Frankfurter Allgemeine Zeitung
Dienstag, 8. Juni 2004, Nr. 131 / Seite 39

Verstanden, Hölle - Ende und aus
Funkverkehr unter toten Sternen: Keith Warner verkoppelt Luigi Dallapiccolas Kurzopern "Der Gefangene" und "Nachtflug" an der Frankfurter Oper

Die Hoffnung, erinnert sich Tadeusz Borowski an seine Gefangenschaft in Auschwitz, habe die Menschen "tot und stumpf" gemacht. "Die Hoffnung ist es, die den Menschen befiehlt, gleichgültig in die Gaskammern zu gehen; die sie davon abhält, Aufruhr zu planen. Die Hoffnung treibt sie dazu, um jeden weiteren Tag des Lebens zu kämpfen, weil es gerade der kommende Tag sein könnte, der die Freiheit bringt." Im gleichen Sinne berichtet Alexander Solschenizyn über den GULag: "Die schimmernde Hoffnung läßt die meisten dumm werden. Ich bin unschuldig, warum sollten sie mich holen? Ein Mißverständnis!" Die Verkehrung elementarer Regungen in ihr Gegenteil, durch die das Empfinden eines Menschen in seinen Grundfesten zerstört wird, zählt neben zahl- und namenlosen Qualen wohl zu den tiefgreifendsten Versehrungen, die Internierung und Folter in der menschlichen Seele anrichten.

Luigi Dallapiccola hat diesem Mechanismus in seinem Operneinakter "Il prigioniero", "Der Gefangene", zwingenden Ausdruck verliehen. Seine Darstellung der Folter als perverses und totalitäres Vernichtungsinstrument brachte er in eine strenge symmetrische Anlage, die mit Hilfe der Reihentechnik konsequent jeden Zustand musikalisch in sein Gegenbild kippen läßt: Zuwendung schlägt um in Qual, Brüderlichkeit in ein Instrument des Hasses, die Vision der Freiheit in die Gewißheit des Todes, und die leise Saat der Hoffnung, die der Kerkermeister seinem bereits völlig apathischen Opfer einpflanzt, erweist sich am Ende als die letzte und schlimmste aller Foltern. Er sei nicht so naiv, zu verkennen, daß das Individuum in einem totalitären Regime machtlos sei, hatte Dallapiccola im faschistischen Italien notiert. Nur durch die Musik könne er seine Empörung äußern.

Wie glühend intensiv ihm das gelungen ist, in Werken, die seit ihrer Entstehung in den späten dreißiger und vierziger Jahren an Aktualität nichts verloren haben, ist nun an der Oper Frankfurt zu erfahren. Den "Gefangenen" koppelt Keith Warners Inszenierung mit "Volo di notte" nach Antoine de Saint-Exupérys Roman "Nachtflug", einem Stück, das seit etwa vierzig Jahren kaum aufgeführt worden ist. Zusammen mit den großen Chorwerken "Canti di prigionia" und "Canti di liberazione" zählen diese Kurzopern zu den wichtigsten Zeugnissen der musikalisch fruchtbar gemachten Empörung Dallapiccolas.

Der "Nachtflug", 1937 bis 1939 entstanden, läßt sich als künstlerische Auseinandersetzung mit dem im Faschismus verödenden Futurismus begreifen und seiner Heroisierung des Fliegens. In sechs Szenen kreist die Oper um Faszination und Gefahren der Nachtflüge, die der Protagonist, Rivière, Direktor der südamerikanischen Fluglinien, zur Beschleunigung der neuen Postverbindung eingeführt hat - genauso wie es Saint-Exupérys Vorgesetzter und Fluglehrer 1929 in Frankreich getan hatte, bevor der Dichter selber Betriebsleiter einer argentinischen Fluggesellschaft wurde. Im Zentrum steht die Frage nach der heldenhaften Tat, die Menschleben aufs Spiel setzt. "Und dennoch, obwohl das Menschenleben unbezahlbar ist", klagte Saint-Exupéry, "handeln wir immer wieder so, als ob es etwas gäbe, das das Menschenleben an Wert übertrifft ... Aber was?" Der Pilot Fabien ist in einen Orkan geraten. Seine Frau erkundigt sich im Büro des Direktors nach dem Verbleib ihres Mannes. Der Funker vermittelt die letzten Sätze des abstürzenden Fabien und schlüpft dabei, als ein Vermittler zwischen Himmel und Erde, in dessen Rolle.

