Die Welten der beiden vermeintlich so unterschiedlichen Männer gehören zu einem Bühnenbild - getrennt durch eine diagonale Showtreppe, die den Raum teilt und gleichzeitig Achse für verwirrende Bilderentwicklung, Beleuchtungsshows und dramatische Auf- und Abgänge wird. Ein gespiegelter Holländer - genial einfach, einfach genial.

Denn die See bleibt draußen und ist doch ständig präsent. Mit überwältigenden und abstrahierenden Rückprojektionen von Wellen, Meer und Wetter reflektiert Regisseur Guth und sein kongenialer Bühnenbildner Christian Schmidt Innenwelten der Figuren, die wie in einem David-Lynch-Film agieren, zu dem Alfred Hitchcock das Drehbuch schrieb. Ebenso wie Daland und Holländer Spiegelungen einer Figur sind, wird auch die Senta beständig durch ihr Kinder-Ich parallel dargestellt - eine pantomimische Rolle, die kommentiert, reflektiert und vertieft. Ein weiterer effektvoller Regieeinfall, der erstaunlicherweise im Laufe der zweieinhalbstündigen Holländer-Show an Intensität eher noch gewinnt.

So muss dann die Darstellung der Holländer-Schiffsmannschaft im letzten Bild ebenso fiktiv und puppenhaft werden, wie die Choreographie des weiblichen Dorfpersonals. Zum ersten Mal schmelzen beide Welten ineinander, doch sie bleiben Teil eines Traumes. Beide Chöre agieren als Pinocchio-artige Holzmarionetten und sorgen endgültig dafür, dass die falsche Traumwelt des Daland zerbricht. Ein Schiff mit roten Segeln wird demontiert, eine überdimensionierte Totenfigur kommt kopfüber wie Robbie Williams auf die Bühne und entführt das Kinder-Ich der Tochter Senta, das Ende der Unschuld ist vollzogen. Zackig knackige Schlusspointe: Als seine Senta scheinbar nicht zum ersehnten (See)Mann gelangen kann, will sie - wie es im Libretto steht - den Tod im Meer suchen. Doch hinter dem Vorhang, in welchem ihr Holländer verschwand, ist eine Wand. Es führt kein Weg hinaus aus dem Gefängnis, das im Kopf ist. Daland liegt im Traum schlafend auf der Bühne, wie zu Beginn.

Eine manchmal etwas anstrengende Bewegungsregie

Das Filmische, Alptraumartige dieser Inszenierung brachte Dirigent Marc Albrecht von Beginn an überschwänglich und drängend aus dem blendend aufgelegtem Festspielorchester hervor. Knallige Akzente in Blech und Streichern, mutige Ausbrüche und grelle Effekte im Verein mit einem ebenso variantenreichen Bühnenlicht machten den berühmten Bayreuth-Sound wieder zum schwelgerischen Genuss. Nette Ideen, zum Schluss die Orchstermusikerinnen und -musiker mit auf die Bühne zu bringen, in typischer Bayreuther Arbeitskleidung: Lederhosen, Shorts, Hawaiihemd, Freizeitkleid - man sieht sie ja nicht, da sich der Orchestergraben unter der Bühne, nicht davor befindet.

Überhaupt Applaus: Davon gab es reichlich, für alle Stimmen und Akteure. Vor allem die Senta der Bayreuth-Debutantin Adrienne Dugger aus Georgia/USA geriet zum Auslöser von Jubel und Bravos. Ihre Mixtur aus stimmlicher Power, superber Kontrolle in den leisen Tönen und vollkommener Hingabe an die manchmal etwas anstrengende Bewegungsregie von Regisseur Guth machten sie zum Matchwinner der Aufführung. Das um sie streitende und kreisende Männer-Duo schlug sich ähnlich wacker.

John Tomlinsons routinierter Holländer lag nach Punkten ein wenig hinter dem dämonisierten Daland des Finnen Jaakko Ryhänen (ebenfalls Debütant am "Grünen Hügel"), aber da das Regiependel sowieso zum Daland ausschlug, ging das sogar aus. Eine ebenso mächtige wie wandlungsfähige Stimme - Herrn Ryhänen wird man in Bayreuth bestimmt noch öfter hören. Bestens gefiel auch der metallische Tenor des verschmähten Liebhabers Erik, der so gar nichts von dem düsteren Weltengewirr um ihn verstand. Endrik Wottrichs Stimme leuchtete ins Dunkel, ebenso wie Tomislav Muzek (Steuermann) und Uta Priew (Mary) makellose Darbietungen ablieferten.

Glanzvoll waren auch die Leistungen der Chöre, die von Eberhard Friedrich in Bewegung und Stimmführung exzellent und extrem effektvoll geführt wurden. Das Zusammenspiel von Licht, Choreographie und Sound geriet zum Triumph für diesen souverän gearbeiteten Psychothriller-Holländer, der den Ruf von Claus Guth als raffiniertem Stoff-Gestalter, der auch viel mit Stimmen anfangen kann, einmal mehr bestätigte. So brandete auch ihm fast einhelliger Jubel aus dem enthusiastischen Premieren-Publikum entgegen - der Start mit dem Holländer ließ Bayreuth abheben.

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DIE ZEIT
31.07.2003 Nr.32

OPER
Ärger mit Möbeln
Neu in Bayreuth: "Der Fliegende Holländer" als Hausgespenst

Von Claus Spahn

Jetzt ist Wolfgang Wagner, der greise Chef der Bayreuther Festspiele, wieder richtig bei Laune. Man kann es ihm auf der Pressekonferenz nach der Eröffnungspremiere förmlich ansehen: wie die fränkische Brust sich wieder selbstbewusst bläht und der Unterkiefer fröhlich schlackert, wenn er in polternden Satzbrocken über die „Revolutionäre" spricht, die er nun an den Grünen Hügel verpflichtet hat. Schlingensief, Marthaler und der Filmemacher Lars von Trier als Regisseure für die nächsten drei Jahre unter Vertrag zu haben – das ist der Besetzungscoup, der beweisen soll, welcher künstlerische Wagemut nach wie vor in dem Alten steckt und dass er ästhetisch sehr wohl noch auf der Höhe der Zeit ist. Bis in die Versprecher hinein ist diese neue Lust am Aufbruch zu spüren: Hartnäckig sagt er „76", wenn er vom Ring des Jahres 2006 erzählt, denn 1976 war das Jahr, in dem der „Jahrhundert"-Ring von Patrice Chéreau das Festspielhaus erschütterte. Und als er gefragt wird, ob denn die diesjährige Inszenierung seiner Meinung nach werktreu sei, erwidert er ganz unwagnerianisch: „Das hängt davon ab, welche Art von Werktreue Sie meinen." Wolfgang Wagner und die Bayreuther Festspiele, so scheint es, sind in der Operngegenwart angekommen.

