Frankfurter Allgemeine Zeitung
25. Juni 2004

Zwei Regisseurinnen und viele Spiele mit der Illusion:
Sybille Wilson und Andrea Schwalbach inszenieren zwei Opern-Einakter im Bockenheimer Depot

Andrea Schwalbach hat ein Problem: Sie fühlt mit dem "Kaiser". "Man möchte ihn am liebsten in den Arm nehmen und trösten, denn das Mitgefühl überträgt sich mit der Musik", sagt die Frankfurter Regisseurin über den parabolischen Hitler in Viktor Ullmanns Kammeroper "Der Kaiser von Atlantis oder Die Todverweigerung". Ist er wirklich bemitleidenswert, dieser Kaiser Overall (Andreas Larsson), der zum Krieg aller gegen alle aufruft, daß selbst Harlekin (Alexander Mayr), dem Leben, das Lachen vergeht? Jedenfalls wird die Regisseurin ihr Publikum nicht in eine "Betroffenheitsfalle" locken. Auf einem Schotterfeld von sieben mal neun Metern will sie im Bockenheimer Depot mit sieben Sängern, 13 Stühlen und ein paar Stricken zeigen, wie sich ein Diktator die Arbeit des Todes (Magnus Baldvinsson) anmaßt, bis dieser streikt und niemand mehr sterben kann, solange der "Kaiser" lebt.

Ullmann hat die musikalische Parabel über Macht und Tod 1943 im Lager Theresienstadt geschrieben. Dort war der jüdische Komponist im Jahr zuvor mit seiner Frau Elisabeth interniert worden, von dort wurde er im Jahr darauf nach Auschwitz deportiert, wo das Ehepaar in den Gaskammern starb. Anstelle von Kleidung hatte Ullmann Papier nach Theresienstadt mitgenommen, das er denn auch mit 24 Musikwerken beschrieb: darunter zwei Klaviersonaten, ein Streichquartett, Lieder und Chöre und diese einaktige Kammeroper. Der Maler und Dichter Peter Kien hatte das Textbuch verfaßt, Bühnenbild und Kostüme entworfen, aber aufgeführt wurde das Werk nicht mehr. Warum, ist bis heute nicht ganz geklärt. Vielleicht hatte die SS das antifaschistische Werk verboten, vielleicht verzichteten die Lagerinsassen selbst darauf, weil es ihnen zu brisant war.

"Das Stück ist wie eine Flaschenpost", sagt Regisseurin Schwalbach, die im Frankfurter Stadtteil Bockenheim geboren und aufgewachsen ist, an der Goethe-Universität Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaften studiert und an der hiesigen Oper 1997 Donizettis "L'elisir d'amore" sowie im vorigen Jahr den "Walzertraum" inszeniert hat. Sie hört aus Ullmanns tonaler Musik vor allem "ein Requiem" heraus, "ein Gebet". Sie empfindet die Oper, die keine Geschichte erzählt, sondern aus Handlungssplittern besteht, als "extrem zerbrechlich". Allenthalben spürt sie die "innere Auseinandersetzung der Lagerinsassen" mit der realen Macht und der ihnen drohenden Vernichtung. Am Ende sind alle tot, der Kaiser, seine Getreue namens Trommler (Annette Stricker), die öffentliche Meinung namens Lautsprecher (Gerard Lavalle) sowie der Soldat (Michael McCown) und das Mädchen Bubikopf (Britta Stallmeister), die sich auf dem Schlachtfeld ineinander verliebt hatten.

Nur eine Figur tritt wieder aus dem Stück ins Leben zurück: ein Mensch aus dem Publikum, den Andrea Schwalbach hinzuerfunden hat. Eigentlich hatte ihm schon Meister Pedro einen zaghaften Wink gegeben. Denn den Abend im Bockenheimer Depot eröffnet jener spanische Puppenspieler, den Manuel de Falla zum Titelhelden einer einaktigen Puppenoper gemacht hat. "El Retablo de Maese Pedro" erzählt davon, wie Don Quijote im zweiten Teil des gleichnamigen Romans von Cervantes ein Puppentheater kurz und klein schlägt, weil er die Fiktion für Realität hält und die befreite Prinzessin Melisandre vor ihren maurischen Verfolgern beschützen will. Der spanische Komponist schrieb die Oper für das private Puppentheater seines Freundes Garcia Lorca und versuchte dabei mit forcierter Künstlichkeit der Illusion und dem Bombast der traditionellen Oper entgegenzuwirken.

Anders als Andrea Schwalbach, die ihre fremdgesteuerten "Puppen" des "Kaisers" unter anderem an Stricken zappeln läßt, hat sich Sybille Wilson für ein Schattentheater entschieden. Ihr Meister Pedro ist zwar auch ein Illusionist, aber mit seiner Kunst in einem luftigen Zelt manipuliert er Freiwillige, sprich: die Zuschauer. Die 27 Jahre alte belgische Regisseurin englisch-französischer Abstammung, die seit vier Jahren am Theatre Royal de la Monnaie in Brüssel engagiert ist, will Sein und Schein, Konkretes und Reales in der Schwebe halten wie im Kopf von Don Quijote. Eine italienische Schattentheatergruppe, die sich über den ästhetischen Effekt des traditionellen Silhouettentheaters hinaus auch auf dessen spirituelle Wirkung versteht, soll dabei alle Perspektiven ausschöpfen, so daß der Zuschauer nie weiß, woher die Lichtquelle für die Schatten auf der Zeltwand kommt.

Aber nicht nur Melisandre und ihr Ritter, auch die reellen Personen werfen Schatten: Meister Pedro (Peter Bronder), Don Quijote (Florian Plock) und der Trujaman, der Erzähler (gesungen von einem Solisten der Aurelius Sängerknaben Calw), der sogar mit seinem Schatten spielt. So öffnet die Regisseurin die Imagination für die Realität und umgekehrt, die Wirklichkeitsebenen durchdringen einander, und wenn sich das Zelt zuletzt hebt und davonfliegt, war das schattenhafte Ritterspiel womöglich nur ein Traum des Ritters von der traurigen Banker-Gestalt. Denn dieser Don Quijote sitzt im Publikum und schlägt auch nicht zerstörerisch um sich wie sein literaturhistorisches Vorbild. Im Gegenteil: Die toten Schatten werden von seiner Phantasie zum Leben erweckt, die "Puppen" des "Kaisers" dagegen sterben.

Anne Neuser hat beiden eine Bühne gebaut, Stefan von Wedel kleidet die Sänger ein. Unter der musikalischen Leitung von Johannes Debus und Hogen Yun findet die Doppel-Premiere am 27.Juni um 18 Uhr im Bockenheimer Depot statt.

CLAUDIA SCHÜLKE