Warners Inszenierung unterstreicht die Ambivalenzen des nächtlichen Geschehens, das die Sphären der Maschinen- und der Menschenwelt ineinander spiegelt: Der Technisierung der Beziehungen korrespondiert eine Romantisierung der Technik. So folgt die Inszenierung genau der Musik, die solcher Doppelgesichtigkeit in auratischen Stimmungsbildern beständig auf der Spur ist. Ein Engelsbild am Bühnenhimmel, das sich zu den süßen Bluesklängen einer entfernten Sopranstimme wiegt, verwandelt sich mit dem "Chor der Scheinwerfer" in das gleißende Licht eines landenden Flugzeugs. Zu den transzendenten Klängen jener Choralvariationen, die Dallapiccola dem abstürzenden Fabien komponierte, schwebt der Funker mit astronautenhaft schwerelosen Schritten über die sich drehende Bühne. Manch ein Lichteffekt gerät zu knallig, und nicht jedes suggestive Bild entpuppt sich als wirklich stimmig. So setzt sich Fabiens Frau nach ihrer Unterhaltung mit dem Direktor eine jener Vogelmasken auf, wie sie auch die Flugzeugmechaniker wohl als halb der Technik, halb der Natur zugehörige Zwitterwesen ausweisen sollen (die Kostüme stammen von Nicky Shaw).

Schlagend gelingt die Umsetzung der tödlichen dramaturgischen Spirale im "Gefangenen" nach Villiers de l'Isle-Adams Erzählung "La torture par l'espérance" und Charles de Costers "Uhlenspiegel"-Roman. Den gleisnerischen "Bruder"-Ruf des Kerkermeisters im Ohr und die spaltbreit geöffnete Tür seiner Zelle vor Augen, rafft der Häftling seine letzte Lebenskraft zusammen, um zu fliehen. Unter freiem Himmel erwartet ihn sein Peiniger, um ihn zum Scheiterhaufen zu führen. Jede zielgerichtete Entwicklung unterläuft das Werk durch die Orientierung auf einen Nullpunkt hin, der die gesamte dramatische Energie wie in einem Schwarzen Loch vernichtet, sowie durch seine konzentrische Formanlage. Warner und Glarner sperren den Gefangenen in ein die gesamte Drehbühne nutzendes Karussell aneinandergereihter klinisch weißer Guckkastenzellen, aus dem es nur scheinbar ein Entrinnen auf die offene Bühne gibt. Der Großinquisitor thront in einem Gerüst von der Bühnendecke herab wie Gottvater und bewegt den Häftling dazu, sämtliche Zellen rückwärts noch einmal zu durchfliehen. Daß ihn am Ende nicht nur eine freie Pritsche im Leichenhaus, sondern außerdem ein orangerot lodernder Feuerofen erwartet, erscheint hingegen als überflüssige, zudem unstimmige Verdopplung der Bilder. Weniger wäre mehr gewesen.

Gleiches gilt auch für die musikalische Interpretation. Das Frankfurter Museumsorchester bringt unter Martyn Brabbins überbordendes Zwölftonmelos, Dramatik und Farbigkeit der Musik plastisch und weitgehend differenziert zur Geltung. Da hätte es weder der bisweilen forcierten Tuttigewalt und erst recht nicht der störenden Lautsprecherverstärkung mancher Klangballung bedurft. Gesungen wurde durchweg fabelhaft: Zeljko Lucic war ein imposanter Rivière, Peter Bronder ein sensibler Funker, Stuart Skelton ein charakteristischer Kerkermeister und Großinquisitor. Hervorzuheben sind aber vor allem Lucio Gallo als eindringlich agierender Gefangener und Taina Piira als Mutter sowie als Frau Fabiens im "Nachtflug".

