Frankfurter Rundschau
23.6.2003

Liebe in Zeiten der Spaßgesellschaft
Letzte Frankfurter Opernpremiere der Saison: Jules Massenets "Manon" mit Calixto Bieito

Von Hans-Klaus Jungheinrich

Von den vielen glücklichen und geglückten Vorhaben der ersten Frankfurter Opernspielzeit Bernd Loebes gehört an deren Ende Jules Massenets Manon zumindest zu den glücklichen Stückfindungen. Die Werke des vor hundert Jahren aktiven französischen Opernmeisters, international reichlich präsent, wurden in Frankfurt in der zweiten Hälfte dieser Zeit links (oder irgendwo) liegen gelassen. Manon dürfte zu Massenets inspiriertesten Partituren gehören, enflammierender noch als der jetzt allenthalben beliebte Werther. Das ergab mithin eine willkommene, überfällige Neu- oder Wiederbegegnung.

Massenets Vertonung des berühmten Prévost'schen Sittenbildes wird auf den Bühnen merklich ausgestochen von Puccinis Oper über dasselbe Sujet. Kommt hinzu, dass Massenet in Handschrift und Temperament (zeitstilistisch ohnedies) viele Gemeinsamkeiten mit dem Italiener hat: etwa Liebe zu Kleinmalerei und erlesenem Sentiment, eine wirkungsvolle Melange von Lyrismus und Schwung, unaufdringlich prägnante (Leit-)Motivik, raffinierte Orchesterfarbigkeit. Reizvoll in Manon ist zumal der ständige Wechsel von genrehaft-kühler "öffentlicher" und empfindsam bis leidenschaftlich "intimer" Musik, was auch durch gleichsam multistilistische Maßnahmen markiert wird - etwa durch in die subtil-spätromantische Textur integrierte altertümelnde Tanztypen bei einigen Gesellschaftsszenen. Ganz ähnlich ja auch Puccinis (psychologisch etwas abgemildertere) Manon Lescaut. Zwei verwandte Sensibilitäten.

Der geschmeidige, bewegliche, reaktionsschnelle, aber auch sehrend im Großbögigen sich ergehende Puccini-Ton ist auch (ergänzt durch Feinnervigkeit und skizzenhafte Milieuzeichnung) die Sphäre Massenets - der Dirigent Paolo Carignani machte es überzeugend deutlich. Seine Darstellung leuchtete kräftig aus (ein Triangel wie eine ganze Eisengießerei), verliebte sich aber auch in die stilleren tonmalerischen und noch im Episodischen "sprechenden" Details. Nicht nur die Sänger, auch das Opernorchester (und der zuverlässige Chor) parlierten gewissermaßen echt französisch. Gefühlvoll, zugleich mit einer Prise Verspieltheit und Nähe zu exquisiter Frivolität. Herzzerreißende Liebesmusik, immer ein wenig im Schatten von ordinärem Can-Can-Trubel.

Für den szenischen Aufriss war Calixto Bieito zuständig, der katalanische Regisseur, der vor zwei Jahren in Salzburg mit Shakespeares Macbeth Aufsehen erregte und auch an Opernhäusern mehrfach die Gemüter erhitzte. Seine Frankfurter Arbeit hatte nichts Skandalöses, kaum auch nur etwas Sensationelles oder auffallend Spektakuläres. Man würde sie gerne als im Ansatz "vorbildlich" bezeichnen, wäre das nicht eine etwas unsinnige Zuschreibung (weil die authentische neue Sicht auf ein Stück sich von allen Leitbildern abstößt). Bieitos plausibler Ansatz war der dramatische Exkurs über Liebe im Zeitalter der Spaßgesellschaft. Daraus ergab sich die im Prinzip schlüssige Transformierung der Ancien-Régime-Story in die Jetztzeit.

Größter Trumpf dieser szenischen Interpretation war das großzügige und prächtige Bühnenbild von Alfons Flores, eine einheitlich-transparente Drehkulisse mit einer splendiden Säulenarchitektur, verfinsterten Zonen mit glimmenden Slot-Machines und, am Schluss, einer mächtigen Gangway-Treppe. Ein Raum ebenso für die transitorischen Reise-Örtlichkeiten wie die diversen Festsaaltopoi, die hier als opulente Party-Installationen fungierten. Pausenlose Bildwechsel waren unschwer garantiert.

Drastisch unumwegig führte der Anfang in die sexgeschwängerte Halbwelt der Oper hinein: spitze Schreie und zuckende Glieder einer Gruppenorgie unter der Bettdecke. Der schönste Einfall dann beim Auftritt des jungen Des Grieux. Indem er Manons ansichtig wird, gleitet ihm das Handy vom Ohr und fällt rappelnd in eine nebenbei stehende Kiste: Stärker lässt sich der jäh auftreffende Amorpfeil einer "Liebe auf den ersten Blick" heutzutage wohl nicht illustrieren. Schon nicht mehr ganz so ingeniös, aber dennoch sehr nahe liegend, wenn Des Grieux sich bei seiner großen Arie (hier 3. Bild) mit entblößtem Oberkörper selbst geißelt. Im Anschluss daran hat die im glitzernd engen Silberhosenanzug hereinkommende Manon nicht mehr viel Mühe, ihm an die Wäsche zu gehen.

Manon wurde zu Recht eine Figur der Weltliteratur: eine "moderne" Frau, psychisch zerrissen zwischen tiefer Empfindung und einer gleichermaßen abgründigen Geld-, Putz- und Ruhmsucht. Sie will "alles" haben: die große Liebe und den glamourösen Reichtum. Eine Disposition, die auch den Seelen der Spaßgesellschaft nicht unbekannt sein dürfte. Daraus resultieren fast zwangsläufig Persönlichkeitsspaltung und Selbstzerstörung.

In der erheblich gekürzten Frankfurter Opernfassung erfuhr die "Logik" dieser Entwicklung eine Reihe von Brüchen, die der inneren Dynamik nicht viel schadeten, nach dem allzu fragmentarischen, unvermittelten Schluss hin aber doch auch unbefriedigt ließen. Da erwies sich auch Bietos Personenführung als unfertig, teilweise unplastisch und substanzarm. Richtig dagegen, dass Bieito die ruhigen Szenen nicht durch eine Übermacht heftiger Massenarrangements erstickte.