Einstürzende Stehlampen

Oder ist der plötzliche Wandel doch nur eine taktische Volte, um die notorischen Kritiker ruhig zu stellen? Schätzt er das Theater des Christoph Schlingensief wirklich? Hat er überhaupt schon mal ein Stück von ihm gesehen? Er lese ja viel, sagt Wagner, und schaue Fernsehen. Also hat er nichts gesehen? „Stimmt nicht!", ruft da schrill seine Gattin Gudrun durch den Pressekonferenzsaal, und Wolfgang fügt entschuldigend hinzu, seine Frau könne sich die Dinge besser merken, er selbst vergesse manches einfach zu schnell. Und was überzeugt ihn nun an Schlingensiefs Kunst? „Warum soll ein Mann, der es versteht, lächerliche Dinge noch lächerlicher zu machen, nicht auch etwas Ernstes wie den Parsifal sehr ernst machen. Warten Sie es ab." Ende der Erklärungen. So werden bei den bedeutendsten Festspielen der Welt die künstlerischen Entscheidungen begründet.

Wenn Christoph Schlingensief der böse Bube unter den kommenden Festspielregisseuren ist, dann ist der 39-jährige Claus Guth, der in diesem Jahr als Auftakt zur alterswilden Bayreuth-Revolution den Fliegenden Holländer auf die Bühne gebracht hat, der begabte Streber mit dem guten Inszenierungsgeschmack. Nahezu geräuschlos hat er sich bis zu den größten Häusern emporgearbeitet mit solidem Musiktheaterhandwerk, psychoanalytischen Deutungsstrategien und einer doppelbödig changierenden, oft durch Filmkommentare angereicherten Bildsprache, die er mit seinem ständigen Ausstattungspartner Christian Schmidt entwickelt. Natürlich wissen die beiden, dass der Fliegende Holländer als naiv-dämonisches Seefahrermärchen längst auserzählt ist. Sie haben deshalb die Geschichten aus der Schauer-und Gruselromantik von Edgar Allan Poe bis E.T.A. Hoffmann genau gelesen, die Wagner auf dem Nachttisch liegen hatte, als die Stückidee in ihm keimte, und sie haben den latenten Traumcharakter des Werks nach vorn gerückt (der arme Richard wurde von Albträumen zeit seines Leben gequält). In Dalands Haus fallen wie von Geisterhand bewegt die Stehlampen und Ohrensessel um, und der Holländer geht durch Zimmerwände.

Wenn sich der Vorhang in Bayreuth hebt nach einer Ouvertüre, in der der Dirigent Marc Albrecht Wagners Orchestrierungsgischt mächtig hochspritzen lässt, blicken wir auf ein großbürgerliches Treppenhaus mit hohen Türen und einem großzügig geschwungenen Aufgang in die obere Etage. Man sieht dem Raum das gelebte Leben an. So viel Anbiederung an den Bühnenbildzeitgeist muss offenbar sein: Die Tapeten sind altmodisch gemustert, die Heizkörper vergilbt, abgehängte Bilder haben hässliche helle Flächen hinterlassen. Hinter dem dunkelroten schweren Samtvorhang, der beim musikalischen Erscheinen des Holländerschiffs nach oben fährt, entdeckt man die gleiche Raumflucht mit den Türen und Heizkörpern noch einmal – spiegelverkehrt steht sie real-surreal auf dem Kopf.

Es gibt noch mehr spukhafte Verwirrungen mithilfe von Filmprojektionen: Die Teppichmuster fangen an zu wandern, der Raum spaltet sich vielfältig auf, und wütende Brandung schäumt an den Wänden hoch. Es ist die kleine Senta im Matrosenkleidchen, die das alles imaginiert. Gleich im ersten Bild sieht man sie verträumt mit einem Spielzeugsegelboot am Geländer spielen, später sitzt sie im großen Ohrensessel und liest im Märchenbuch. Der Holländer ist ihre große Angst-Lust-Fantasie. Er gleicht in seiner blauen Kapitänsuniform und dem Seebärbart bis aufs Haar ihrem Vater Daland und singt mit ihm sogar ein gespenstisches Duett der Doppelgänger.

Guth und Schmidt aber haben nicht nur die alte Bayreuther Idee von Harry Kupfer aufgegriffen, die Oper als Sentas Traum ablaufen zu lassen, sie wollten mehr: Auch Daland träumt. Auch für ihn ist der Holländer parallel zu seiner Tochter eine Projektion – das Ich, das sich nach Erlösung aus der bürgerlichen Existenz durch das weibliche Geschlecht sehnt. Sogar Sentas Bräutigam Erik halluziniert. Wenn er sein Ein Traum ist’s singt, läuft bedrohlich ein schwarzer Schatten die Wand an der Treppe hinab. Vielleicht sind das doch ein bisschen zu viel ineinander geblendete Wahnvorstellungen. Die Inszenierung droht sich zu verlieren im Spiel mit Doppelgängerbegegnungen, zugehaltenen und voll Verwunderung wieder geöffneten Augen, jähen Lichtaufblendungen und Unterwasseransichten, bei denen Luftblasen bedeutungsraunend (aus den Tiefen des Unterbewusstseins?) aufsteigen.

Böse Treppengeländer

Die Projektionswirrnis droht, den Chiffrecharakter des Holländers zu neutralisieren: Dann singt da nur ein alter Mann mit Kapitänsmütze, und keiner weiß so recht, warum. Verwunderlich auch, warum Sentas Begegnung mit ihrem ödipalen Geist so steif und bieder, ohne gefährlich inzestuöse Nähe abläuft. Überhaupt gebärdet sich der intendierte Horror merkwürdig brav. In Stanley Kubricks Kinofilm Shining – gewiss ein Referenzwerk für die Inszenierung – schwappt immerhin Blut über die Hotelflure, hinter dem Duschvorhang warten Leichen, und das große Kochmesser liegt zur Attacke bereit. In Bayreuth senkt sich gegen Ende nur ein monströs lieber Klabauterknochenmann vom Schnürboden herab, der aussieht, als sei er aus der Geisterbahn abmontiert, und zerrt Senta an den Armen nach oben. Zu den allerletzten Takten stürzt sie dann aber doch dem verschwundenen Holländer auf der Treppe hinterher, mit ihren Fäusten vergeblich gegen die Wand trommelnd, bis der Spuk ein Ende hat.

Leider setzen auch die Sänger den Traumvisionscharakter der Inszenierung nicht gerade packend um. Endrik Wottrich als Erik ist mit seinem klaren, kraftvollen und doch auch innig geführten Tenor die einzige wirkliche Entdeckung des Abends. Adrienne Dugger besitzt zwar das gebotene Volumen und die Höhe für die Senta-Partie, aber die Momente zarter Entrückung fehlen ihr, das Fantasiepotenzial, das der Figur erst Glaubwürdigkeit und Größe verleiht. Auch in Jaakko Ryhänens gesund unbedarftem Daland-Bass vermag man den Albdruck, der eigentlich auf der Figur liegen sollte, nicht so recht zu erkennen. Und John Tomlinson verwechselt als Holländer ein ums andere Mal Dämonie mit Kraft. Er profiliert sich als Sängerdarsteller-Haudegen, der noch den letzten verzweifelten Ringkampf mit dem Treppengeländer sucht.