JULIA SPINOLA

 

Frankfurter Rundschau
8. Juni 2004


Der Nachtflug markiert das Ende der moralischen Gravitation. Im Bild: Zeljko Lucic (Rivière), Zoltan Winkler (Leroux).
(Oper Frankfurt)

Scheidelinien des Humanismus
Die Oper Frankfurt erinnerte an frühe Opern von Dallapiccola: "Volo di notte" und "Il Prigioniero"

VON HANS-KLAUS JUNGHEINRICH

Gabriele d'Annunzios dröhnender, technikbesessener Poeten-Aktionismus markierte die Anfänge des italienischen Faschismus, Luigi Dallapiccolas Oper Volo di notte ("Nachtflug", uraufgeführt 1940 in Florenz) dessen Endphase. Nur verhalten noch und wie contre cśur werden hier männliche Tugenden gefeiert. Das Abenteuer des Nachtflugs wirkt als existenzielle Metapher zudem doppeldeutig: Sphäre des von physikalischen und moralischen Gravitationen befreiten heldischen Menschen und zugleich Chiffre für Hybris, Scheitern, Tod. Der italienische Komponist schrieb sein Libretto nach einem Roman von Antoine de Saint-Exupéry, dem passionierten Flieger, dessen Śuvre nach 1945 dem Erbe des Humanismus zugeschlagen wurde. Gleiches bedeutete auch der internationale Erfolg des Dallapiccola-Werkes. Unmissverständlich erwies sich die geistige Verortung des Komponisten dann mit der Oper Il Prigioniero ("Der Gefangene", 1949), einer szenischen Reflexion über die Gewaltsysteme der letzten Jahrhundertmitte, die in den Jahrzehnten nach ihrer Entstehung freilich vor allem antikommunistisch instrumentalisiert werden konnte. Die beiden stattlichen, mit ihrem Ausdrucksgestus und den musikalischen Mitteln ins Große zielenden Einakter wurden an der Oper Frankfurt kombiniert in einer präsentablen, ansprechenden Inszenierung von Keith Warner.

Bruder Kerkermeister

Die Partitur des Volo di notte beginnt und endet mit hellen, luftigen, schwebenden Klängen, gewinnt nach der Mitte zu Schicksalsschwere, expressive Wucht und dissonante Rabiatheit. Landschaftsmusikalischer Impressionismus spielt reichlich hinein, dagegen gibt es aber kaum heroische Tönungen. Im Zentrum des Stückes steht der Dialog zwischen der Frau und dem Direktor der Fluggesellschaft, der angstvoll um das Schicksal des Verschollenen Bangendem und dem skrupellosen Funktionär der Macht. Die Gewichtung der Szene zeigt, wie Dallapiccola wirklich über die "Kosten" des Heldentums denkt. Vorherrschend sind die lyrischen, schmerzvollen Intensitäten auch bei der vokalen Diktion, die den Stimmen eine zwar ausgreifende, aber niemals schroff aufgebrochene Kantabilität gönnt. Die insgesamt schneidendere, auch kleinmotivischer-polyphon gebaute Prigioniero-Musik gewinnt ihr besonderes Raffinement dadurch, dass der Kerkermeister als Repräsentant der Macht durchweg sanft und schmeichlerisch gezeichnet ist, vor allem mit der leitmotivischen Floskel "fratello" ("Brüderchen"), die sich wie ein Ohrwurm einprägt. Sie ist das Zeichen einer spezifischen Art von Folter, die beim Opfer Vertrauen und trügerische Hoffnung erweckt.

Die Pervertierung von "Brüderlichkeit" könnte auch als Anspielung auf die verdorbenen Werte der Französischen Revolution verstanden werden. Dallapiccola, auch hier (wie noch in seinem späten, zwölftönigen Meisterwerk Ulisse, 1969) sein eigener Librettist, verkleidete die Aktualität seines Stoffes mit einer auf Charles de Coster zurückgehenden Episode aus dem Imperium Philipps II., in der die Schergen der Heiligen Inquisition die Rolle des Repressionsapparats innehaben. Die beiden relativ großformatigen, auch Chorklang einbeziehenden Opern heben sich von den skrupulösen, skelettierten, überwiegend kammermusikalischen (gleichwohl oft von Vokalität inspirierten) Spätwerken Dallapiccolas auch durch ein unspezifischeres, unbedenklicheres Schwanken zwischen Tonalität und Atonalität, Mitteilsamkeit und Verschlossenheit, ab. Das korrespondiert mit den "altmodischen" Zügen, die den auf sympathische Weise verunsicherten, im luftleeren Raum treibenden Humanismus Dallapiccolas hier grundieren. Ein vergleichbarer deutscher Komponist wäre Karl Amadeus Hartmann insbesondere mit seinem Simplicius Simplicissimus, der derzeit wieder an der Oper Stuttgart zu erleben ist.