In gewisser Weise ein ruhender Pol wurde die anmutige und diskrete Titelgestalt von Juanita Lascarro, mehr auf das "goldene Herz" (nicht nur beim provinzmädchenhaften ersten Erscheinen) als auf die skrupellose Glitzerkurtisane hin akzentuiert. Stimmlich wirkte diese Manon ebenso souverän wie schattierungsreich. Ihr ebenbürtiger Tenorpartner - der Chevalier Des Grieux von William Joyner, anzuschauen wie ein Märchenprinz, wohltönend mit einer atemberaubend-schmiegsamen Legato-Tessitura. In der Aktion (Handgreiflichkeiten über mehrere Spieltische hinweg) konnte er auch den Hitzkopf herausstellen. Markant, mit brutalen Zügen, der Lescaut-Bariton von Earle Patriarco. Als Vater Des Grieux chargierte angemessen Magnus Baldvinsson (Puccini war nicht unklug, diesen Germont-Père-Wiedergänger aus La Traviata zu eliminieren). Lebhaft bis konventionell schraffiert die Nebenfiguren.

Alles in allem eine präsentable, wenn auch vom Szenischen her nicht eben aufregende Aufführung, die auch Bieito das ungewohnte Erlebnis ungeteilter Publikumszustimmung verschaffte. Verstände er sich als ein notorischer Provokateur, sein Schrecken darob hätte schrecklich sein müssen.

Oper Frankfurt: 23., 25., 28. Juni; 2., 4., 6. Juli.

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Dokument erstellt am 22.06.2003 um 16:40:04 Uhr
Erscheinungsdatum 23.06.2003

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Die Welt
23. Juni 2003

Liebesluder in der Spielhölle
Unspektakuläres Stolpern: In der Frankfurter Oper geht Calixto Bieito manierlich um mit "Manon"

von Manuel Brug

Hat er jetzt auch die französische Parfümerie samt "Manon", ihrem süßesten, zärtlichen Duft in die Luft gesprengt? Riecht es nach Jauche, Sperma, Schweiß, Blut statt nach Rosenessenz, Violet und Jasmin? Mitnichten. Jules Massenets frivol puderiges, dabei so kraftvoll melodisches Meisterwerk von 1884 über ein gefallenes Material Girl glänzt - wenn es darf - in der Frankfurter Oper so traumschön wie immer. Mit nur drei Inszenierungen, mit so finsteren Stücken wie Shakespeares "Macbeth" in Salzburg und München, Mozarts "Don Giovanni" und Verdis "Il Trovatore" in Hannover hat es der Katalane Calixto Bieito geschafft, in das dunkle Herz der Empörungs-Finsternis von Deutschlands durch beständiges Entblößungs-TV noch nicht abgestumpftem Rest-Bürgertum vorzustoßen. Für ihren Ritterschlag als Agent Provocateur brauchten Christoph Schlingensief und Peter Konwitschny einige Jahre länger. Bieito stößt meist genau zur Essenz seiner Vorlagen vor, skelettiert ihre nicht unbedingt angenehmen Inhalte und stellt sie theatralisch auf die Bühne: "Ich kann nichts dafür, es sind die Stücke, die von solchen Sachen handeln. Ich zeige sie nur."

Nun also etwas Leichteres: ein Frauenschicksal. Doch seltsam, seine "Manon", von Alfons Flores (Bühne) und Mercé Paloma (Kostüme) statt auf Ancien Régime oder Belle Epoque etwas allzu sehr auf Martin Scorseses Spielersittenbild im amerikanisch glitzernden "Casino" hingetrimmt, scheint diesmal unlustig, ja unspektakulär vor sich hinzustolpern.

Der Legèresse mit Italianitá verwechselnde Paolo Carignani am Pult hat die Ouvertüre und vieles mehr brutal gestrichen. Gleich zu Anfang kommt der Bieitosche Musterkatalog im Schnelldurchlauf: Ein Eröffnungsorgasmus beim flotten Sechser unter der Leopardentagesdecke in der Zockersuite, sich ausführlich übergebende und den Pimmel präsentierende Herren. Und zwischen schwer werkelnden Lust- und Lasterarbeitern das brave Schulmädchen Manon, umwuselt von Touristen-Horden auf Casino-Royale-Tour. An den eben nicht nur in Frankfurt szenetypischen Päckchen, an Sex, Geld und Crime findet sie schnell Gefallen. Dummerweise verliebt sie sich aber in den falschen: den Hotelhandwerker Des Grieux.

Hans Werner Henze hat in ähnlicher Manier aus der Abbé-Prévost-Vorlage seine eigene "Boulevard Solitude" verfertigt. Calixto Bieito lässt das Massenet-Personal in einem bruchlos übereinander geblendeten Reigen von Tableaus kuppeln und kopulieren, während die Drehbühne wie ein Roulettekessel kreiselt. Vor einer blinkenden Prozessionsstraße von Slot Maschines verabschiedet sich Manon, den Männern längst Sphinx und Chimäre, vom "petite table", damit auch von ihrer Unschuld und dem unbequem gewordenen Des Grieux. Und lässt sich den Goldenen Schuss setzen: Liebes Luder Leaving Las Vegas!

Juanita Lascarro im Zebramantel sowie der langmähnige William Joyner spielen das aufopfernd; ihr Singen ist gut, aber nicht außerordentlich. Tadellos die vielen Nebenrollen, der eifrig glücksspielende Chor. Doch die Spannung fehlt diesem zeitweise lauen Opernabend. Was er hätte werden können, offenbart die Kirchenszene, Massenets stärkster Moment: Mitten im Casino zieht der im Glauben Heil Suchende Des Grieux die Soutane aus und flagelliert sich vor einem rosa Neonkreuz. Das Bild wird natürlich in der reuigen Sünderin Manon Wirklichkeit. Was als Absolution des Fleisches beginnt, endet als lägen da Christus und Maria Magdalena wie im Wälsungenblut. Kitsch, Kult und Kunst, hier ist Bieito ganz bei sich.

