rhein.main.net
20.6.2003

Regisseur Calixto Bieito inszeniert in Frankfurt Massenets «Manon»

Frankfurt (dpa). Calixto Bieito zählt zu den umstrittensten Regisseuren unserer Zeit. Wegen seiner skandalumwitterten Inszenierungen haben allein in Hannover 3500 Opernbesucher ihr Abonnement gekündigt, wie er selbst einräumt. An diesem Samstag stellt der Katalane an der Frankfurter Oper mit der Inszenierung von Jules Massenets «Manon» sein neuestes Projekt vor. Die musikalische Leitung hat Generalmusikdirektor Paolo Carignani. Die Rolle der Manon übernimmt Juanita Lascarro, die seit dieser Spielzeit dem Ensemble angehört.

Bereits im Vorfeld zur Frankfurter Premiere wehrte sich Bieito gegen Vorwürfe, er würde die Oper mit seinen Inszenierungen zerstören. «Ich liebe die Oper über alles», sagt er in einem Interview in der aktuellen Ausgabe der «Zeit». Die Gewalt, die er auf der Bühne zeige, stecke in den Stücken selbst. Sie sei in der Gesellschaft allgegenwärtig, meinte der 1962 geborene Regisseur.

Stein des gesellschaftlichen Anstoßes ist bei Bieito in den meisten Fällen die offene Darstellung von Gewalt und Sexualität. Bieito, der nach eigener Darstellung «gerne mit extremen Bildern von Sexualität» arbeitet, sieht das anders: «Sex gibt es überall, im Fernsehen, in der Reklame für Parfüm oder für Butter, überall. Nur auf der Bühne will man den Sex nicht sehen. Man will die Oper als eine Art Paradies bewahren. Ich will die Leute aber berühren mit der Poesie der Gewalt, mit Sex, mit der historischen und politischen Situation in meinem Land. Das ist es, was die Leute von meinem Theater erwarten.»

 

Frankfurter Rundschau
20.6.2003

Im Spiegel: Die Gesellschaft und das Geld
Regisseur Calixto Bieito über seine Rolle als enfant terrible der Oper und Jules Massenets "Manon"

Der Spanier Calixto Bieito gilt als einer der derzeit radikalsten Regisseure des internationalen (Musik-)Theaters und als zuverlässiger Skandal-Lieferant. 2001 debütierte er als Regisseur von Shakespeares Macbeth bei den Salzburger Festspielen – der Sturm der Empörung, den er dabei entfachte, blies ihn durch alle Feuilletons. Kontrovers diskutierte Inszenierungen in Barcelona, Kopenhagen, London und Hannover folgten. Was er zubereite, schrieb einmal ein Kritiker, sei „Manna für die Abendkasse, Gift fürs Abo, Futter für die Schlagzeilen". An der Oper Frankfurt bringt Bieito nun Jules Massenets Manon auf die Bühne. Mit Bieito sprach FR-Mitarbeiter Tim Gorbauch.


Zeit zum Nachdenken für Calixto Bieito. Der Opernregisseur hat sich durch provokante Einlagen in seinen Inszenierungen einen Platz in der Erregungs-Hitparade der Medien gesichert - entgegen seiner Absicht, wie er im Gespräch mit der FR versichert.
FR-Bild

Frankfurter Rundschau: Herr Bieito, Ihnen eilt der Ruf des enfant terrible voraus, des waghalsigen Provokateurs. Fühlen Sie sich wohl mit diesem Etikett?

Calixto Bieito: Nein. Überhaupt nicht. Ich sehe mich nicht als Provokateur. Das ist die Sicht anderer. Nicht meine.

Wie würden Sie sich selbst beschreiben?

Als einen, der versucht, Oper lebendig und frisch zu halten, sie im Jetzt zu verankern. Oper soll ein Spiegel der Gesellschaft sein, sie darf nicht wegsehen oder sich verstecken. Oper muss lebendige Kunst sein, keine tote, historische. Wenn diese Überzeugung mich schon zum Provokateur macht, bitte. Aber es nicht mein Ziel zu provozieren. Ich gehe nicht an eine Inszenierung ran und überlege mir, welche Tabus ich heute breche.