Marc Albrecht gab am Pult des ausgezeichnet präparierten Festspielorchesters sein Bayreuth-Debüt und hat gezeigt, dass es sehr wohl auch noch andere festspielwürdige Dirigenten der jüngeren Generation gibt, neben dem am Grünen Hügel besinnungslos vergötterten Christian Thielemann. Elanvoll, mit einem direkten, klaren Klangbild, ist er das Stück angegangen (manchmal vielleicht sogar eine Spur zu nassforsch). Er offenbart ein einnehmendes Gespür für übergeordnete Zusammenhänge und dramatische Steigerungskurven genauso wie für die expressiven Details. Manchmal hatte man den Eindruck, dass seine Deutung noch plastischer wirken würde, wenn es den heiligen Deckel nicht auf dem Orchestergraben gäbe. Ihn bei Wagners frühen Werken einmal abzunehmen, wäre allemal ein Experiment wert. Gerade jetzt, wo doch der Festspielprinzipal noch einmal in Revolutionslaune gekommen ist.

(c) DIE ZEIT 2003

 

Die Presse Wien
28.07.2003

Die Bayreuther Festspiele eröffneten mit einer fesselnd-irritierenden
Der fliegende Ödipus steht Kopf
Psychoanalyse der Figuren des "Fliegenden Holländers".

VON WILHELM SINKOVICZ

Der fliegende Holländer" als Sentas Traum, das gab es schon einmal in Bayreuth bei Harry Kupfer. Dieter Dorn konterte Anfang der neunziger Jahre mit einem technischen Trick: Bei ihm drehte sich Dalands Haus um die eigene Achse. Claus Guth hat für die Bayreuther Festspiele nun eine Neuinszenierung entworfen, die beides vereint: Senta träumt, und das Haus steht Kopf. Da verschwimmen nicht nur die Assoziationen der Bayreuth-Pilger, sondern alle Ebenen von Zeit, Gedanken, Traum und Raum.

Theatralisch ist Guths Inszenierung ein Meisterwerk, getragen von einer musikalisch gediegenen Aufführung. Christian Schmidts Bühnenbild zeigt drei Akte lang ein Wohnzimmer, dominiert von einer riesigen Freitreppe, die in kühnem Schwung die rechte oberste Bühnenecke mit dem linken Proszenium verbindet, flankiert von einem leuchtend roten Vorhang.

Auf dieser Treppe erscheint der Holländer, John Tomlinson, und singt seinen Monolog während er langsam und unter Mühen und Seelenqualen herabsteigt. Wobei das Wort Singen für Tomlinsons Kunst zu kurz greift. Der einstige Wotan und mächtig-schwarze Hagen dreier "Ring"-Zyklen schlüpft spät, aber doch in die Gestalt des ewig ruhelosen Wanderers, der "von Welt zu Welt", wie seine späte Genossin Kundry einst singen wird, Erlösung sucht.

Tomlinsons Gestaltung ist an Intensität und Bühnenpräsenz kaum zu überbieten. Gewiss geht er in seiner Ausdruckswut des öfteren recht frei mit Wagners Notentext um, vor allem rhythmische Details seiner Partie nimmt er weniger ernst als den Text und dessen Gehalt. Den transportiert er durchs Filter der strömenden Wagnerschen Melodie mit seltener Hingabe und enormer vokaler Expansion. Man kann sich der Wirkung ebenso wenig entziehen wie das Mädchen Senta von der Vision dieses Mannes lässt, der jenem Märchenbuch entstiegen scheint, aus dem Vater immer wieder vorgelesen hat.

Während des großen Duetts im Mittelakt begegnen einander nicht nur die junge Frau und das rätselhafte Traumbild dieses Mannes. Wir sehen auch Klein-Senta - ein im Programmheft leider ungenanntes, offenbar hoch musikalisches, stumm agierendes Mädchen - hingegeben kauernd neben ihrem Papa, der im Lehnstuhl sitzend die Geschichte vom fliegenden Holländer vorliest.

Frühkindliche Prägungen und Fesselungen bringt Claus Guth da auf die Bühne. Senta, der Adrienne Dugger ihren zunächst des öfteren unstet flackernden, dann aber immer sicherer tönenden, effektvolle Spitzentöne platzierenden Sopran leiht, imaginiert sich die mystische Erzählung. Vor ihrem inneren Auge wird das Wohnzimmer zur brausenden See, die Puppen verwandeln sich aus Einzelwesen in ganze Heerscharen gleich gewandeter, choreografisch in exakten Parallelaktionen agierende Matrosen- und Mädchenchöre.

Die Dekors erlauben transzendente Effekte, durch ungeöffnete Türen können Menschen verschwinden und wieder erscheinen. Projektionen von Wasserkaskaden und Meeresgischt suggerieren Naturvisionen. Und wenn der rot leuchtende Vorhang sich hebt, erscheint das traute Wohnzimmer an der Achse der Zimmerdecke gespiegelt. Der Bühnenraum wird vollends zum Vexierbild, die Realität geht in der Phantasmagorie auf.

Was den Zuschauer am allermeisten zu verwirren droht, ist freilich nicht die Spiegelgleichheit der Handlungsebenen, sondern jene der beiden Männer Daland und Holländer. Der Vater ist nämlich offenkundig identisch mit der Sagenfigur, von der er seiner Tochter erzählt und vorgelesen hat. Kapitänsuniform, Bart, Brille, Bewegungen - John Tomlinson erscheint als das Gegenbild Jaakko Ryhänens, der mit etwas rauerem, aber imposantem Bass von Wind und Wetter, Gut und Geld singt und sein Kind verschachert.

Ist es nicht Richard Wagner, der diesen beiden scheinbar so ungleichen Gestalten eine duettierende Parallelaktion komponiert hat, wie er sie später, im "Fliegenden Holländer" selbst wie in den weiteren Musikdramen, nur noch Liebenden (und Blutsbrüdern) zubilligt? Es ist, als lösten sich die beiden Charaktere erst im Singen voneinander. Sentas Schrecken definiert sich daraus, dass sie dieser Trennung erstmals gewahr wird, als die beiden zur gleichen Zeit, der Vater am oberen, der Holländer am unteren Treppenabsatz, erscheinen.

Durchschaut man Claus Guths choreografisch so feingliedrig gearbeitete, die Personen konsequent führende Inszenierungsarbeit, wenn man sie vom Moment des Todes her aufzulösen trachtet? In Sentas Spielkiste finden sich nicht nur die Puppentheater-Figuren von Kapitänen, Mädchen und Matrosen, sondern auch ein Sensenmann, weißes Gerippe, in schwarzes Tuch gehüllt. Auch diese Figur erscheint im Spiel verwandelt wieder, fährt verkehrt, gigantisch vergrößert, vom Bühnenhimmel nieder, um das Mädchen Senta zu holen und mit ihr in die Lüfte zu entschweben.

Im gleichen Moment stirbt der Vater, der Holländer verschwindet im Nichts, hinter dem roten Vorhang, der sich über der Treppe wieder gesenkt hat. Wenn er sich aufs neue hebt, ist die Gegenwelt verschwunden. Wo Türen, Fenster in der vierten Dimension sich auftaten, steht Senta jetzt vor bieder tapezierten Wänden, ausweglos.