Termine: heute, 25., 28. 6., 2., 4., 6. 7.; Karten: (069) 13 40 400

 

Frankfurter Neue Presse
23.6.2003

Die Liebe endet in der Spiel-Hölle
"Skandal-Regisseur" Calixto Bieito hat zum Ende der Saison an der Frankfurter Oper die "Manon" von Jules Massenet weniger provokant als erwartet auf die Bühne gebracht.

Von Michael Dellith

Der Ruf eines "Opern-Zerstörers" eilte Bieito voraus. In Hannover sollen mehrere tausend Musikfreunde ihr Abonnement gekündigt haben, weil der Katalane Verdis "Troubadour" mit der Darstellung von Massenvergewaltigungen auf der Bühne angereichert hatte. In Frankfurt kam es nicht ganz so schlimm. Noch bevor der Vorhang ganz gelüftet war, drang zwar Lustgeschrei von der Bühne. Zwei Herren vergnügten sich mit drei Damen zu Kaviar und Hummer unter der Bettdecke, wenig später ließ ein "Dream Man" für ein paar Dollar die Hosen runter und zeigte ausgiebig sein bestes Stück. Champagnerflaschen wurden als Phallus-Ersatz missbraucht, auch wimmelte es vor leicht geschürzten Mädchen auf Rollschuhen, die triebhaften Männern beim Manipulieren behilflich waren. Einer, der zu tief ins Glas geschaut hatte, übergab sich auf offener Bühne, und in der Klosterszene wurden statt Hostien Jetons für den Spielsalon verteilt. Doch das ständige Andeuten kopulierender Paare zum Rhythmus der Musik wirkte auf Dauer eher ermüdend und in Anbetracht der täglichen Präsenz an "erotischen" Bildern via Werbung und Fernsehen kaum noch provokant, eher belanglos.

Aber womöglich wollte Bieito gar nicht den Provokateur spielen. Er hat nur das fortgeführt, was schon Massenet und seine beiden Librettisten Henri Meilhac und Philippe Emile François Gille Ende des 19. Jahrhunderts mit dem "Manon"-Stoff des Abbé Prévost von 1731 taten: ihn in die Gegenwart versetzt. Was bei Massenet die Huren und Kokotten der Belle Epoque waren, sind bei Bieito die Prostituierten des 21. Jahrhunderts, mit dem Unterschied, dass es heutzutage weniger auf die Kunst des Verführens anzukommen scheint, als vielmehr auf rasche Erledigung: Man geht direkt und ohne Umschweife zur Sache, dann ist der Kick vorbei.

Schon Massenet wollte seinen amüsiergierigen Zeitgenossen einen Spiegel vorhalten – Bieito tut es ebenso. Mit Hilfe des grandiosen Bühnenbilds von Alfons Flores und der glitzernden Kostümwelt Mercé Palomas rechnet er mit der Konsum- und Spaßgesellschaft von heute ab. Die tummelt sich in einem luxuriösen Vergnügungstempel auf der Drehbühne, Spielkasino, Nobelherberge, mondäne Restaurant-Bar und schicke Einkaufspassage ein einem. Dabei musste Bieito gar nicht bis Las Vegas blicken. Bankenviertel und Rotlichtbezirk sind in Frankfurt ja nicht weit vom Opernhaus entfernt. Die Botschaft der rotierenden Kulisse ist eindeutig: Alles dreht sich um den Mammon, jeder ist käuflich, und Liebe nur ein Geschäft. "Danach" geht man wieder zum Geldautomaten, um Bares für den nächsten Bordellbesuch abzuheben. Die Monitore über der Bühne offenbaren schonungslos, dass jeder in dieser (Spiel-)Hölle Akteur und Voyeur zugleich ist.

In dieser Bilderflut drohte die tragische Liebe zwischen dem flatterhaften Mädchen Manon (zunächst im Internatsdress mit Zöpfen und Schottenrock, später im aufreizenden "Femme-fatale"-Outfit, am Ende in "normalen" Jeans) und dem Chevalier Des Grieux, beinahe unterzugehen. Doch wenn die beiden Protagonisten – glänzend besetzt mit dem neuen Ensemblemitglied Juanita Lascarro, die der Titel-Partie viele Ausdrucksfacetten entlockte, und dem Amerikaner William Joyner, der seinen lyrischen Tenor subtil zu entfalten verstand – alleine oder im Duett auf der Bühne standen, erhielt die Aufführung jene Intensität, die Massenets Musik benötigt, ohne ins Sentimentale abzugleiten. Magnus Baldvinsson als Autorität einflößender Graf Des Grieux, Earle Patriarco, Hans-Jürgen Lazar und Simon Bailey als "Geschäftsmänner" und die "Drei Damen" Barbara Zechmeister, Atala Schöck und Birgit Schmickler bildeten zusammen mit dem exquisiten Chor ein spielfreudiges Ensemble, das von Paolo Carignani am Pult des Opernorchesters mit feinem Gespür für die Nuancen und Zwischentöne der Partitur geführt wurde.

Die wenigen Buhs für das Regie-Team gingen am Ende im allgemeinen Premieren-Jubel unter.

 

Offenbach Post
23. Juni 2003

Anhaltender Bockssprung auf der Frankfurter Opernbühne
Jules Massenets "Manon" vom Spanier Calixto Bieito gnadenlos aktualisiert

Von KLAUS ACKERMANN


Hält die Freier noch in Schach: Juanita Lascarro als Manon

Sex, Drugs, aber kein Rock’n’ Roll: In Massenets "Manon", letzte Saison-Premiere an der Oper Frankfurt, ging es am Samstagabend im Lotterbett gleich voll zur Sache. Bei seiner gnadenlosen Aktualisierung der Opéra comique um Aufstieg und Fall eines Salonhäschens setzte Regisseur Calixto Bieito auf anhaltenden Bockssprung, Spielleidenschaft, Sektduschen und grelle Partystimmung bis hart an der Ekelgrenze. Erschreckend war da lediglich die Wut, mit der dieser prinzipiell anstößige Spanier sein herbes Sittenbild szenisch belebte und dabei kein Klischee, keine fliegende Torte ausließ.