Wie wichtig aber ist Ihnen die Wirkung, die Sie haben? Wären Sie nicht verwundert, wenn Sie für Ihre Arbeiten breite Zustimmung erhielten?

Platon sagte ja einmal, es sei dumm zu versuchen, alle zufrieden zu stellen. Ich bin dumm. Ich will alle zufrieden stellen mit meinen Inszenierungen. Aber ich weiß, dass es schwierig ist. Viele wollen immer das Gleiche sehen, die Sicherheiten der Gewohnheit. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass der größte Teil des Opernpublikums sich überraschen und berühren lassen will. Und berühren kann nur etwas, was lebendig ist.

"Das geht zu weit", schrie eine Zuschauerin während Ihrer Inszenierung von Shakespeares "Macbeth" in Salzburg. Was ging Ihnen da durch den Kopf?

Dass sie nicht recht hat. Dass es bei Macbeth um Horror geht, und dass ich nichts anderes gemacht habe, als diesen Horror, den nicht ich, sondern Shakespeare aufgeschrieben hat, auf die Bühne zu bringen. Und dass es auch heute den Horror noch gibt, vielleicht mehr denn je, ist eine Realität, vor der ich meine Augen nicht verschließen will.

Wie schlecht ist die Welt denn?

Es geht nicht darum, wie schlecht die Welt ist. Es geht darum, was das Stück fordert. Shakespeares Macbeth erzählt den Horror. Verdis Troubadour, den ich in Hannover inszeniert habe, verhandelt den Tod und dessen Grausamkeit. Don Giovanni berichtet von Extremen, von der Ausschweifung und der Lust, Grenzen zu überwinden. Alles hängt vom Stück ab. Bei Manon geht es nicht um den Tod oder um die Brutalität oder um den Exzess. Es geht um das Vergnügen und das Geld. Um das Bewusstsein, dass das Leben zu kurz ist. Man muss schnell leben. Und um die Möglichkeiten von Liebe in einer Welt, in der Geld das wichtigste ist.

Sie sprachen von der Oper als Spiegel der Gesellschaft. Wie ist das bei "Manon"?

Manon ist auf der Flucht. Sie bricht aus aus einem katholisch geprägten Elternhaus, das ihre Lust nach Leben nicht versteht. Aber sie hat kein Geld. Doch sie will das Vergnügen. Sie will Spaß, das Leben genießen. Also braucht sie Geld. Irgendwann dreht sich alles ums Geld. Insofern ist Manon für mich eine Metapher für unsere Gesellschaft. Sie hält ihr nicht den Spiegel vor, sie ist wie sie.

Der Medienauftrieb, der Ihre Inszenierungen spätestens seit ihrem Salzburg-Debüt begleitet, ist gewaltig. Das Interesse nimmt fast voyeuristische Züge, alles andere als ein Theaterskandal käme einer Enttäuschung gleich. Spüren Sie den Erwartungsdruck?

Nein. Ich bin keine Marketingmaschine. Ich will konzentriert arbeiten, eine gute, ehrliche, aufrichtige Inszenierung abgeben. Ich will kein Skandal-Lieferant sein und schon gar nicht, dass die Menschen ins Theater gehen, weil sie an einem Skandal teilhaben wollen. Ich will sie treffen, sie berühren. Das ist der Anspruch, den ich an meine Arbeit stelle.

• Premiere am Samstag, 21. Juni, 19.30 Uhr. Weitere Vorstellungen am 23., 25., 28. Juni, 2., 4. und 6. Juli. Karten unter 069-1340400.

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2003
Dokument erstellt am 19.06.2003 um 17:24:05 Uhr
Erscheinungsdatum 20.06.2003

 

DIE ZEIT
18. Juni 2003

Interview
Schnitt durchs Auge
Wie viel Schock verträgt die Kunst? Ein Gespräch mit dem katalanischen Regisseur Calixto Bieito


Foto: Frankfurter Oper

die zeit: Herr Bieito, woher kommt die Gewalt in Ihren Opern- und Theaterinszenierungen?