Die vielumjubelte Frankfurter Aufführung unterstrich szenisch das Altmodische, aber auch den Drive der zum Prigioniero führenden Entwicklung. Kaspar Glarners Bühnenbild baute die imposante Kulisse einer pionierhaften Flugstation in der südamerikanischen Pampa vor einem gewitterschweren Fjordprospekt; eine Atmosphäre zunehmender Beunruhigung hielt die Drehbühne in unaufhörlicher Bewegung. Vielleicht um eine Spur zu fingerzeigerisch die monströse Vergrößerung des Bürokratenschreibtischs am Ende. Der Mann, der das ihm anvertraute "Menschenmaterial" (die Piloten) bedenkenlos in den Tod schickt, wird in dieser Sicht schonungslos demaskiert. Zeljko Lucic imaginiert ihn, mit voluminöser Stimmsubstanz, auf der Scheidelinie zwischen autoritärer Selbstherrlichkeit und psychopathischer Getriebenheit. Als Frau vehement: Taina Piira. Charaktervolle Erzählung des Funkers: Peter Bronder.

Nachtflug-Landschaft

Den weiten Horizonten des Volo war die Enge des Gefängnisstückes scharf entgegengesetzt: kleine Räume, überwiegend grell ausgeleuchtet, zwischen denen der Eingesperrte in seiner illusionären Befreiungshoffnung hin- und herirrte bis zum Ende in einem Verlies, in dem sich ein Tod signalisierender Verbrennungsofen öffnete. Zuvor hatte er auf seiner vom Kerkermeister observierten Wanderschaft auch die vermeintliche Freiheit der "Nachtflug"-Landschaft erreicht, deren glazialer Rückprospekt vor seinen Augen krachend zusammenbricht. Aus einer Gondel hoch über der Bühne kommentiert der Machthaber höhnisch die Desillusion und die anstehende Exekution des Delinquenten. Auf historisierendes Kolorit wurde nahezu verzichtet. Mit der trügerischen Sanftmut eines zum Tode verführenden schwarzen Engels glitt der Tenor Stuart Skelton als Machtagent durch die Bilder, niemals seinen lyrischen Schmelz ins Brutale ziehend, wie er denn auch auf jegliche Anwendung von körperlicher Gewalt verzichtete. Der Gefangene, namenlose Inkarnation der Erniedrigung, des Aufbegehrens und der unzerstörbaren Hoffnung, wurde von dem markanten Bariton Lucio Gallo mit allen Facetten expressiver Eindringlichkeit wiedergegeben. Den Prolog der Mutter gab wiederum Taina Piira mit aufblühendem Duktus.

Dallapiccolas Musik ist auch in ihren dramatischsten Färbungen kaum mehr als schockierend wahrnehmbar, oft geradezu ein samtener, gepolsterter Klangteppich oder ein fein ausziseliertes Gewebe. So mutete auch das Dirigat von Martyn Brabbins nie brachial oder martialisch an, vielmehr in vielerlei Nuancen abgestuft, hellhörig disponiert, mit dramatischem Spürsinn verdichtet und gesteigert. Neben den zahlreichen Vokalsolisten agierten der Chor (einstudiert von Alessandro Zuppardo) und das Museumsorchester in lebhafter Klangsicherheit und Wohlproportioniertheit.

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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2004
Dokument erstellt am 07.06.2004 um 16:32:14 Uhr
Erscheinungsdatum 08.06.2004

 

Frankfurter Neue Presse
8. Juni 2004

Aus Liebe zu den Leidenden
Die Premiere von Keith Warners Inszenierung zweier Dallapiccola-Einakter an der Oper Frankfurt wurde zum Triumph für das Musiktheater des 20. Jahrhunderts.

Von Michael Dellith

Operninszenierungen, bei denen das Werk mit zwingender Logik, aber ohne viel Firlefanz konsequent auf die Bühne gebracht wird, bei denen das Publikum nicht in Ratlosigkeit entlassen wird, sind rar geworden. Dem britischen Regisseur Keith Warner ist das Kunststück einer atmosphärisch dichten, spannenden und kurzweiligen Umsetzung jetzt mit zwei Einaktern des italienischen Zwölftöners Luigi Dallapiccola gelungen. Gemeinsam mit dem Bühnenausstatter Kaspar Glarner und der Kostümbildnerin Nicky Shaw beschwört er in «Volo di notte» (Nachtflug) die bedrohliche Welt von Antoine de Saint-Exupérys berühmter Romanvorlage mit nur wenigen Requisiten herauf. Ein Büroschreibtisch, eine Gangway, ein Funkkontrollturm und ein paar Tonnen mit Fackelfeuer als Begrenzung der Landebahn – all das geschickt auf der Drehbühne platziert, fertig ist die Kulisse für jene Geschichte, die in den 30er Jahren zur Pionierzeit des Postflugverkehrs in Argentinien spielt: Rivière, der ehrgeizige Flughafendirektor, hält an den gefährlichen Nachtflügen fest und schickt den nächsten Kurier an den Start, obwohl Fabien, einer seiner Piloten, in einem Orkan ums Leben gekommen ist.