Den melodieseligen Kontrapunkt hierzu setzte die Musik des französischen Opernmeisters, dessen romantische Oasen fiebriger Glückseligkeit Paolo Carignani und das hellwache, dezent klangliches Parfüm versprühende Frankfurter Museumsorchester ebenso ausbreitete, wie der dauerhafte Feiergalopp seine druckvoll angespitzte schrille Note bekam. Selbst das Magnificat zur Prozession schien feinfühlig eingebettet, ohne den angelegentlich aufblitzenden "Alten Stil" zu denunzieren. Ein Abend also in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln zwischen Schöngesang und ritualisierter Enthemmung, der Erlebniswert zumindest jenen bietet, denen das permanente Gerammel jedweder Ausprägung einer bewusst aufgezäumten erotischen Groteske nicht auf die Nerven geht.

Der Beifall kam zur Premiere erst allmählich in Schwung und galt uneingeschränkt den Solisten, Orchester und einem Chor (Einstudierung: Andrés Máspero) , der sich nicht nur gesanglich sehr beweglich zeigte. Auf Dauer unterlag er einer mehr oder weniger lustvollen Feier-Choreografie: Selten wurde in der Oper Frankfurt so viel gejuchzt.

Las Vegas lässt grüßen in dieser kommerzialisierten Vergnügungswelt mit ihren langgestreckten Bars und spiegelnden Säulen, in der nur das Geld zählt und Sex Warenhauscharakter hat (Ausstattung: Alfons Flores). Zwei Fernseher vermitteln das Party-Geschehen auf der Seitenbühne, wenn zentral zunächst reine Liebe verhandelt wird. Doch - oh Tücke: Die Bilder sind so klein und weit entfernt, dass Voyeure kaum auf ihre Kosten kommen.

Hier vollzieht sich das Schicksal der Manon, eine flatterhafte Kindfrau im Klosterschulen-Anzug, die mit dem sie liebenden Chevalier des Grieux nach Paris flieht - freilich bald unzufrieden mit dem Bohème-Dasein und angezogen von der lasterhaften Spiel- und Drogenhölle. Verführt von Gold, Glamour und den drei Vergnügungsoffizieren Guillot (Hans-Jürgen Lazar muss den Oberrammler mimen und kann dieser Widerling-Rolle auch mit patenter Tenor-Stimme nicht gegensteuern), ihrem abgefeimt fürsorglichen Vetter Lescaut (Earle Patriarco hält sein baritonales Vermögen nicht unter Verschluss) und dem agilen Geschäftsmann Brétigny - Simon Bailey lockt mit Geld und aalglattem Bariton. Sie werden in dieser geschlossenen, von Security bewachten Feiergesellschaft durch drei allzeit bereite Schöne der Nacht verstärkt: Barbara Zechmeisters Pousette kommt auf Rollschuhen daher. Stimmlich dominant: der Mezzosopran von Atala Schöck (Javotte). Kumpelhaft, aber durchtrieben: Birgit Schmückler (Rosette). Die drei harmonieren stimmlich ebenso wie beim Tabledance oder wenn es gilt, einen schönen jungen Mann mit in die Hose gesteckten Scheinen zu überreden, sich völlig zu entblößen.

Auch so ein entlarvender Tick von Bieitos Spaßgesellschaft, in der Manon (Juanita Lascarro) die Königin spielt, aber trotz Tigerfell-artigem Designerfummel (Kostüme: Mercé Paloma) und bei an strahlender Höhe etwas armen Sopran eher das Partygirl gibt. Spannender schon die lyrischen Momente, wenn sie ihren Traum vom Paradies der reinen Liebe zum Chevalier besingt, wie ein Selbsterhalt in der Lasterhöhle Las Vegas. Sympathisch auch William Joyner nicht nur der Rolle des abgerissenen Chevaliers wegen. Sein gut durchmischter, in der Höhe manchmal etwas fahler Tenor hat Überzeugungskraft - bis hin zur verzweifelten Selbstgeißelung des zuvor in einer Prozession nahezu erotisch auf die Luxusweibchen wirkenden frommen Abbés, den Manon zum Spiel überredet, bei dem der Widersacher Guillot seine Niederlage nicht verwinden kann.

Hier hat Bieitos Regie Stunt-Qualitäten. Doch Des Grieux wird vom Vater (souverän bei kompaktem Bass: Magnus Baldvinsson) aus dem Verkehr gezogen, das Casino geräumt - und Manon soll in die Verbannung. Sie stirbt nach einer Überdosis in den Armen ihres Chevaliers - und beide wirken hier mit ihrer Sehnsucht nach einer besseren Welt von der Regie ein wenig allein gelassen. Denn Sex, Geldgier und Kokainsucht stehen am Pranger. Und zwar bei orgiastischem Durchzug - ihre bestechende Aktualität ist kaum zu verleugnen. Individuelle Gefühle sind da zweitrangig, wie sie Massenets Musik so griffig ausmalt. Hoffentlich wird in Frankfurt aus Bieitos gründlich verhandeltem Lebensekel kein Opernverdruss...

Weitere Vorstellungen heute sowie am 25. und 28. Juni sowie am 2., 4. und 6. Juli jeweils 19.30 Uhr.

 

Darmstädter Echo
26.06.2003

„Manon“ von Jules Massenet
Oper Frankfurt: Calixto Bieito inszeniert Lust, Geld und Liebe

Von Klaus Trapp

FRANKFURT. Mit einer Sexszene im Hotelzimmer beginnt die Frankfurter Neuinszenierung der Oper „Manon“ von Jules Massenet. Der spanische Regisseur Calixto Bieito, der seit seiner umstrittenen Deutung des „Troubadour“ in Hannover als Bürgerschreck des Theaters gilt, verlegt die Handlung um die leichtlebige Manon in die Moderne. Das Libretto scheint ihm Recht zu geben:

Die Verführbarkeit des Menschen, seine Sucht nach Lust und Geld, die Verwechslung von Liebe und Sex sind Themen, die heute genauso aktuell sind wie vor 300 Jahren, als Abbé Prévost die Geschichte um Manon Lescaut und den Chevalier Des Grieux erfand. Das Premierenpublikum folgte dem Regisseur am Samstag gebannt auf seinem unkonventionellen Weg.