Calixto Bieito: Ich mache das, was ich in den Stücken erkenne. Und in der Wirklichkeit. Es gibt Passagen in Verdis Il Trovatore, die sind der absolute Albtraum. Ich zeige sie dementsprechend – als den schlimmsten Horror, den man sich vorstellen kann.

zeit: Es gibt Massenvergewaltigungen, Folter, Hinrichtungen, die Zigeunerin Acuzena muss Kot essen.

Bieito: Beim Trovatore war ich mir immer ganz sicher, dass dies der richtige Weg ist: zu zeigen, wie die Gewalt und der Irrsinn der Menschen die Poesie zerstören. Diese Gewalt ist ja auch in der Wirklichkeit allgegenwärtig. Die modernen Kriege sind nicht so sauber, wie es uns das Fernsehen immer weismachen will. Zwei Millionen deutsche Frauen sind am Ende des Zweiten Weltkriegs von den Russen vergewaltigt worden. Die Großmutter eines Freundes, die schon sehr alt war, siebzig oder so, ist damals von zwei jungen Soldaten vergewaltigt worden. Mann, siebzig Jahre! Da geht es doch nicht mehr um Sexualität! Es reizt mich, solche abgründige Dumpfheit auf der Bühne zu zeigen. Wenn sie im Stück angelegt ist!

zeit: Sie haben mal gesagt, Ihre Inszenierungen seien wie Drogenräusche. Müssen Sie nicht ständig die Dosis erhöhen, damit Ihr Theater funktioniert?

Bieito: Nein, davor habe ich keine Angst. Jede Produktion braucht neue Ideen, neue Bilder. Die Oper muss Spiegel der Gesellschaft sein. Es ist eine fantastische Gelegenheit, die Menschen sich selbst betrachten zu lassen. Am Ende sollen sie denken: Mein Gott, das also passiert in Afghanistan, im Irak, im Kongo oder wo immer. Oper ist unglaublich emotional. Die Musik geht direkt in den Bauch. Sie verbindet sich mit den Bildern auf der Bühne zu einer unglaublich starken Einheit.

zeit: Aber Oper ist auch wahnsinnig künstlich.

Bieito: Natürlich. Es ist schwierig, zu singen. Und doch geht vom Gesang eine starke Unmittelbarkeit aus. Singen ist wie Schreien. Das provoziert Emotionen bei den Zuschauern, aber auch ein Nachdenken. Dieses Wahrhaftige im Künstlichen interessiert mich. Ich bin für wahrhaftige Spiele auf der Bühne. Es ist Fiktion, aber real. Natürlich isst Acuzena nicht wirklich Kot. Sie tut so, als ob.

zeit: Finden Sie immer die entsprechend furchtlosen Darsteller für Ihr Theater?

Bieito: Nein. So zu spielen ist schwer. Man muss überzeugend sein, gegen alle Widerstände. Als ich der Darstellerin die Sache mit dem Kot vorschlug, dachte sie kurz nach und sagte dann: Okay, wir versuchen’s. Ich habe ihr genau beschrieben, worum es in der Szene geht, und dann sagte ich: Go, go, go!! Do it! Do it real! Es hat sich immer weiter entwickelt, größer, größer, größer! Man muss glauben können, wenn einer auf der Bühne sagt: Ich liebe dich. Dafür müssen die Sänger frei und sich ihres Körpers sehr sicher sein, ohne Angst. Dann ist es ein Paradies auf der Bühne, man kann alles tun: Scheiße essen, jemanden lieben, seinen Bruder hassen…

zeit: Die ganz großen Sängerstars werden sich auf Ihr Spiel nicht einlassen wollen.