Die Dramatik der Situation ergibt sich in der Oper aus der Gleichzeitigkeit der Geschehnisse. Während der Funker die Botschaften des mit dem Sturm kämpfenden Fliegers übermittelt, ist der Flughafenchef in einem Gewissenskonflikt. Der Bassist Zeljko Lucic verkörperte Rivière nicht nur stimmlich hervorragend, er ließ auch die Facetten dieser Figur erkennbar werden, die zwar von einem unbeirrbaren Fortschrittsglauben, von Machtbesessenheit und Größenwahn beherrscht wird, doch nicht ohne Zweifel ist. Soon-Won Kang, Hans-Jürgen Lazar, Peter Bronder und Taina Piira, die nach der Pause noch einen großen Auftritt hatte, ergänzten mit dem von Alessandro Zuppardo präzise einstudierte Opernchor das Ensemble vortrefflich, und Martyn Brabbins am Pult des Museumsorchesters demonstrierte, wie kantabel, ja sinnlich Zwölftonmusik sein kann.

Auch der zweite Dallapiccola-Einakter «Il prigioniero» (Der Gefangene), der zur Zeit der spanischen Inquisition spielt, ist eine Parabel über die Macht und wie «Volo di notte» aus «Liebe zu den Leidenden» entstanden, wie es der Komponist formulierte – wie zeitlos aktuell der Stoff ist, zeigen die jüngsten Vorkommnisse im Irak. Der von Folter gekennzeichnete Gefangene, darstellerisch und stimmlich faszinierend von Lucio Gallo interpretiert, wird vom Kerkermeister (brillant: Stuart Skelton), der sich später als Großinquisitor entpuppt, in die Freiheit entlassen, um am Ende doch auf dem Scheiterhaufen zu landen. So erweist sich die trügerische Hoffnung auf die Freiheit als größte aller Qualen. Die Regie schuf für die seelischen Vorgänge, die in dem Gefangenen ablaufen, ein geradezu geniales Bühnenbild, das in einer Abfolge von Fantasie-Räumen die Visionen des Protagonisten erahnen lässt.

Das Publikum reagierte mit großem Enthusiasmus auf eine Produktion, die zu den besten der sich zu Ende neigenden Saison zählt.

 

OFFENBACH POST
8. Juni 2004

Selbst die Zwölftonreihe hat zwingend melodischen Gehalt
Dallapiccola-Einakter"Volo di Notte" und "Il prigoniero" an der Oper Frankfurt

Die Hölle, das sind die anderen, heißt es in Jean Paul Sartres Drama "Geschlossene Gesellschaft". Diese schier unmenschliche These untermauerte der italienische Komponist Luigi Dallapiccola bereits in den 1940er Jahren in seinen Opern-Einaktern "Volo di notte" (Nachtflug) und "Il prigoniero" (Der Gefangene), menschliche Hybris und Ohnmacht anprangernd.

Die beiden Stücke des moderaten Zwölftöners brachte der englische Regisseur Keith Warner an der Oper Frankfurt auf einen Nenner, einen enervierenden Abend bescherend. Der bezog seine Hochspannung aus einer Musik, deren Modernität Martin Brabbins mit dem klanglich hochemotionalen Frankfurter Museumsorchester, mit Opernchor und engagierten Gesangssolisten nachwies. Faszinierend auch - und hier weit über Alban Berg hinausgehend -, wie Dallapicolla spröde Zwölftonreihen in italienische Opernkantilenen verwandelte, die an Schlagkraft dem Verismo nahe sind. Von all dem überwiegend gefesselt schien das Premierenpublikum am Sonntag. Beifall und Bravos wollten kein Ende nehmen: für die Protagonisten einer schlüssigen Inszenierung, deren Bildkraft ebenso beeindruckte wie ihre gnadenlose psychologische Stringenz.