Das aufwendige Bühnenbild von Alfons Flores präsentiert auf der Drehbühne einen weiten runden, durch mächtige Spiegelsäulen gegliederten Raum, der Hotelhalle, Bar, Spielsalon und Luxusetablissement nebeneinander beherbergt.

Zwei Monitore über der Bühne zeigen das Geschehen aus einer zweiten Perspektive – eine Anleihe bei der Filmtechnik, die hier des öfteren von Musik und Wort ablenkt. Die Kostüme von Mercé Paloma charakterisieren und karikieren in ihrer fantastischen Buntheit eine Gesellschaft, die nach Sensationen giert und sich dem Genuss des Tages hingibt.

Der Regisseur kontrastiert geschickt die großen, bewegten Chorszenen, in denen Sexbesessenheit wie Spielleidenschaft vorherrschen, mit den intimen Begegnungen der Hauptakteure, die in ihrer Abhängigkeit von Liebe und Lust porträtiert werden.

Die Personenführung ist präzise auf die musikalische Interpretation durch Paolo Carignani zugeschnitten, der mit dem Frankfurter Museumsorchester den Chorauftritten dramatische Schlagkraft und den lyrischen Szenen Expressivität verleiht. Massenets spätromantische Musik, schillernd zwischen eingängiger Melodik, aparter Harmonik und delikaten Instrumentalfarben, fasziniert auch in der modernen Umgebung.

Als Höhepunkt wirkt das Ende des dritten Aktes, wenn ein riesiges leuchtendes Kreuz sich herabsenkt und den profanen Raum in kirchliche Atmosphäre taucht: Des Grieux, zum Abbé geweiht, geißelt sich während seiner Entsagungs-Arie, doch kurz darauf verfällt er erneut den Reizen Manons. Bewegend auch das Ende, wenn der verzweifelte Chevalier der inzwischen drogensüchtigen Geliebten ahnungslos den letzten Schuss setzt.

Die aus Bogotá stammende Sopranistin Juanita Lascarro zeichnet den Weg der Manon vom schüchternen Mädchen über die begehrte Kokotte bis zur verachteten Dirne glaubhaft nach, brillant in den Koloraturen, ausdrucksvoll in den Kantilenen.

William Joyner als Des Grieux beeindruckt durch intensives Spiel und die Spannweite der sängerischen Gestaltung vom heldentenoralen Timbre bis zum lyrischen Schmelz. Überzeugend auch der von Andrés Máspero einstudierte Chor. Einhelliger, starker Schlussbeifall nach zweieinhalb Stunden für Leitungsteam und Ensemble.

 

WIESBADENER KURIER
23.06.2003


Inspiriert vom Rotlicht: Juanita Lascarro als Manon und William Joyner als Chevalier Des Grieux.
Photo Landsberg

Geld ist das beste Gleitmittel
Nicht mal ein Skandälchen: Calixto Bieito inszenierte Massenets "Manon" in Frankfurt

Von Volker Milch

Sowie der Vorhang sich hebt, bestätigen sich die schönsten Befürchtungen, gerade genährt von einem Interview in der "Zeit" und Erfahrungen aus Hannover, wo dem Regisseur angeblich erheblicher Abonnentenschwund zu verdanken ist: Unter, auf und neben der Bettdecke wird so fröhlich kopuliert und onaniert, dass Skandal-Autor Michelle Houellebecq seine feuchte Freude daran hätte. Oper aus dem Geist der "Elementarteilchen"?

Aber nein. Der Spanier Calixto Bieito möchte vielleicht der morbiden Gesellschaft einen Spiegel vorhalten und wirft sich in die Pose des Radikalkünstlers. Aber die ästhetisch-politische Sprengkraft seiner Frankfurter Inszenierung von Jules Massenets Oper "Manon" entspricht doch eher der eines Tischfeuerwerks zur Karnevalszeit. Gut ist etwas anderes.

Im Thema von Massenets "Manon", Abbé Prévosts vielfach bearbeiteter Erzählung von der fatalen Kindfrau, findet Bieito seinen erotischen Stoff, in dem der Frankfurter Oper so nahen Rotlichtviertel die entsprechende Inspiration: Manon, die in Puccinis Version in den Wilden Westen verbannt und in Henzes "Boulevard Solitude" in die existenzialistische Einsamkeit entlassen wird, endet bei Bieito auf der Straße - an einer Überdosis Heroin sterbend. Mit der "Poesie der Gewalt", hatte Bieito verraten, möchte er sein Publikum berühren. Seine grelle Ästhetik, getragen von Bühnenbildner Alfons Flores und Mercé Paloma (Kostüme), erinnert dabei ein wenig an Szenarien von Pedro Almodovar - allerdings ohne dessen auch noch im Grotesken berührende Menschlichkeit. Manches kommt einem spanisch an dieser Haltung vor - und womöglich muss man Spanier, katholisch und als Kind von Jesuiten gequält worden sein, um Bieitos Anstrengungen angemessen würdigen zu können. Wenn man das nicht ist und einmal über die lediglich nervenden Genital- und Fäkalspäße hinwegsieht, bleibt eine partiell diskutable, in einigen Szenen auch intensive, freilich keineswegs neue Maßstäbe setzende "Manon"-Inszenierung.

Das taten in Frankfurt dann schon eher das Museumsorchester unter GMD Paolo Carignanis Leitung: Mit einem duftigen, eleganten, im Lyrischen intensiven Massenet, der in Juanita Lascarros strahlender Manon zur stimmlich-sinnlichen Erfüllung fand. Auch wenn bei ihm die tenoralen Grenzen gelegentlich hörbar wurden, war Des Grieux mit William Joyner hervorragend besetzt. Aus dem übrigen Ensemble ragte Earle Patriarco als kraftvoller Vetter Lescaut heraus: Ein schmieriger Macho, der seine Cousine gut verkaufen möchte.

Überhaupt werden für die Kommerzialisierung der Körper, in der Geld das omnipräsente Gleitmittel für austauschbare Intimkontakte aller Spielarten ist, durchaus plausible, manchmal nur arg plakative Bilder gefunden. Von Las Vegas ist die aufwändige Vergnügungs-Architektur inspiriert: Eine mächtige Bar wird auf der Drehbühne hereingefahren. Einarmige Banditen warten auf ihre Opfer, und der Spielbetrieb ist auf großen Bildschirmen über der Bühne präsent - der visuelle Overkill der Vergnügungsindustrie wird Bestandteil der Inszenierung, die in der intimen Liebesbegegnung des 3. Aktes zur Ruhe kommt. Es gibt also, wenigstens für Momente, doch wahre Gefühle im falschen Leben.