So erfüllt die bitter-zynische Pointe dieser Inszenierung das romantische Versprechen: "Treu bis zum Tod" blieb die Tochter dem Vater. Es ist, denkt man die Bildersprache der Bayreuther Produktion weiter, ein Kreislauf, der sich stets erneuert, denn auch Frau Mary, dargestellt und kraftvoll gesungen von Uta Priew, erscheint als alt gewordene Mädchengestalt, längst erblindet, gewandet wie Senta und ebenso fixiert auf ein Bild, das nur noch vor ihrem inneren Auge existiert. Das Gemälde vom fliegenden Holländer haben die Seeleute schon gleich zu Beginn der Handlung entfernt. Die wahren Abenteuer finden bekanntlich im Kopf statt.

Hie und da drohen Einbrüche der Realität in dieses Spiel, etwa die verzweifelten Mahnungen von Sentas Verlobtem, die Endrik Wottrich nicht sehr auf melodische Phrasierung bedacht, aber höchst beeindruckend mit Kraft und Espressivo bündelt.

Doch bleiben da stets gebrochene, hoffnungslose Gestalten zurück. Nur der Steuermann von Tomislav Muzek wandelt als unschuldige Märchenbuchfigur durch die Traumsequenzen. Beglückender Weise lässt er auch eine herrlich goldtönende Tenorstimme hören, die, gut ausgebildet, ihrem Besitzer eine Traumkarriere ermöglichen müsste.

Dank stringenter Personenführung hat Claus Guth in den suggestiven Kulissen Christian Schmidts alle Aktionen der Figuren des sinistren Spiels zum packenden Psychokrimi verdichtet. Der lässt den Zuschauer nicht los, auch weil mit Marc Albrecht ein Dirigent am Werk ist, der viel Lust auf vorwärtsdrängende Gesten und dramatischen Hochdruck verspürt.

Im Furioso geraten ihm des öfteren die Ebenen ein wenig durcheinander, Sänger und Musikanten agieren nicht immer so deckungsgleich wie es sein sollte. Auch ließen sich Farbwert und Stimmungen sensibler schattieren, als das Bayreuther Festspielorchester es diesmal tut.

Dass die Musiker auch in einer ganz anderen Liga spielen können erweisen sie bei der Wiederaufnahme des Tannhäuer unter Christian Thieemanns Leitung, wo vom ersten Einsatz an die Gesetze äußerster Differenzierung und klanglicher Delikatesse herrschen.

Doch ergänzt die durchwegs spürbare Spiellaune beim "Holländer" die optischen Erzählungen zum mehrdimensionalen Erlebnis. Was allerdings die Frage nicht beantwortet, ob Guths Deutung nicht doch eher die einer freudianischen Ansicht der Holländer-Sage ist als die von Wagners Dichtung und Musik. Ob nicht die Kunst in tiefere Seelenschichten vordringt als die Erklärungsmodelle der Psychoanalyse, die wohl doch bestenfalls die Außenwelt jener Innenwelt berühren, um die es geht, wenn eine junge Frau ihrem Traumbild begegnet und doch nicht vom Scheitern, sondern von Erlösung die Rede ist?

Bayreuths neuer "Holländer" sucht eine Antwort zu geben. Man spielt denn auch, was Otto Klemperer einst in der Berliner Kroll-Oper versucht hat: die Urfassung des Werks, in welcher der tristaneske Erlösungs-Schluss fehlt. Auch hier bliebe freilich die Möglichkeit, die eindringlichste Aufgabe der Kunst zu nutzen, die, wenn der Vorhang zufällt, noch "alle Fragen offen" lässt.

 

Der Standard, 28.7.2003

Romantische Lesefrüchte in "Holländer"-Musik
Eine neue ästhetische Ära bei der diesjährigen Neuinszenierung des "Fliegenden Holländers" durch Claus Guth

Mit der diesjährigen Neuinszenierung des "Fliegenden Holländers" durch Claus Guth läutet Bayreuth-Chef Wolfgang Wagner eine neue ästhetische Ära ein: Die im Libretto vorgegebenen Handlungsabläufe dürfen verändert werden. Das Publikum ließ es sich gefallen.


Kein Meer. Kein großes Schiff. Claus Guths „Holländer" spielt sich in einer von Christian Schmidt gebauten Diele ab, aus der eine riesige Treppe nach oben führt. Darin und darauf doppelgängert es, dass es nur so eine Freude ist.

Von Peter Vujica aus Bayreuth

Bayreuth ist mehr als seine traditionsgeheiligte Festspielbühne. Zum Glück. Denn an den diesjährigen beiden Eröffnungstagen ereignete sich auf dieser nur mehr begrenzt Spektakuläres.

Doch wo es mit Großvater Richards Opern nicht so recht klappen will, ist immer noch Enkel Wolfgang, dieser monumentale Mix aus Klingsor und Alberich, zur Stelle. Mit seinen 83 Jahren trickst und blufft er sich mit ungebrochener Virtuosität und massivem fränkischem Charme über jede kulturpolitische Fallgrube. Er baut und plant: Der Werkstättenbereich um das Festspielhaus gleicht schon bald dem VW-Werk, und bis 2008 hat er einem allfälligen Nachfolger alles weggeplant

Dass der Output der großzügig erweiterten Werkstätten dann auf der Bühne etwas befremdlich anmutet, hängt wieder ursächlich mit Wolfgang Wagners Planungen zusammen. Seit er - nicht ganz freiwillig - mit dem Inszenieren aufgehört hat, scheint er mit der List des Schwarzalben an seinen ästhetischen und politischen Gegnern Rache zu nehmen. Im Vorjahr durch eine Neuproduktion des Tannhäuser, in der Philippe Arlaud als Bühnenbilder und Regisseur an klamottenhaftem Kitsch alles in den Schatten stellte, was man Wolfgang Wagner immer wieder ankreidete, und deren niederschmetternder Effekt sich auch heuer am zweiten Festspielabend wieder mit intensivster Nachdrücklichkeit einstellte.

Mit dem diesjährigen Holländer nimmt der alte Fuchs allen jenen den Wind aus den Segeln, die - wie seine Nichte Nike - nach Bayreuths ästhetischer Erneuerung riefen. Denn Claus Guths Inszenierung von Richard Wagners früher szenischer Ballade könnte im Hinblick auf die handwerkliche Brillanz und auf die vibrierende Intelligenz, mit der die Handlung verändert wird, ohne weiteres von Peter Konwitschny stammen. Auf alle Fälle leitet sie in Bayreuth eine neue Ära des Regieführens ein, in der die ursprünglichen szenischen Abläufe nicht mehr sakrosankt sind.

Weil deutsche Regisseure, wie man weiß, sehr gründliche Leute sind, hat Claus Guth, bevor er zu inszenieren begann, zunächst einmal viel gelesen. Und zwar das, was Richard Wagner las: Edgar Allan Poe und E. T. A. Hoffmann. Der eine schrieb nach dieser Lektüre den Holländer, Claus Guth inszenierte ihn, und er legt seine Lesefrüchte aus dem schummrigen Reich der Romantik in Wagners Holländer-Musik ein und macht sie zur ebenso befremdlichen wie letztlich doch interessierenden Gestaltungsgrundlage seiner Inszenierung.

Er wandelt das bizarre Spektakel vom rastlosen Seefahrer mithilfe von E. T. A. Hoffmanns Doppelgängermotiven und Edgar Allan Poes uhrwerkpräziser Symmetrie des Grauens zu einem mystisch-seelendramatischen Stubenspiel. Besser gesagt: Dielenspiel.Kein Meer. Kein großes Schiff. Dieser Holländer spielt sich in einer von Christian Schmidt gebauten Diele ab, aus der eine riesige Treppe nach oben führt. Darin und darauf doppelgängert es, dass es nur so eine Freude ist. Daland sieht aus wie der Holländer, ein kleines Mädchen geistert herum und ist gekleidet wie Senta.