Zeitlos sind Dallapiccolas Themen. Und ebenso exemplarisch macht sie der Bayreuth-Regisseur Keith Warner ("Lohengrin") auf der Opernbühne fest. "Nachtflug" basiert auf dem Roman von Antoine de Saint-Exupéry und mahnt den technoiden Fortschrittsglauben ab. Der Boss einer Airline in Buenos Aires schickt seine Kuriere auf Nachtflug, eine Maschine stürzt ins Meer, doch für Rivière, davon überzeugt, dass die Idee des Nachtkuriers gestorben ist, wenn er nur auf einen Start verzichtet, gibt es keinen Stillstand.

Am Anfang sieht man den Direktor über den Flugplatz schleichen. Wütend wirft er seinen Hut gen Himmel, der wie magisch verschwindet, tritt gegen ein Flügeltier, offenbar verwandt mit Warners zerfleddertem Lohengrin-Schwan. Der Blick fällt auf einen See, von Bergen begrenzt und in jenem Gilb, der uralten Fotos Patina verleiht. Die Drehbühne gibt ein Büro frei, in das sich Rivière verschanzen kann, fünf Uhren zeigen die Weltzeit, auf dem Tower hält der Funker Kontakt. Im Bühnenoff suggeriert eine Tänzerin (Nicoletta Stanescu) Flugzeugbewegungen, ebenso einprägsam die Landung mit zwei sich im Trockennebel nähernden Scheinwerfern (Ausstattung: Kaspar Glarner). Wenn die Nachricht vom Absturz überbracht ist, verwandelt sich das Flughafen-Personal in Vogelgestalten (Kostüme: Nicky Shaw), Max Ernsts Alpträumen nachempfunden, die Rivière in einer Prozession zu bedrängen scheinen - El Condor Pasa ...

Hier singt sich der expressive Tenor Hans-Jürgen Lazar als überlebender Pilot in einen wahren Rausch, wenn er erzählend dem Zyklon noch einmal ins Auge blickt. Und Peter Bronder verwandelt sich als Funker vom kühlen Techniker zum unmittelbar Mitleidenden, wenn er den Kontakt zum Todespiloten vermittelt, ein Tenor, der mitreißt. Dabei Stufe um Stufe vom Tower herabsteigend - ins richtige Leben.

Anrührend mit leise insistierendem Sopran auch Taina Piira als Frau des tödlich verunglückten Kurierfliegers, die sich um ihr Lebensglück betrogen fühlt, deren Plädoyer für die Liebe aber an Rivière abprallt, den auch seine Untergebenen wie der nachdenkliche alten Mechaniker (Zoltan Winkler) und der beflissene Inspektor (Soon-Won Kang) kaum mehr verstehen.

Dallapiccolas Musik hält hier die Zwölftonreihe in hymnischen Fluss, der aber permanent auch Bedrohliches transportiert und sogar schier gellendes Melos erlaubt, wenn der dramatische Knoten schmerzhaft festgezurrt wird. Der Brite Brabbins entwickelt dies mit dem von Klavier verstärkten durchsichtigen Kammerklang des Museumsorchesters ebenso zwingend wie Strawinskys Motorik oder das impressionistische Herzflimmern. Der wieder einmal von Alessandro Zuppardo ideal disponierte Chor liefert dazu den archaisch, zuweilen fiebrig anmutenden Kirchenton, selbst in grellen Intervallen des Schmerzes.

Warner lässt Ängste, Qualen, aber auch die gewisse Selbstherrlichkeit nahezu körperlich ausleben, wie das der Protagonist Rivière vorführt: Bariton Zeljko Lucic hat dies alles zudem in der Stimme. Am Ende steht er allein auf einem übermächtigen Schreibtisch, größenwahnsinnig den Fortschritt propagierend. Und urplötzlich fällt der Hut vom Himmel - herunter kommen sie immer ...