Die Klostermauern, hinter denen sich Des Grieux die Peitsche des Büßers gibt, erstrahlen in schummrigem Rotlicht. Der Sakralraum ist nach den masochistischen Übungen des Novizen erotisch aufgeladen und wird im Duett von Manon und Des Grieux zum Ort vokaler Erfüllung. Das Publikum applaudiert denn auch sehr herzlich und hat sich von ein bisschen Koitus nicht nachhaltig aus der Ruhe bringen lassen.

 

DIE RHEINPFALZ
Montag, 23. Juni, 03:45 Uhr

Der Tenor als Retter
Bieito inszeniert Massenets "Manon" in Frankfurt

Kaum auszudenken: Hätte die Protagonistin von Massenets "Manon", die gerade dabei war, sich die Pulsader zu öffnen, ihren Selbstmordplan tatsächlich ausgeführt, so wäre die Oper diesmal mitten im ersten Akt schon zu Ende gewesen. Dazu sollte es dann aber doch nicht kommen. Der Regisseur, der das Stück an Frankfurts Opernhaus in Szene setzte, der Spanier Calixto Bieito, hatte schließlich Einsicht, ließ (im letzten Moment) den Chevalier Des Grieux (text- und partiturtreu) auftreten und erbarmte sich so der unglücklichen Manon und der Opernbesucher, die auf diese Weise doch noch in den vollen Genuss der fünf Akte kamen. Der Tenor also als Retter in höchster Not.

Von Gabor Halasz

Freilich entrann die sich ewig und ausschließlich nach Reichtum und Vergnügung sehnende Manon - die einem Leben im Kloster, wie von ihren Eltern geplant, den Freitod vorgezogen hätte - nur vorübergehend ihrem Schicksal. Im fünften Akt erlag sie - wahrscheinlich freiwillig - einer Überdosis Rauschgift, immerhin in den Armen des ihr verfallenen, verzweifelt liebenden Des Grieux.

Bieito hat eine "Manon 2003" inszeniert, seine Vorlagen, die Erzählung des Abbe Prevost aus dem 18. und Massenets Oper aus dem späten 19. Jahrhundert, in unsere Gegenwart verlagert und will der ausgebrannten, gelangweilten modernen Spaßgesellschaft ein Spiegelbild vorhalten. Das Thema seiner Regie bilden daher Geldgier und zügellose, pathologische Vergnügungssucht. Alfons Flores' Einheitsbühnenbild stellt ein modernes Einkaufs- und Vergnügungszentrum dar, eine Rauschgift- und Spielhölle mit Anspielungen auf Las Vegas, halb Nachtlokal, halb Bordell. In dieser zwielichtigen Umgebung werden dann hetero- und homoerotische Sexorgien (einschließlich Selbstbefriedigung und männlichem Striptease) gefeiert, finden wüste Sauf- und Rauforgien statt. Sex und Gewalt über alles - freilich bei Anbetung des heiligen Mammon.

Hat nun Bieito nach seinem heftig umstrittenen "Troubadour" in Hannover einen Anschlag auf Massenet verübt? Die Frage lässt sich verneinen. Die Irritation hielt sich in Grenzen, und an Bilder dieser Art ist das Opernpublikum ohnehin seit etwa 30 Jahren gewöhnt. Dafür hatte die Kartenszene im vierten Akt berstende theatralische Spannung, wurde die abgrundtiefe Trauer der Schlussszene mit Manons Tod selten so bewegend auf der Bühne umgesetzt wie diesmal in Frankfurt. Auch entbehrte Flores Szenerie keineswegs des optischen Reizes - und dass Bieito ein Regievirtuose von hohen Graden ist, daran führt kein Weg vorbei.

Am Dirigierpult wartete Paolo Carignani mit einer gepflegten, farbigen, betont schattierungsreichen Wiedergabe von Massenets Partitur auf. Sie überzeugte durch Feinschliff, Eleganz und immer wieder durch dramatische Akzente. Die Titelrolle sang Juanita Lascarro kultiviert und einfühlsam, mit allerdings klein dimensioniertem Sopran. William Joyner war ein exzellenter Des Grieux, bis ihn dann genau von der Mitte seiner Arie im dritten Akt an - während der er sich übrigens in Flagellantentum zu üben hatte - eine offenkundige Ermüdung immer wieder zu forcieren und stemmen zwang.

Zum Schluss vor allem viel Beifall, in die sich auch Protest mischte.

Weitere Aufführungen heute, am 25. und 28. Juni und am 2., 4. und 6. Juli. Kartentelefon: 069/1340400.

 

Stuttgarter Zeitung
25.06.2003 | 05:03 Uhr

Bammel in der Hose
Calixto Bieito inszeniert Massenets "Manon" in Frankfurt

Von Götz Thieme

Wer Oper für eine selige Melodien-Anstalt und Puderquastenschaukiste hält, wird in den letzten Jahren mit dem katalanischen Regisseur Calixto Bieito seine unliebe Not gehabt haben. Wer seinen "Maskenball" 2002 in London besuchte, sah beim Hochgehen des Vorhangs 14 Parlamentarier auf der Herrentoilette zeitungslesend ihren Geschäften nachgehen. Einige englische Krawallblätter schnitzten daraus und aus anderen schockierenden Zutaten - Koks, Oralsex, Schwulenklappe - knackige Schlagzeilen: "Eurotrash!"

Die den Inselbewohnern royalistisch verwandten Hannoveraner verloren kurz darauf die Lust an ihrer Oper nicht minder, als Bieito den Don Giovanni auf Autohauben spanische Jungfern rammeln ließ, dass es qualmte, und als er in diesem Jahr einen "Troubadour" mit quälenden Folter- und Vergewaltigungsexzessen inszenierte. In heiterer Skandalvorfreude strömte man daher jetzt in die Oper Frankfurt, um Bieitos jüngstem Akt beizuwohnen: Jules Massenets Opéra comique "Manon" hieß das unwillige, 120 Jahre alte Opfer.