Exaktes Vexierbild

Ein archimedischer Punkt für dieses bald tiefen-, bald küchenpsychologische Konstrukt aus Bezügen, Anspielungen und Assoziationen lässt sich freilich nicht finden. Man könnte diese Inszenierung ein sehr exakt gezeichnetes Vexierbild nennen, aus dem sich alles und nichts herauslesen lässt. Könnte sein, dass alles, was sich da abspielt, eine Kinderfantasie ist. Vielleicht hat Senta einen Vaterkomplex und sieht in Papa Daland auch gleich den Holländer. Und ist das kleine Mädchen am Ende gar ein lediges Kind, das sie mit Erik hat?

Die spinnenden Frauen sind bei Guth Girls aus den 30er-Jahren, die sich kess nach Wagner-Noten biegen. Und über die Bühne hampelnde Matrosen mit Pappnasen machen eine schlüssige Deutung auch nicht einfacher. Noch weniger leicht zu erklären ist die wenn auch nicht eben enthusiastische, immerhin aber doch zustimmende Reaktion des Publikums nach Ende der Premiere. Und dies, obwohl auch die Besetzung nach Bayreuther Maßstäben eher als matt zu bezeichnen ist.

Trotz John Tomlinson in der Titelrolle. Eigentlich müsste man beinahe sagen: vor allem seinetwegen. Bei allem Respekt vor diesem überragenden Wagner-Recken und trotz aller Bewunderung für die beinahe unerschöpflichen Dimensionen seiner szenischen Darstellungskraft: ein Holländer will auch gesungen sein. War dies bei seinem Auftrittsmonolog auch noch mit überlegen schattierter Dominanz der Fall, so bröckelte diese bald zur Routine, die er an den Solostellen zum Auffinden der richtigen Töne sehr nötig hatte. Dazu eine Senta (Adrienne Dugger), die trotz schöner Mittellage fast alle Hochtöne verfehlte, und mit Endrik Wottrich ein Erik, der seinen Part in stadttheatralischer Anfängermanier mehr schlecht als recht herauspresste. Da standen Jaako Ryhänen als passabler Daland und Uta Priew als untadelige Mary sowie Tomislav Muzek als Steuermann von eindrucksvoller tenoraler Lyrik auf verlorenem Posten.

Nicht so Marc Albrecht als Dirigent, der vor allem zu Beginn das Orchester zu ebenso detailreicher wie in Tempo und Dynamik furioser Leistung anfeuerte. Zusammen mit dem von Eberhard Friedrich einstudierten Chor zählte es zu den einzigen wahren Stützen dieser Aufführung.

 

Wiener Zeitung
28.07.2003

Bayreuth: Neuinszenierung "Der fliegende Holländer"
Daland hat Senta geklont

Von H. G. Pribil, Bayreuth

Die Bayreuther Festspiele 2003 (25. Juli bis 28. August) wurden am Freitag eröffnet: Mit einer Neuinszenierung des "Fliegenden Holländer" durch Claus Guth. Freilich: Diese Neuinszenierung hat zwar einige Ungereimtheiten zu bieten und ist alles andere als zwingend. Dass sie das noble bayreuther Festspiel-Publikum dennoch nicht über Gebühr aus der Reserve lockt und kaum elementare Widersprüche verursachte, stand auf einem anderen Blatt: Der Vertrauensvorschuss, den Festspiel-Leiter und Wagner-Enkel Wolfgang Wagner genießt, scheint bei dieser seiner "Werkstatt Bayreuth" wirklich enorm zu sein.

Man hat also bei dieser frühen Wagner-Oper in Bayreuth wieder einmal richtig aufgeräumt. Was zwar nicht wirklich hilft, aber weiter auch nicht schadet. Freilich eine der Vorgangsweisen, wie man sie auch bereits von anderen Spielstätten her kennt.

Dass zwischen dieser Tochter Senta und ihrem Vater Daland bereits in der Kindheit eine eigenartige Beziehung geherrscht haben muss, wissen wir bereits seit längerem. Dass der körperlichen Ähnlichkeit zwischen Daland und dem Holländer aber derart viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, dass Senta auch einen Klon in Form einer Zwillingsschwester aus Jugendtagen mit sich führen muss, ist wieder etwas übertrieben.

Dass es bei dem pausenlos ablaufenden Geschehen keine eigentliche Trennung zwischen Innen- und Außenwelt gibt, versteht sich ebenso wie die Tatsache der Aufhebung zwischen Holländern und Norwegern, abgesehen von einigen mehr oder minder künstlichen Gags. Das Bühnenbild und die Kostüme von Christian Schmidt sehen auch einige Verwandlungen vor, denen es an Komödiantik nicht fehlt. Man scheint sich in der Werkstatt Bayreuth auch an die Komik gewöhnt zu haben, was wohl gar nicht so übel ist.

Dieser Holländer lebt natürlich überhaupt nur noch in der Fantasie von "Senta, mein Kind". Er braucht auch keine leeren Bilderrahmen an den leeren Wänden, um erscheinen zu können. Dieser Holländer ist überall.

Jaakkoo Ryhänen hat als Daland ganz große Momente und eine auch maskenmäßig ungemeine Ähnlichkeit zum Holländer des John Tomlinson, der damit leider an seine längst vergangene Glanzzeit in Bayreuth verweisen kann. Fabelhaft die Senta von Adrienne Duggier. Die Mary von Uta Priew ist in dieser Inszenierung wahrlich mehr als eine Stichwortbringerin.

Endrik Wottrich kann sich als Erik mehr als profilieren, was nicht heißen soll, dass diese anspruchsvolle Partie dadurch irgendwie dankbarer wird. Der Festspiel-Chor (Einstudierung: Eberhard Friedrich) steht voll auf seinem Posten.

Einen teilweise zwiespältigen Eindruck hinterließ das Dirigat von Marc Albrecht. Manches klang da all zu hölzern und bieder, und es dauerte schon einige Zeit, bis man sich an diese Umstände wenigstens so halbwegs gewöhnt hatte. Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis der junge Marc Albrecht in diesen Betrieb voll hineingewachsen ist.

Wer's nicht zu eng sah - und das scheinen immer mehr zu sein - der konnte sich trotz manch unkonventioneller Sehweisen durchaus auch sein Erlösungssüppchen aus dieser neuesten Bayreuther Neuinszenierung zusammenbrauen.

Erschienen am: 28.07.2003

 

ABC
27 Julio 2003
Espectáculos - Música

Un "Holandés errante" surrealista
El festival arrancó con este estreno absoluto aclamado por el público

OVIDIO GARCÍA PRADA

Este personaje mítico, con rememoraciones del judío errante, descubre los espacios vitales de su mundo interior entre la dura ficción de las sombras

BAYREUTH. Con el estreno de un nuevo montaje de "El holandés errante" arrancó en la tarde del viernes el Festival Richard Wagner de Bayreuth, cita cumbre del verano musical. Claus Guth (dirección escénica), Marc Albrecht (dirección musical), debutantes ambos en la "verde colina", y Christian Schmidt (decoración y vestuario) firman la puesta en escena, aclamada por el público de la velada inaugural. Es el único estreno absoluto de esta 92 edición del Festival.

