Frankfurter Allgemeine Zeitung
3. Juni 2004

Oper
Angstvolle Enge in Seele und Zelle: Luigi Dallapiccolas Opernschaffen

Gewaltherrschaft und die Ohnmacht des einzelnen in totalitären Regimen - das waren Luigi Dallapiccolas bevorzugte Themen in den dreißiger bis fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Vor allem seine Einakter "Volo di notte" (1938) und "Il prigioniero" (1948) sprechen da eine deutliche Sprache. Doch der vor 100 Jahren im damals noch österreichischen Istrien geborene hochgebildete Lehrerssohn, der in seinem Leben zweimal politisches Unrecht zu spüren bekam, geht das Thema eher von der humanistisch-psychologischen Seite her an, obwohl er politische Zusammenhänge keineswegs ausschließt. Das findet auch der Brite Martyn Brabbins, der Dirigent des Dallapiccola-Doppels, das am 6. Juni um 18 Uhr in der Regie von Keith Warner an der Oper Frankfurt Premiere hat.

Luigi DallapiccolaBrabbins ist begeistert von der koloristischen Vielfalt und der konstruktiven Dichte beider Einakter. Dennoch unterscheiden sich die Stücke deutlich voneinander. "Im Nachtflug", so hat Brabbins herausgefunden, "ist das Orchester opulenter, romantischer, durchaus noch im Sinn der italienischen Oper. Das gilt auch für die Vokalparts: Sie sind wundervoll zu singen. Doch das Orchester ist fast zu dick gesetzt für die Stimmen, und um die Balance zu gewährleisten, müssen wir den ,Nachtflug' mehr proben als den ,Gefangenen'." Noch wichtiger ist das musikalisch klar ausgedrückte, "sehr bewegende Drama" beider Opern.

In "Volo di notte" nach Antoine de Saint-Exuperys Roman führt Riviere, Leiter einer Fluggesellschaft, für Post- und Kurierflüge rücksichtslos Nachtflüge ein, um anderen Transportmitteln überlegen zu sein. Damit riskiert er Katastrophen. So kommt der Pilot Fabien in einem Orkan um - zum Entsetzen seiner Frau, deren Lebenssinn mit dem Tod ihres Mannes verloren ist. Die fanatische Idee vom technischen Fortschritt, der solche Nachtflüge ermöglicht, treibt Riviere dazu, Menschen in die Ausweglosigkeit zu zwingen und so unerbittlich Macht über sie auszuüben. "Dieser Einakter ist ein unglaublich intensives Porträt des sterbenden Piloten, seiner angstvollen Frau und des zwischen Himmel und Erde vermittelnden Funkers."

Auch "Il prigioniero" ist ein Gleichnis über das Thema der Macht. Inquisitor, Kerkermeister und - im Prolog-Traum der Mutter - der Tod verschmelzen zu einer Person, die dem Gefangenen trügerische Hoffnung als grausamste Form der Folter suggeriert, ehe sie ihn dann doch ermorden läßt. Hier wird das Orchester selten voll eingesetzt, von scharfen, spitzen dynamischen Ausbrüchen abgesehen. Die oft hinterhältig leise Musik habe "etwas Klaustrophobisches": Sie läßt die angstvolle Enge in Seele und Zelle des Gefangenen spüren. Nicht weniger als die ausdrucksintensive Ökonomie der Mittel und die "exquisite Instrumentation" bewundert Brabbins die musikalische Architektur, die stärker als im "Nachtflug" das ganze Stück zur Einheit bindet. Konstruktion und Expression bedingen und ergänzen einander. Das ganze Stück mit Prolog und vier Szenen basiert auf drei Zwölftonleitern, ihren Varianten und motivischen Abspaltungen. Schneidende Vierklänge und vor allem das Dreitonmotiv F-E-Cis, das Brabbins auf dem Flügel anschlägt, durchziehen die Partitur. Dieses Leitmotiv erklingt auch jedesmal dann, wenn der Inquisitor-Kerkermeister mit dem Bruderwort "Fratello" hinterhältig Freundschaft und Hoffnung auf Freiheit vortäuscht.

Die schier ausweglose Dichte der Konstruktion, in die Dallapiccola auch Traditionsformen wie Ricercar und alte Kirchenmusik einfügt, verstärkt diesen Albtraum der Angst. Doch die frei gestaltete Zwölftontechnik drängt sich nie auf, sondern gibt der hochexpressiven Musik unterschwellig ihren Halt. "Die Musik ist nicht so schwer zu erfassen", resümiert Brabbins sein beredtes Plädoyer für Dallapiccolas Kurzopern, "denn sie vermittelt sehr kommunikativ Expressionen in bewegenden Tragödien auch unserer Zeit." Der gelernte Komponist Brabbins empfindet es als seine Pflicht, "als lebender Musiker heute geschriebene Musik aufzuführen". Doch er versteht sich nicht als Spezialist dafür; er dirigiert ebenso gern Smetanas "Verkaufte Braut". Obwohl er nicht mehr komponiert, weil es ihn weit mehr zum Dirigieren zieht, hilft ihm die Erfahrung mit dem Komponieren, knifflige Partituren zu durchschauen und zu beurteilen.

Der Leiter bedeutender britischer Orchester wird im Jahr 2005 für drei Jahre das Cheltenham Festival als Artistic Director übernehmen. Enthusiastisch freut er sich auf "diesen vielleicht wichtigsten Teil meines Lebens". Denn er verspricht sich von diesem vielseitigen Amt eine Horizont-erweiterung mit neuen Ideen fürs Leben und Schaffen. Je herausfordernder eine Aufgabe oder ein Stück ist, desto lohnender erscheint es dem einfallssprühenden, eloquenten Dirigenten. Das gilt auch für die Arbeit an den beiden Einaktern Luigi Dallapiccolas.

ELLEN KOHLHAAS