Tatsächlich lässt sich der Stoff, Abbé Prévosts Roman mit seiner kindlichen Hauptfigur, einer französischen Lulu, als Adoleszenzdrama verstehen. Und die Komponisten Auber, Massenet, Puccini und Henze haben das Sittenbild jeweils nicht wenig als Oper aus dem Geist ihrer Gegenwart geformt. Es steckt in dieser Geschichte mehr als nur der rokokohafte Fall einer koketten 15-Jährigen, die wählen muss zwischen bürgerlich züchtiger Zweisamkeit und einem Leben im Rausch, in Roben und Juwelen, das sie zur Kokotte - oder wie bei Bieito zur Stricherin - degradiert. Und den tragisch falschen Weg geht.

Dass Bieito sich an dem hedonistischen Treiben einer Spaßgesellschaft entzünden würde, war klar. Und wenn in Frankfurt bei noch schweigender Musik der eiserne Vorhang aufschwebt, wird in einem Satinbett unter der Decke stöhnend und quietschend das vollzogen, was dem Regisseur lieb, aber kaum teuer ist. Die einsetzende Musik besänftigt die Triebe fürderhin kaum. Die mafiotische Jungstruppe um Manons Cousin Lescaut (bullig veristisch: Earle Patriarco) schabernackt unersättlich: die Flasche Schampus in der einen Hand, ein berollschuhtes Mädchen im anderen Arm. Während der halbnackte Monsieur Brétegny (Simon Bailey zähnebleckend, kräftig baritonierend), dem ein Hummer vorm Gemächt hängt, vorbeitänzelt, rubbelt Hans-Jürgen Lazar als dauerunerigierter Guillot-Morfontaine sich einen in seiner Boxerbüx oder bespringt wie ein wilder Dackel a tergo, was sich ihm in den Weg stellt - ejaculatio praecox ausgeschlossen. In dieses mäßig entfesselte Milieu kommt Manon, sie trägt Faltenrock, Kniestrümpfe, und greift sich an die geflochtenen Zöpfe - nicht lange, und man greift ihr wo hin.

Zu viel, Manon schlitzelt an ihren Pulsadern herum, als ein höherer Dienstbote in diesem Kasinohotel mit Reihen von einarmigen Banditen und leuchtenden Bartresen zufällig des Wegs kommt. Des Grieux sieht"s - und liebt. Am Ort der schnellen Träume, träumen die beiden vom Glück ohne Jetons und hauen ab. Das geht nicht lange gut, denn irgendwann sieht Manon aus wie Jennifer Lopez in Jeans, und es reicht nur für den Chinamann und für Cola aus der Dose.

Diese Manon neigt zu Glitzerrobe und Champagner, was dem Vater Des Grieux (bassblass: Magnus Baldvinsson), ein Ehrpusseliger im Silberknopfblazer, Recht ist, denn lieber sieht er den Sohn als Mönch im Orden zur heiligen Selbstkasteiung. Hin und her geht das, so richtig können die beiden Hübschen nicht voneinander lassen: Manon legt den Liebsten vorm pink glimmernden Neonkreuz flach, Des Grieux verjubelt das Geld des Papas beim Spiel, Manon wird entführt und stirbt am Ende mit der Heroinnadel im Arm - die Flucht in die Droge hatte schon Henze in seiner Manon-Oper komponiert.

Das mit der Lustigkeit, dem Besoffensein und den Wallungen des Geschlechts auf der Bühne mag einigen zu prickelig oder zu schamlos scheinen, es bleibt doch vor allem eine Sache der handwerklich sauberen Regiearbeit. Aber Bieitos ehrbare Absicht, ungemütliche Erscheinungen unserer Gesellschaft zu zeigen, schwächelt durch Schlampigkeit und gleicht unterm Strich dem, was der Gogo-Stripper im dritten Partyakt zeigt, wenn er die letzte Hülle, ein Glitzerhöschen in US-Farben, fallen lässt - einem rasierten Geschlecht. Alles ziemlich geheimnislos nackig also, und von den destruktiven, gefährlichen Kräften und Säften des Sexus keine Spur.

Fassbinder und Fellini, die erklärten Vorbilder des Regieprovokateurs, haben das treffender ins Bild gesetzt. Bieito wäre lieber, vermutet man öfters, beim Film, denn er inszeniert vom Rand her, mit Sinn und Liebe für die Requisiten, Details und Typen des Alltagsrealismus: Handy, Mackergesten, Goldkettchenproleten. In den Kern trifft er kaum, in die Mitte dieser unmöglichen Liebe, die im zwar atmosphärische Perspektiven eröffnenden Rundbühnenbild von Alfons Flores Plätze findet, aber keine Orte, kein Innen und kein Außen. So hat die Intimität der Liebe gegen die turbulente Rammelei wenig Chancen.

An den Darstellern, an Juanita Lascarro und William Joyner als Liebespaar, liegt es wenig, an ihrer vokalen Beglaubigung schon eher. Sie gewinnt am Abend an Sopran-Kraft, nicht an unterschiedlichen Farben, der Tenor singt anfangs noch eine superbe "Traum"- Erzählung, piano und mit weichen, aus seiner runden Mittellage entwickelten Kopftönen, später muss er fast vollständig passen mit der Vollhöhe, seine große Arie "Ah! fuyez, douce image" verliert an Linie, und die wirklich schrecklich schweren Aufschwünge erringt er mit letzter Not, trocken und gepresst. Müdigkeit, Aufregung? Eine schöne Stimme, geschmackvoll geführt, leider ohne letzten Schliff und französische Idiomatik.

