Frankfurter Rundschau
26.09.2003

Eine mythische Figur, die durch das ganze Stück geht
Ein Gespräch über Berufsauffassungen und Inszenierungsweisen mit dem Sänger Carlos Krause, der in der Frankfurter "Lulu" die Partie des Schigolch übernimmt


Carlos Krause ist in der Lulu der Frankfurter Oper mit der Partie des Schigolch betraut und wäre gern noch einmal der Milchmann Tevje in Anatevka. (FR)

Frankfurter Rundschau: Herr Krause, Sie singen nicht nur, sondern Sie leiten seit 1990 die Opern-Akademie Bad Orb. Dort haben Sie in diesem Sommer mit Nachwuchs-Sängerinnen und -Sängern "Zar und Zimmermann" von Albert Lortzing einstudiert und aufgeführt. Wie ist es, nun wieder in die Rolle des Sängers zu schlüpfen?

Carlos Krause: Das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Das eine verbinde ich nicht mit dem anderen. Das heißt, ich werde mich dort nie als Sänger aufspielen, und hier werde ich mich nie in die Regie einmischen. Dort bin ich Regisseur, Direktor und alles, und hier mache ich diszipliniert meine Arbeit als Sänger. Wenn in Bad Orb eine Idee von einem Ensemble-Mitglied in die Inszenierung einfließt, dann bekommt das Mitglied dafür einen symbolischen kleinen Obolus. Das ist eine uralte Tradition. Ich habe hier zum Beispiel in der Inszenierung der Nase von Herrn Schaaf sieben Groschen bekommen. Für Einfälle, die der Regisseur akzeptiert, gab es früher einen Groschen, jetzt zehn Cent, und das finde ich eine süße Idee. Ich habe einmal per Postanweisung an einen Regisseur an einem anderen Theater einen Groschen geschickt, weil wir einen Gag aus seiner Inszenierung benutzt haben.

Die aktuelle Aufführung von "Lulu" ist eine Ko-Produktion mit der English National Opera. Bernd Loebe hat die Inszenierung von Richard Jones im Mai 2002 in London gesehen und nach Frankfurt geholt, ebenso das Bühnenbild von Paul Steinberg, die Kostüme von Buki Shiff und das Licht von Pat Collins. Wie offen war denn da die Regie für Einfälle des Teams?

Sehr offen. Die Inzenierung war natürlich festgelegt, und wir hatten nicht viel Zeit, um noch ganz neue Dinge zu erfinden. Aber Richard Jones' Assistentin Anneliese Miskimmon, die die Proben hier geleitet hat, war unglaublich großzügig und flexibel, wenn uns etwas nicht gefallen hat. Harry Kupfer hat damals ein unglaublich präzises Konzept gehabt. Jede Nuance musste genau stimmen. Dagegen lässt uns diese Inszenierung wunderbar viel Raum. Die Grundregie war da, und dann haben wir relativ frei agieren können.

Sie haben bereits sieben verschiedene Rollen in "Lulu" gesungen, in ganz unterschiedlichen Inzenierungen. Was ist für Sie das Besondere an der aktuellen Inszenierung?

Lulu steht natürlich im Mittelpunkt. Aber sie ist etwas heiterer als sonst. Die anderen schwirren alle um sie herum, auch wenn sie hier vielleicht ihrem Charakter etwas mehr nachgeben können.

Und Schigolch?

Der Schigolch ist noch ein anderer Punkt, weil der ihr nahe steht wie kaum einer. Er hat sie schon als Kind gekannt, missbraucht, bekommt bis ins Alter Geld von ihr, hat sie immer begleitet, aber auch beschützt. Für mich ist er eine fast mythische Figur, die durch das ganze Stück geht und als einziger überlebt, vielleicht sogar eine Art Ahasver-Figur. Alle anderen sind tot, und er geht ganz heiter und sagt: "Also, wenn man mich sucht, ich sitz' unten im Lokal."

Was bedeutet das für Sie, dass ausgerechnet Schigolch überlebt?

Es gibt solche Figuren, die sich immer so durchschlängeln, so durchmogeln, und sich auch immer gut anpassen, die sich quasi durchs Leben mogeln, aber auch eine große Lebenskraft und Philosophie haben. Die anderen in Lulu sind alle tragische Figuren. Die Philosophie des Schigolch ist im Grunde einfach Überleben. Sehr egoistisch, aber eben auch mit Beziehungen zu Menschen, die er braucht.

Wie sehen Sie die Figur der Lulu?

Lulu ist eine freie Frau, die ihren Weg geht. Sie übergeht das, was passiert, mit einer Kälte, dass es einen graust. Insofern ist sie eine künstliche Figur, sehr theoretisch. Aber sie hat auch eine große Sehnsucht nach väterlichen Figuren. Sie hat nie einen gehabt, aber ich werde von den anderen als ihr Vater angesehen.

Als Adorno Alban Bergs Lulu-Symphonie 1935 in London zum ersten Mal hörte, zwei Jahre vor der Uraufführung der Oper, fand er die Musik trotz Zwölftontechnik erstaunlich dissonanzlos und "sinnlich wohllautend so sehr, dass in London die Farben selbst von Ravels ,Daphnis und Chloë' danach verblassten".

Ich finde, diese Musik ist viel sinnlicher als vieles andere aus dieser Zeit. Da gibt es unglaublich erotische Dinge, auch viele Stellen voller Poesie. Aber Sie brauchen schon ein wenig Erfahrung im Zuhören. Oder vielleicht auch gar keine, damit Sie unbefangen herangehen. Und Sie brauchen sehr gute Stimmen. Die Lulu-Partie ist eine mörderische Partie. Wir haben das Glück, dass wir mit Juanita Lascarro so eine wunderbare Sängerin haben. In meiner Anfängerzeit als Sänger war es oft so, dass es eine Kategorie von modernen Sängern gab, ich will jetzt keine Namen nenen, weil die noch bekannt sind, die sangen das zwar toll, aber die Stimmen waren nicht schön. Die mit den schönen Stimmen sagten oft, das mache ich nicht. Hier in Frankfurt singen alle ganz toll. Und dann geht einem die Musik noch mehr ans Herz.

[ document info ]
Copyright © Frankfurter Rundschau online 2003
Dokument erstellt am 25.09.2003 um 17:48:03 Uhr
Erscheinungsdatum 26.09.2003
URL:
http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/kultur_frankfurt/?cnt=311427