Este holandés wagneriano es un errático personaje mítico en busca de patria, hogar y sosiego. El propio compositor y libretista lo comparó con la figura del "eterno judío errante" ansioso de salvación. El mito adquiere una dimensión universal que en esta puesta en escena de carácter intencionadamente surrealista Guth transpone al plano interior, anímico. Su campo de operación es la fantasía: utiliza reflejos, sombras (incluso chinescas), dobles, etc., al estilo de la literatura coetánea de E.T.A. Hoffmann y E.A.Poe, autores que Wagner leyó intensamente en su día. En consecuencia, el protagonista no es un personaje de carne y hueso, sino un sumatorio de ideas o la superficie en la cual las otras figuras plasman y proyectan su propia nostalgia, deseos y angustias. Daland aparece, íncluso gésticamente, como una figura simétrica del errante marino. Senta es un carácter de complexión infantil, subrayado por la repetida inclusión en escena de una niña, que al final una horrenda máscara de la muerte arrebata hacia las alturas. Hay un único decorado en los tres actos. Se trata de un espacio interior cóncavo, estilo "biedermeier" dividido diagonalmente por una escalera semihelicoidal que comunica con el fantástico mundo irreal del "holandés". La luminotecnia confiere la configuración ambiental escénico-onírica con efectos cromáticos y proyecciones fílmicas. Resumiendo: sorprendente escenificación surrealista, bien desarrollada, con un par de momentos macabros y situaciones impactantes.

Una orquesta impecable

"El holandés..." de John Tomlinson no es (aún) parangonable a sus sensacionales interpretaciones anteriores de Hagen y Wotan en "El anillo...". El Daland de Jaako Ryhänen tiene fondo. Destacable la debutante Adrienne Dugger (Senta), con un soprano más penetrante que lírico. A nivel inferior deambularon los tenores Tomislav Muzek (timonel) y especialmente Endrik Wottrich (Erik), con emisión estrecha e inseguro. Esplendorosa la masa coral, reducida en el primer acto, hipercompenetrada, fulminante en el ataque y una meritoria actuación coreográfico-pantomímica. La orquesta presentó una ejecución técnica impecable, pero algo inerte, carente de esos suspensivos crescendos generadores de tensión que rezuma la partitura. Marc Albrecht no es evidentemente Otto Klemperer con su modélica interpretación londinense de 1968.

 

FINANCIAL TIMES
Lash Published: July 28 2003 18:09 | Last Updated: July 28 2003 18:09

Music: Der fliegende Holländer

By Larry L. Lash

Bavaria's Bayreuth Festival, the Disneyland for Wagnerians of means, opened on Friday night to a red-carpet crowd of Germany's leading politicians, glitterati, and hoi-polloi onlookers. When attention shifted from spectators to spectacle, ongoing rumours about the festival rang true: world-class singers were scarce (many allegedly alienated by Wolfgang Wagner, the composer's octogenarian grandson, who runs the show) and musical values have taken a back seat to trendy, sensationalist Regietheater (director's theatre) productions.

A new production of Der fliegende Holländer demonstrated that young director Claus Guth has a cornucopia of ideas. He need not, however, have put them all on stage at once.

Guth set the opera in a living room (middle-class, judging from the wallpaper) bisected by a curving staircase. Everything above the railing is a mirror image of the room beneath. Hyperactive lighting effects spray the walls with videos ranging from crashing waves to a plague of locusts, and furniture moves by itself.

Senta is seen as a child obsessed with her storybook, dolls and a toy ship. She also seems obsessed with older men: the Dutchman is a dead ringer for daddy Daland. The two men (presumably different aspects of the same personality) engaged in such closely synchronised movement I expected them to break into a tap dance.

Numbingly normal Erik is such a bore that he drives Senta to commit an act of housekeeping. When an attack of the clones occurs, Senta, trapped on the staircase between the doppelgängers, shrieks at her wish-fulfilment.

At a party with dozens of Dutch girls and phallic-nosed sailor boys, a giant death figure with nasty, big, pointy teeth comes down (or up, depending on how you look at the set) and snatches Senta.

Is Senta suffering from an Elektra complex? Does the reiterated covering of the Dutchman's/Daland's eyes indicate shame over child molestation? Or is this just an elaborate ghost story: you know, for kids?

No matter. The betrayed Dutchman vanishes, Senta claws at the walls, and Daland assumes his position from the opening tableaux, suggesting this high-concept clutter is a recurring dream, hardly a new approach to this opera.

Marc Albrecht led a prosaic, soggy performance, occasionally failing to hold his large forces to the same beat. The usually excellent Bayreuth orchestra had an off night: no soaring strings here, and peculiarly blustery horns.

Essaying his first Dutchman, John Tomlinson frequently sacrificed tonal beauty for dramatic effect (since there was none coming from the pit). The Lancashire native made every word count, giving his opening monologue the eerie feeling that he had been awakened from centuries of sleep. With artful phrasing and tone as acidic as a strong espresso, Tomlinson gave a gripping (if somewhat freestyle) performance.

As Senta, Adrienne Dugger looked ludicrous in a little girl's sailor dress with her hair frizzed out. Hers is a big voice with a warm, feminine middle register, but lacks the blooming high notes demanded by the role, many of which amounted to pitched screams.

Jaakko Ryhänen yelled Daland's music with hollow, unsupported intonation. Audience favourite Endrik Wottrich cut a handsome Erik but tended to cloak notes with a thick, adenoidal sound. The uncredited eight-year-old who played baby Senta deserved her name in the program and a solo curtain call. Able to act even with her back to the audience, she could teach many an older colleague some new tricks.

 

Opera News
November 2003

BAYREUTH: DER FLIEGENDE HOLLÄNDER

By JEFFREY A. LEIPSIC

The Bayreuth Festival opened this year with Claus Guth's fascinating new production of Der Fliegende Holländer (seen Aug. 16). A young Senta (portrayed magnificently by an unnamed child), costumed in a blue pinafore, appeared through much of the work. She carried a storybook and used marionettes to control much of the onstage action. One had the impression she had requested countless retellings of this tale, from both Daland and Mary, and the attachment of child to father played a crucial role in Guth's concept. He used two time frames, sometimes simultaneously, to juxtapose the alert child, in her upper-middle-class milieu, and the adult Senta, still idealizing her father and unable to liberate herself from her childhood. There was neither ship nor water on view, yet both were continuously suggested, a kind of psychological omnipresence.

A blood-red curtain represented the Dutchman's ship, descending along a huge staircase at stage right; when the curtain was drawn, one saw that behind it was a reverse image of the room below. A somewhat frumpy, grownup Senta was revealed, still dressed in a sailor jumper; Mary was old and blind now. The women's chorus, chicly outfitted, performed suggestively erotic choreography throughout the spinning scene; Senta was too inhibited to imitate them. Though her love for Erik seemed real, she could not take that crucial last step out of childhood.