Wie sollte es an der nicht mangeln, in Deutschland, wo Massenet, wo französische Opern zu wenig gespielt werden? In Frankfurt hört man zudem eine um fast ein Drittel gekürzte Fassung, in der durchgehend die für die Comique typischen gesprochenen Passagen, die Melodramen-Abschnitte und Rezitative gestrichen wurden. Schade, der Frankfurter GMD Paolo Carignani besitzt durchaus ein Ohr für den delikaten und rhythmisch-gespannten Orchesterklang (Einleitung zum vierten Akt mit den knackigen Nachschlägen). Und das Frankfurter Museumsorchester hat vom deutschen Mischklang umgeschaltet zu einem deutlich die Orchestergruppen definierenden Spiel, immer wieder treten die exzellenten Holzbläser (Oboe, Klarinette, Fagott) mit ausdrucksvollen Soli vor, im äußersten Piano klingt das Orchester tragend und farbig. Ausgezeichnet singt der Chor, der zum Ende der Saison seinen Direktor Andrés Máspero an die Bayerische Staatsoper München verliert. Trotz des Regiespektakels Bravos - Frankfurt klatscht in dieser Spielzeit immer auch ein wenig den Titel "Opernhaus des Jahres" herbei. Ein schüchternes Buh.

Weitere Vorstellungen am 25. und 28. Juni sowie am 2. 4., 6. und 7. Juli

 

Stuttgarter Nachrichten
25.06.2003 | 05:04 Uhr

Der katalanische Skandalregisseur Calixto Bieito inszeniert Massenets "Manon" an der Frankfurter Oper
Das Leben als Rausch - Schwindel erregend
"Ich will die Leute berühren mit der Poesie von Gewalt und Sex", sagt Calixto Bieito. Die Grenzen des konservativen Opernbetriebes zu überschreiten, findet er "fantastisch: Das bedeutet Freiheit."

VON SUSANNE BENDA

Nach dem "Troubadour", den der katalanische Regisseur jüngst in Hannover inszenierte, sollen sich Zuschauer übergeben haben. Klar, dass Ähnliches erwartete, wer jetzt die Frankfurter Oper besuchte. Dort hatte sich Bieito Jules Massenets "Manon" vorgenommen.

Doch die Voyeure im Publikum kamen kaum auf ihre Kosten. Waren sie es, die am Ende ihr Missfallen bekundeten: ihre Empörung über das Scheitern einer mittlerweile hochgeschraubten Erwartenshaltung, die der Regisseur selbst nur allzu gerne schürt? Fest steht immerhin, dass die vielen Körperabsonderungen, mit denen Bieito die (allzu?) schöne Opernbühne schon hier und dort besudelte, dass die vielen Gewaltakte, die er Werken des traditionellen Repertoires abrang, ein Klischee zeitigten, mit dem er den Umgang offenbar erst lernen muss: Bieito, der legitime Nachfolger Antonin Artauds und seines Theaters der Grausamkeiten; Bieito, der Schmutzfink der Opernbühne, die neue Skandalnudel des Musiktheaters, der in die sehr menschlichen Tabuzonen unter Paillettenkleidchen und Smoking vorstößt.

Soll er doch machen, wir regen uns gerne mal auf und richten in unserem Kopf eine neue Schublade ein mit einem merkwürdig poetischen, schönen Namen darauf: Calixto Bieito.

Was aber, wenn Bieito nicht macht, was er selbst von sich erwarten lässt? Wenn er es bei so wenig Masturbation und Ejakulation belässt, dass eine Inszenierung von ihm ein chronisch reinzüberflutetes Publikum nur gerade soeben noch streift und dem Bieito-Klischee eben gerade nicht genügt? Hat er dann versagt?

Im Falle der Frankfurter "Manon" muss man das eindeutig verneinen. Denn diese Oper hat der Katalane einfach nur logisch durchgearbeitet. Wenn bei ihm der Weg der Titelheldin im Drogentod endet, dann hat er das gut zwei Stunden lang mit Argumenten schlüssig untermauert. Juanita Lascarro hilft ihm dabei: Die derzeitige Primadonna der Frankfurter Oper ist nicht nur eine faszinierende Sängerin mit tragfähiger, vielfarbiger Stimme und der Fähigkeit zu unzähligen feinen Nuancen der vokalen Auskleidung, sondern sie überzeugt auch in ihrer Zeichnung einer Frau, deren Leben mitten in Glitzer und Glamour an seiner Konzeptlosigkeit scheitert.

Calixto Bieito kehrt Motive nach außen, die sonst eher im Hintergrund bleiben: die Dominanz des Materiellen, die Orientierungslosigkeit Manons. Er zeigt das Leben als Rausch, bei dem Sex, Drogen, Spiel, Geld, Macht die wechselnden Konsumgüter sind: Hier, auf der Frankfurter Drehbühne, ist es mit teilweise Schwindel erregendem Tempo inszeniert und von Alfons Flores auch in das schillernde, allzeit bewegliche Bild von einer Art Einkaufszentrum mit Spielcasino gesetzt. Virtuos führt der Regisseur Massen von Chorsängern, Tänzern und Statisten durch die schöne, verspiegelte Welt des Scheins und der Scheine.

Der Entwurf ist stimmig genug, um manche Reibung von Szene und Libretto (wie beispielsweise Manons "Adieu, ma petite table" vor dem einarmigen Banditen) als nebensächlich erscheinen zu lassen.

Auch die Schräglage, in die der Regisseur die Figur des Lescaut (Earle Patriarco) versetzt, indem er ihn - und teilweise auch den Vater Des Grieux (Magnus Baldvinsson) - als integralen Bestandteil der Bohème (und nicht mehr als deren Korrektiv) zeichnet, lässt sich akzeptieren, wenn man sie als Fingerzeig versteht: Schaut her, das sind die Wunden der Gesellschaft, die auch die eure ist.

Des Grieux (William Joyner), der sich bei Bieito zum "Fuyez, douce image" selbst auspeitscht, ist indes auch in dieser Inszenierung der große Verlierer. Wobei ihm zumindest ein bisschen Eigenaktivität zugestanden wird: Er selbst darf der Geliebten den goldenen Schuss setzen.

Frankfurts Generalmusikdirektor Paolo Carignani untermalt das am Pult des Frankfurter Museumsorchesters zwar nicht immer mit optimaler Koordination, wohl jedoch mit viel Gespür für Massenets zahlreiche fast kammermusikalische Feinheiten. So trägt auch er das Seine dazu bei, dass Massenets Oper selten so berührte und dabei so wenig süßlich wirkte wie hier.

Weitere Aufführungen am 25. und 28. Juni sowie am 2., 4. und 6. Juli.