Bieito: Meine zweite Oper habe ich zusammen mit Roberto Alagna und Angela Gheorghiu gemacht, Verdis Maskenball. Angela sagte gleich am ersten Tag zu mir: Alle deine Ideen sind Scheiße. Da hab ich angefangen zu lachen. Sollte ich etwa meine Ideen für sie ändern? Ich sagte: Du kannst Michaela nicht singen wie mit einem Moschino-Täschchen, sie ist ein armes Mädchen. Und sie sagte: Warum erzählst du mir das? Du bist ein dummer Junge! So ging es die ganze Zeit, es war sehr lustig.

zeit: Wollen Sie mit Ihrer Art Theater die Menschen besser machen?

Bieito: Sehen Sie, ich liebe Beethovens Streichquartette. Wenn ich sie höre, geht es mir danach besser. Das kann Kunst leisten.

zeit: Sie wollen der Gesellschaft den Spiegel vorhalten, damit sie ihre eigene Widerwärtigkeit erkennt. Sie sind ein Moralist.

Bieito: Ich liebe Montaigne. Ich bin weniger ein Moralist als ein Skeptiker. Manchmal glaube ich nicht mehr an den Menschen. Und dann fühle ich doch wieder, dass der Mensch etwas sehr Gutes ist. Das ist mein Widerspruch. Ich bin kein Nihilist. Nur Schwärze – das wäre schrecklich.

zeit: Aber am Ende Ihres Don Giovanni bleibt keinerlei Hoffnung. Noch nicht einmal die Hölle gibt es. Don Giovanni wird von seinen Weggefährten eiskalt abgestochen.

Bieito: Das stimmt. Aber das liegt im Stück. Die Hölle ist etwas, dass die Menschen selbst machen, ihre eigene Schöpfung. Wir erschaffen die Hölle und den Himmel. Ich glaube nicht an Gott, wenn du stirbst, ist es vorbei. Ich glaube aber an den selbst geschaffenen Himmel. Ich glaube an die Liebe. Ich liebe zum Beispiel meine Frau.

zeit: Aber für Ihre Figuren gibt es fast nie eine Rettung durch Liebe.

Bieito: Trotzdem gibt es eine ganz spezielle Kraft in meinen Inszenierungen, eine starke Lebenskraft. Auch eine sehr keltische Melancholie. Die Familie meines Vaters hat keltische Wurzeln, sie kommt aus Galizien. Da gucken sogar die Kühe sehr melancholisch.

zeit: Wann ist Ihnen der Glaube an das Gute im Menschen abhanden gekommen?

Bieito: Das lernt man bei den Jesuiten. Sie bringen einem bei, nichts und niemandem zu trauen. Ich war drei Jahre alt, als ich in ihre Schule kam. Eine sehr strenge Erziehung, die gut ist, weil man eine Menge lernt, die aber auch schlecht ist, weil sie so rigide war. Es gab eine Menge Unterdrückung. Aber es gab dort auch ein Theater, wir spielten jede Woche. Spanische Stücke, aber auch Shakespeare, Midsummernight’s Dream. Wir machten sogar Vivaldi. Ein Lehrer wollte eine Art Oper aus den Vier Jahreszeiten machen.

zeit: Und Sie waren ein Baum.

Bieito: Ich war der Schnee.

zeit: Und was haben Sie dort noch gelernt?

Bieito: Wie der Mensch ist. Die Jesuiten säten die Anarchie in meinem Kopf. Weil sie mich zum Widerspruch herausforderten. Und das war sehr gut.

zeit: Haben Sie dort auch den Glauben an Gott verloren?

Bieito: Die Jesuiten lehren einen, selbst zu denken. Und wenn man anfängt zu denken, ist es sehr leicht einzusehen, dass man an Gott nicht glauben kann. An einen Mann, der Anhänger hat, die dich zum Glauben bekehren wollen und dann anschließend versuchen, dich zu vergewaltigen. Sexualität war natürlich ein Tabu, aber einige der Priester haben versucht, die Jungen sexuell zu missbrauchen. Bei mir hat es auch einer versucht, ich schrie: Nein, nein, nein, stopp, stopp, stopp!! Ich war ein Kind, vielleicht zehn Jahre alt. Wirklich ein dunkles Kapitel.

zeit: Wurden Sie in der Schule auch geschlagen?