Designer Christoph Schmidt created identical costumes and makeup for Daland and the Dutchman, who were indistinguishable from each another; for Senta, they were one person. At the end, with her father lying motionless (dead?) onstage, she tried to follow "her Dutchman," but there was no way out: at the top of the stairs were only walled-up, imaginary windows.

Guth perfectly matched Senta's unresolved desperation with the use of the original 1845 version of the score, musically free of redemption. Conductor Marc Albrecht's interpretation (heard Aug. 16) was one of contrasts, alternating dramatic outbursts with sections of heartrending tenderness. His communication with the stage (no easy task for first-year Bayreuth conductors) was exemplary. With homogeneous sound and unparalleled precision, Eberhard Friedrich's Festival Chorus once again was amazing.

John Tomlinson lent consummate distinction to the title role. His is not a uniformly beautiful voice; it tends to lose focus in anything approaching baritone range. Nonetheless, his interpretation was riveting. As Daland, Jaakko Ryhänen's sonorous bass filled the Festspielhaus; he exhibited no vocal weaknesses, moving adeptly through the complicated staging. Adrienne Dugger, relying at times more on power than on subtlety, might have infused more dynamic differentiation into her estimable Senta. Strong in all registers, she mastered the ballad (in the original key of A major) admirably. Endrik Wottrich's voice seems to grow yearly in size and accomplishment; his Erik was in every sense extraordinary. Tomislav Muzek was a sweet-voiced Steersman, Uta Priew a commanding Mary.

 

Agence France-Presse
27 July 2003

At Bayreuth, Claus Guth Directs Powerful New Production of Wagner's Flying Dutchman

The young German director Claus Guth made an impressive debut here on Richard Wagner's famed Green Hill, offering a deeply disturbing glimpse into madness and psychosis in his new reading of Der fliegende Holländer (The Flying Dutchman) which opened the 92nd Bayreuth Festival here on Friday.

Guth and his set designer Christian Schmidt were enthusiastically applauded by Bayreuth's notoriously critical first-night audience, even if a few boos were heard as they took their bows at the end of the evening.

Up-and-coming German conductor Marc Albrecht, also making a stunning festival debut, directed a strong, if not great, cast of singer-actors, headed by British bass John Tomlinson in the title role and US soprano Adrienne Dugger as Senta, who were all rapturously received for a musically gripping performance.

Guth, 39, gave a virtuoso display of new ideas for Wagner's sea-faring saga, sending the audience on a dark and frightening journey into the depths of the human psyche.

He was inspired by the nightmarish visions of romantic writers such as Edgar Allan Poe and E.T.A. Hoffmann, Guth told a news conference held in the restaurant of the Festspielhaus on Saturday.

In fact, aside from naval costumes and a few props, Guth and Schmidt dispense almost entirely with everything nautical from the tale of a Dutch captain condemned to roam the oceans eternally until he can find a woman to marry him and save his soul.

Instead, all the action takes place in Senta's and the other protagonists' mind and the stage is a run-down sparsely furnished interior, dissected diagonally by a huge spiral staircase. The upper half of the set is the exact inverse of the lower half and the staircase acts as the boundary between the real world below and terrifying world of nightmare and madness above.

In a carefully choreographed dance of death, the characters constantly cross and re-cross that boundary. And Guth underlines the nightmarish inversion of the two different planes by doubling Senta with a mute young girl (astonishingly played by an eight-year-old schoolgirl), and making Daland, Senta's father, the mirror image of the Dutchman, the object of her dreams and sexual desires.

"The Doppelgänger is one of the key themes of Romantic German literature, allowing you to peer into the abyss of the soul," Guth said. And the figure of the Dutchman was a screen onto which not only Senta projected her secret desires and longings, but Daland and Erik, too.

Guth's is a fascinating multi-layered reading of Wagner's drama, full of tantalising and constantly shifting ideas and images that demand to be seen again.

And, with everything darkly and threateningly lit by lighting director Manfred Voss, there are some spine-chilling moments, such as when the Dutchman's disembodied shadow walks slowly down the staircase.

The supporting roles — Uta Priew as Senta's (blind!) nurse Mary, Endrik Wottrich as Senta's suitor Erik and Tomislav Muzek as the Steersman — were all well sung, with the Bayreuth Festival chorus and orchestra in superb first-night form.

The festival was set to continue Saturday with the first revival of Philippe Arlaud's staging (under the baton of star conductor Christian Thielemann) of Tannhäuser, roundly panned by the critics last year.

Wagner's mammoth four-opera Ring cycle will follow in the four-year-old staging of Jürgen Flimm conducted by Adam Fischer, with Rheingold on Sunday, Die Walküre on Monday, Siegfried on Wednesday and Götterdämmerung on Friday. Bringing up the rear will be Keith Warner's production of Lohengrin on Saturday, being staged for the fifth and last time, with British conductor Sir Andrew Davis in the pit.

Up until August 28, Dutchman will be performed seven times, Tannhäuser and Lohengrin each five times and the complete Ring three times.

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La Libre Belgique
mis en ligne le 05/08/2003

Musique -FESTIVAL DE BAYREUTH

Extraordinaire Vaisseau wagnérien

Sur la célèbre colline verte, nouvelle production du "Fliegende Holländer".
Direction magistrale de Marc Albrecht, mise en scène passionnante de Claus Guth.

NICOLAS BLANMONT (Envoyé Spécial à Bayreuth)

Il est des spectacles qu'on voudrait revoir à peine le rideau retombé. Des spectacles si denses et si riches qu'on se dit qu'on ne peut en avoir épuisé toutes les potentialités en une vision, des spectacles dont chaque geste, chaque attitude, s'inscrit dans un projet global dont on ne percevra que peu à peu toute la dimension. D'une cohérence prodigieuse, la nouvelle production du "Vaisseau fantôme" qui vient d'être créée au festival de Bayreuth est de celles-là. Alors même qu'une vision marquante de l'oeuvre (celle de Giuseppe Sinopoli et Dieter Dorn) avait traversé toute la précédente décennie, Marc Albrecht et Claus Guth, tous deux âgés de 39 ans, ouvrent ici de nouvelles perspectives qu'on a d'ores et déjà envie d'explorer plus avant en leur compagnie.

Cuivres accrus

Pour ses débuts sur la colline verte, le jeune chef allemand a choisi de revenir à la version presque originale de la partition, où les cuivres jouent un rôle accru par rapport à ce qu'on entend d'habitude. Il dirige avec flamme et passion l'Orchestre du Festival (une phalange ad hoc formée des meilleurs musiciens des orchestres allemands), avec un sens aigu de la construction des crescendos sonores et dramatiques. La tension est permanente, et le flot musical emporte tout sur son passage, laissant le spectateur haletant à l'issue des deux heures vingt de la représentation.A travers l'arrivée du Hollandais, la mise en scène de Guth explore les relations entre Senta et son père, touchant avec délicatesse et tact au thème éminemment wagnérien de l'inceste. Même uniforme, mêmes lunettes, même barbe poivre et sel (tous deux ressemblent - autre clin d'oeil? - à Brahms) : le Hollandais et Daland sont des jumeaux et la jeune fille (également représentée par une fillette muette) ne peut aimer l'un sans aimer l'autre. Ce thème de la gémellité et de l'enfermement qui en découle se décline aussi dans les superbes décors de Christian Schmidt: un vaste hall circulaire d'un hôtel de maître, dont le grand escalier monumental d'abord drapé de velours pourpre révélera à l'étage l'exact envers de ce qu'il domine. Des portes et des tableaux inversés, mais des portes qui s'avéreront murées quand Senta tentera en vain, au final, de quitter ce confort tranquille pour suivre le Hollandais.