Bieito: Ein bisschen, ja. Einmal schlug der Direktor meinen Kopf auf den Tisch. Das Blut lief und lief, der Direktor bekam richtig Angst. Diese Szene taucht in meinem Don Giovanni wieder auf.

zeit: Die Triebkraft Ihrer Figuren ist die Sexualität. Ihre Droge heißt Testosteron. Aber diese Virilität kommt uns doch immer mehr abhanden. Die Lust ist nur noch eine von den Medien behauptete. Oder ist das in Spanien anders?

Bieito: Nein, nein. Auch in Spanien ist alles nur noch brainfucking. Ich arbeite mit extremen Bildern von Sexualität. Sex als schnell konsumierbare Ware, Sex als grelle expressionistische Geste. Sex gibt es überall, im Fernsehen, in der Reklame für Parfüm oder für Butter, überall. Nur auf der Bühne will man den Sex nicht sehen. Man will die Oper als eine Art Paradies bewahren. Ich will die Leute aber berühren mit der Poesie der Gewalt, mit Sex, mit der historischen und politischen Situation in meinem Land. Das ist es, was die Leute von meinem Theater erwarten. Diese Erwartungshaltung birgt inzwischen auch eine Gefahr: Wenn man sie wie ein Marketinginstrument einsetzt, wird man wieder Teil des Systems, das man eigentlich kritisieren will. Aber ich will kein Produkt sein. Ich will loyal bleiben gegenüber meinen Stücken und meinen Gedanken.

zeit: Aber ist nicht auch das brutale Vorstadtmilieu, in dem Ihre Stücke spielen, ein Kunstprodukt?

Bieito: Das gibt’s in der Wirklichkeit. Die Cantunes von Barcelona. Da ist die Drogenszene, der Straßenstrich.

zeit: Warum fasziniert Sie dieses Milieu so?

Bieito: Ich weiß nicht. Vielleicht weil ich wissen will, wie das Leben wirklich ist. Ein Onkel von mir lebt dort, ein Alkoholiker. Als Kind war ich einmal mit ihm unterwegs, gegen Mittag. Wir gingen in eine Bar, und er trank zwanzig Martini mit Gin.

zeit: Von Deutschland aus betrachtet, ist Spanien ein schönes Ferienland. In Ihren Stücken sieht es aus wie der Vorhof zur Hölle.

Bieito: Spanien ist ein Land mit einer großen Kultur. Sie sagen, es sei der Vorhof zur Hölle, ich sage, es ist der Einfluss des Expressionismus, der bei uns mit Goya beginnt. In meinem Trovatore ist der Einfluss von Goya sehr groß. Man kann es regelrecht riechen. Das Licht ist von Goya, die Gewalt, die Grimassen, das Groteske. Goya heißt nicht, die Leute in historische Kostüme zu stecken und die Bilder zu reproduzieren. Goya ist eine Art Seele, ein Esprit.

zeit: Sieht man die Kräfte, die eine Gesellschaft prägen, in den kaputten Vorstädten deutlicher als in den bürgerlich domestizierten Kreisen?

Bieito: Ja. Aber auch die bürgerliche Gesellschaft steckt voller Gewalt. Wie viele Ehefrauen werden Jahr für Jahr von ihren Männern umgebracht! Das Thema der häuslichen Gewalt bricht immer mehr auf wie eine Eiterblase. Wie viele Eifersuchtsmorde, Vergewaltigungen, Kinderschändungen gibt es Woche für Woche! In meinem Macbeth habe ich das zum Thema gemacht. Die so genannte normale Familie ist voller Abgründe.

zeit: Wenn die Leute in die Oper gehen, wollen sie mit solchen Dingen aber nicht konfrontiert werden. Sie fliehen doch gerade davor.

Bieito: Das ist auch okay. Dafür gibt es die entsprechenden Stücke, Rossini zum Beispiel, da kann man die Wirklichkeit vergessen, sich entspannen und wohlfühlen. Aber Verdi ist etwas anderes. Er war ein Polemiker und unnachgiebiger Gesellschaftskritiker, zum Beispiel in der Traviata, die ich demnächst in Hannover mache. Sich in eine Verdi-Oper zu setzen und nur zu denken: Wie nett ist doch diese Musik – das ist ignorant.

zeit: Gibt es eigentlich etwas, das Sie nicht zeigen würden auf der Bühne?

Bieito: Nein. Der Opernbetrieb ist immer noch sehr konservativ, da gibt es noch einige Grenzen zu überschreiten. Das ist fantastisch. Das bedeutet Freiheit. Die Vorstellungskraft ist doch die einzige Waffe, die wir haben. Sie kennt keine Grenzen. Wir dürfen die Imagination nicht aufhalten, man muss sie leben. Dann kann man fliegen. Ich bin kein Arzt, der im Umgang mit den Menschen Grenzen einhalten muss. Ich inszeniere nur Opern.

zeit: Aber auch da gibt es Grenzen, Traditionen.

Bieito: Aber das ist doch das Leben: Erneuerung und Fortschritt! Als in Barcelona das Theater Liceu abgebrannt ist, haben sie es genauso wieder aufgebaut. Mein Gott! Was soll das?! Wir brauchen etwas Neues! Das möchte ich an meinen Sohn weitergeben: die Mentalität des Fortschritts.

zeit: Fühlen Sie sich verantwortlich für das, was Ihre Inszenierungen auslösen? An der Staatsoper in Hannover haben über 3500 Leute ihr Abonnement gekündigt, nicht zuletzt wegen Ihrer Arbeit.

Bieito: Ich will und darf darüber nicht allzu viel nachdenken. In Hannover hat eine neue Theaterleitung die künstlerische Linie geändert. Da ist es ganz normal, dass sich auch ein Umbruch im Publikum vollzieht. In Spanien erlebe ich die verrücktesten Reaktionen auf meine Stücke: Menschen, die mich aus heiterem Himmel im Restaurant attackieren. Aber es gibt auch viele, die mein Theater lieben. Und ich glaube, sie sind in der Überzahl. Die Liebe ist größer als der Hass.

zeit: Genießen Sie es, wenn es am Ende einer Premiere richtig rundgeht?

Bieito: Nein. Überhaupt nicht. Ich fürchte mich davor, vor den Vorhang zu treten. Aber man muss sich den Reaktionen stellen, sonst sagen die Sänger, dass du eine feige Ratte bist.

zeit: Viele Theaterbesucher glauben, dass Sie selbst so sind wie Ihre Figuren auf der Bühne. Für die sind Sie ein Sadist und Vergewaltiger.

Bieito: Nein, ich bin kein Sadist. Manchmal vielleicht im Kopf, aber ich habe das nie ausprobiert. Neulich hat mich eine Journalistin von El País besucht, die war zuerst ganz enttäuscht, als sie mich traf. Sie erwartete wohl jemanden, der rumschreit, die ganze Zeit Bier trinkt und über die Sessellehne kotzt. Ich bin aber ganz normal, habe eine Frau, ich liebe mein Kind, ich liebe meine Eltern, meine Familie ist enorm wichtig für mich.

zeit: Aber gerade dieses bürgerliche Idyll attackieren Sie immer wieder. Im Trovatore wird Manricos Gitarre in einer Wutattacke in Stücke geschlagen. Ist Ihr Bruder nicht klassischer Gitarrist?