Loin d'être le héros vaillant et mystérieux que l'on campe d'habitude, le Hollandais (superbe John Tomlinson, qui sait faire de ses limites une force pour un personnage ainsi conçu) est ici un homme âgé, qui descend et monte avec peine l'escalier, trébuchant, retombant en arrière, s'affalant ou chantant avec la tête entre les barreaux de la rampe. L'expression vocale est douloureuse et souvent ralentie, et cette omniprésence de l'usure de l'âge souligne évidemment sa proximité avec Daland (Jaakko Ryhanen, irréprochable), mais aussi le caractère foncièrement déséquilibré de l'amour juvénile que nourrit pour lui Senta (la puissante soprano américaine Adrienne Dugger, à qui on fera seulement le grief de prendre les notes les plus aiguës par le bas).

Humour grinçant

Il faudrait encore décrire la splendeur incisive des éclairages, l'inventivité des décors du troisième acte (un bateau, puis un immense squelette en vrai ciré de marin là où le Hollandais et Daland ont l'allure de navigateurs de vedettes fluviales) ou l'intelligence des projections vidéo qui transforment en mer de tempête les papiers peints de la demeure. On devrait parler de l'humour, parfois grinçant: les fileuses transformées en collégiennes orphelines et esquissant un pas de chorégraphie sur leur célèbre choeur, les matelots représentés au troisième acte comme des pantins grimaçant à la James Ensor. Il y aurait encore à citer la Mary d'Uta Priew, l'excellent Pilote de Tomslav Muzek et surtout le magnifique Erik d'Endrik Wottrich (le ténor allemand sera le Parsifal de Boulez dès l'an prochain), et à parler bien sûr des prodigieux choeurs du festival, dirigés ici de main de maître tant vocalement que scéniquement. Même avec tout cela, on n'aurait pas encore dit toutes les vertus de ce spectacle à la fois spectaculaire et intense qui ne peut que réjouir les yeux, les oreilles et les âmes.

© La Libre Belgique 2003

 

Altamusica.com
Festspielhaus, Bayreuth, le 16/08/2003

Nouvelle production du Vaisseau fantôme de Richard Wagner au festival de Bayreuth.
Détournement réussi
On attendait beaucoup la nouvelle production bayreuthienne de l’année, le Vaisseau fantôme de Claus Guth et Marc Albrecht. On s’attendait aussi à un détournement en règle comme c’est désormais la coutume à chaque nouvelle production, et l’extrapolation proposée, pourtant parfaitement cohérente, a été copieusement sifflée.

Par Yannick MILLON

Il faut le savoir, le public de Bayreuth est d’un rare conservatisme. Proposez-lui une mise en scène un tant soit peu innovante, il râle. La nouvelle production du Vaisseau fantôme a donc été huée comme il se doit, mais on ne s’explique pas ce geste devant une production aussi cohérente et pertinente, même si elle ignore tout romantisme.

Guth donne une vision psychanalytique, freudienne, du Vaisseau, centrée sur le personnage de Senta, qui fait beaucoup penser ici à Mme Bovary : une petite bourgeoise qui s’ennuie et se fait des films. Le décor représente l’intérieur d’un hôtel de maître défraîchi, avec son grand escalier, au-dessus duquel on peut voir le décor du bas à l’envers, parfaite symétrie entre le monde du fantasme – le haut – et celui de la réalité – le bas. Le Hollandais est le double de Daland : même costume, même barbe, mêmes lunettes. Senta rêve donc d’un héros qui est le double de son père – idée de l’inceste, très présente chez Wagner, même si beaucoup de spectateurs refusent encore de l’admettre. A l’opposé des Hollandais héroïques, autoritaires et ombrageux, Guth propose un Hollandais psychotique, torturé, vieilli, qui peine à marcher.

Sa mise en scène regorge d’idées géniales: par un habile jeu de lumière et d’utilisation de la vidéo, le monde du haut et celui du bas fusionnent au moment où Daland et le Hollandais pactisent, symbole que leurs mondes respectifs se mêlent, que leurs intérêts deviennent communs, Senta possède son double en une fillette muette qui est la représentation de son imaginaire, elle s’ennuie tellement devant les déclarations d’amour d’Erik qu’elle astique la rambarde de l’escalier. On est aussi impressionné par le troisième acte et l’enlèvement de la fillette par un immense squelette en ciré qui descend des cintres la tête en bas.

On attend alors de voir comment Guth va négocier la fin de l’opéra, et l’on s’incline devant une telle imagination : le rideau rouge qui couvrait le monde du haut au début de l’opéra se referme et happe le Hollandais qui disparaît, mais quand Senta veut le suivre pour mourir avec lui, le rideau s’ouvre sur des portes murées. Tout n’était que fantasme, la jeune fille devra se contenter du monde réel et de sa vie ennuyeuse. Sur les derniers accords de l’orchestre, elle martèle la porte, au comble du désespoir et ivre de colère.

Au niveau musical, la production vaut aussi le détour. La direction de Marc Albrecht, motorique et dramatique, avec une pointe de sécheresse et des accords tranchants, emporte tout sur son passage, de l’orage initial de l’ouverture – électrique et ravageur – à la scène finale d’une tension à couper le souffle. Mais le chef allemand sait se faire lyrique et donner une bouffée de lyrisme dans les moments tendres du deuxième acte. Sa direction sert à la perfection la mise en scène de Guth, tout comme les chœurs lapidaires d’Eberhard Friedrich, dont on ne dira jamais assez l’excellence.

Quant au plateau, il est le maillon le moins incontestable de ce nouveau Vaisseau. Première concernée, la Senta bien terne d’Adrienne Dugger. La jeune Américaine a plus de vibrato que de voix, un timbre pas vraiment joli et une émission défaillante dans les pianos, absolument tous en arrière et détimbrés.

Côté masculin, on saluera la beauté de timbre du pilote de Tomislav Muzek, et on appréciera sans l’admirer outre mesure l’Erik vaillant d’Endrick Wottrich, qui chantera Parsifal pour Boulez l’an prochain. Le timbre est assez sombre – un peu à la Vinay – et l’aigu sort bien, mais le ténor a une manière de quitter les sons peu discrète, avec un coup de glotte disgracieux.

Le Hollandais de John Tomlinson, très attendu, marque par son talent d’acteur et sa finesse de caractérisation, qui compensent un chant si fissuré et abîmé que l’on frôle souvent l’expressionnisme : notes toutes droites, pianos fantomatiques, aigus placés seulement une fois sur deux. On sera par contre unanime sur le Daland parfait de Jaakko Ryhänen, au timbre noble et sombre de vraie basse et aux aigus magnifiques, une voix de Hollandais en somme.

On connaît assez les aléas des productions à mise en scène transposée, mais à Bayreuth, le résultat est concluant et malgré quelques faiblesses dans la distribution, le détournement de ce Vaisseau est incontestablement réussi.