Bieito: Stimmt. Das war eine autobiografische Pointe. Mein Vater und ich haben manchmal Scherze mit meinem Bruder gemacht und gesagt: Es dauert nicht mehr lange, dann hauen wir deine Gitarre gegen die Wand, dein Geklimper geht uns auf die Nerven. Aber die Szene hat natürlich auch etwas mit Spanien zu tun: Die Gitarre ist ein wichtiges Instrument in meinem Land. Eine Gitarre öffentlich zu zerstören – das ist eine extreme Geste.

zeit: Es ist Hassliebe, die Sie mit Ihrem Land, Ihrer Familie verbindet?

Bieito: Das sind die Dinge, die mich geprägt haben. Der Vater meiner Mutter war ein Säufer, er schlug die Kinder. Ich habe noch nie in der Öffentlichkeit darüber gesprochen. Meine Großmutter hat ihn irgendwann verlassen. In den vierziger Jahren in Spanien! Man kann sich vorstellen, was für eine schwere Entscheidung das war. Sie ist zur Polizei gegangen und hat gesagt: Mein Mann schlägt mich und versucht, die Kinder zu missbrauchen. Meine Mutter weiß nicht, dass ich das alles weiß, aber meine Großmutter hat es mir erzählt. Meine Mutter hat jedes Mal in die Hose gemacht, wenn ihr Vater sie rief, so viel Angst hatte sie vor ihm. Ich habe das als ein Bild in meiner Macbeth-Inszenierung aufgegriffen.

zeit: Interessiert sich Ihre Mutter für Ihre Arbeit?

Bieito: Ja, sehr. Sie findet, dass es große Kunst ist, aber sie sagt auch, dass es manchmal zu viel für sie ist. Einmal hat ihr Vater seine drei Kinder entführt, und keiner weiß, was in diesen drei Tagen passiert ist. Wenn man an solche Sachen rührt, blickt man ins Chaos, in einen schwindelerregenden schwarzen Abgrund. Meine Eltern wollten aus dieser Vergangenheit fliehen. Mein Vater hat sehr großen Wert auf Bildung und Kultur gelegt. Er gab wahnsinnig viel Geld für Bücher aus. Er hat unsere musikalische Ausbildung gefördert.

zeit: Lief bei Ihnen zu Hause klassische Musik?

Bieito: Ja. Mein Vater liebt das italienische Repertoire. Und sonntagmorgens gingen wir immer in den Park, wo ein Orchester Zarzuelas spielte. Das war fantastisch. Zarzuelas handeln von guten Menschen, von ihrer guten Seele. Das war mein Schlüsselerlebnis für die Liebe zur Musik. Es ist vollkommen verrückt, wenn mir Leute vorwerfen, ich würde in meinen Regiearbeiten die Oper zerstören. Ich liebe die Oper über alles.

zeit: Man kann sich aber auch gut vorstellen, dass Sie für das Kino arbeiten. Es gibt viele filmische Bezüge in Ihren Inszenierungen.

Bieito: Das stimmt. Ich gehöre zu der Generation, die stark vom Visuellen geprägt ist. Wenn ich inszeniere, muss ich Fotos um mich haben, um meine Fantasie anzuregen. Als Vorbereitung auf Massenets Manon hier in Frankfurt habe ich zum Beispiel ein paarmal Casino von Scorsese angeguckt. Fantastisch, diese Verbindung von Lust und Geld!

zeit: Viele sagen, sie seien der Tarantino der Oper.

Bieito: Das ist Quatsch. Es gibt ja im Grunde nur einen Film von Tarantino – Pulp Fiction. Der war ganz lustig. Aber meine Gewalt geht viel tiefer. Scorsese interessiert mich mehr, der setzt sich wirklich mit dem Thema Gewalt auseinander.

zeit: Und was ist mit Buñuel?

Bieito: Durch ihn habe ich einen völlig neuen Blick auf die Welt entdeckt.

zeit: Die berühmte Szene im Andalusischen Hund: Eine Rasierklinge schneidet durchs Auge. Funktionieren so Ihre Inszenierungen?

Bieito: Ja, genau. Das möchte ich gern machen: einen radikalen Schnitt.

Das Gespräch führten Christof Siemes und Claus Spahn

(c) DIE ZEIT 18.06.2003 Nr.26