Noch beklemmender wirkt das Szenario beim "Gefangenen" auf ein Libretto des Komponisten nach Texten Villiers de L’Isle-Adam und Charles de Coster. Wieder Zwölftonreihen - wieder klangliche Emotion pur. Wieder musikalisch hochspannend verhandelt: Das Ringen des geschundenen Protagonisten, dem ein schmeichelnder Kerkermeister Hoffnung auf Freiheit vorgaukelt, geht unter die Haut. Seine hermetisch wirkende Zelle im eiskalten Neonlicht öffnet sich, bei permanenter Drehbühnenbewegung durchstreift er Räume im hoffnungsvollen Blau mit Insignien der Freiheit wie Glocke, Schwanenfeder, mit einer Kapelle im warmen Kerzenlicht, mit einem Chor, der dem Bild niederländischer Meister entstiegen scheint, um schließlich am Rande des Sees frische Luft zu atmen. Doch sein Retter erweist sich als Peiniger, die Hoffnung als letzte Folter. Durch nun leere Räume treibt ihn der Kerkermeister zurück in die Zelle, wo ein dezent höllisches Kaminfeuer flackert.

Wie Bassbariton Lucio Gallo diese Qualen zwischen Ohnmacht, Wut, Hoffnung und Verzweiflung auch stimmlich durchlebt, das nötigt ungemein Respekt ab. Stuart Skelton ist ein aalglatter Mephisto, dessen lockendem Tenor jeder glaubt. Für die Vision der Mutter vom Tod ihres Sohnes hält Sopranistin Taina Piira echte Opernkantilenen bereit, eine zwingendes Psychogramm, das in einen gläubig klingenden (hier wie Hohn) Chor mündet. Unglaublich - auch dies alles basiert auf einer Zwölftonreihe.

Frankfurt ist mal wieder bei einem stilistischen Grenzgänger fündig geworden, dessen Einakter moderner wirken als so manche derzeitige Uraufführung. Ein gutes Konzept: Weiter so!

KLAUS ACKERMANN

 

WIESBADENER KURIER
8. Juni 2004

Laufrad des Schreckens
Premiere in Frankfurt: Einakter von Luigi Dallapiccola in Keith Warners Inszenierung


Auch mit Federn gibt es keinen Ausweg: Lucio Gallo (links) als
Gefangener und Stuart Skelton als Kerkermeister.
Oswald

Von Volker Milch

Dass wir uns 2004 nicht nur in einem Dvorák-, sondern auch in einem Dallapiccola-Jahr befinden, dürfte weniger bekannt sein. Der italienische Komponist erblickte 1904, in Dvoráks Todesjahr, das Licht der Welt, gehört aber nicht gerade zu den Tonsetzern, bei denen die vollautomatische Jubiläums-Maschinerie des Musikmarktes leicht anspringt.

Um so erfreulicher, dass sich Frankfurts ambitionierte Oper des 1975 gestorbenen Luigi Dallapiccola entsinnt und an einem Abend zwei höchst reizvolle Einakter reanimiert, die Opern "Volo di notte" (Nachtflug) nach dem Roman "Vol de nuit" von Antoine de Saint-Exupéry und "Il prigioniero" (Der Gefangene). Wie im "Nachtflug" hat der Komponist auch hier das Libretto selbst verfasst, nach Texten von Philippe Villiers de l´Isle-Adam und Charles De Coster: Die Geschichte eines Gefangenen der Inquisition, dessen grausam getäuschte Hoffnung auf Befreiung die letzte seiner Qualen ist.

Um Leid, Macht und Heldentum geht es auch im "Nachtflug": Im Zentrum steht Rivi´Zre, der Leiter einer Fluggesellschaft. Er ist ein starker Mann der Tat, der von den Nachtflügen nicht lassen will, ein zwiespältiger, in seinem totalen Machtanspruch faschistoider Charakter. Einer seiner Piloten, auch noch frisch verheiratet, wird Opfer der einst riskanten Nachtflüge.

Die "Kraftzentren" beider Opern sind herb männliche Bariton-Partien, in Frankfurt kraftvoll besetzt mit Zeljko Lucic als rücksichtslos energischem Rivi´Zre und Lucio Gallo als expressiv leidendem Gefangenem, einem Schmerzensmann, der mit blutigem Kopfverband durch seine Kerker hastet. "Nachtflug" wurde 1940 uraufgeführt, "Der Gefangene" 1949 - dem Abstand entspricht eine deutlich wahrnehmbare stilistische Differenz. Das spätere Werk erscheint wesentlich härter als das frühere, in dem genuin italienische Kantabilität und unorthodox angewandte Zwölftontechnik eine geradezu süffige Verbindung eingehen: Da fühlt man sich, zumal es nicht an großen Emotionen fehlt, manchmal wie bei Puccini. Das Publikum hatte, wie man dem stürmischen Applaus entnehmen konnte, größte Freude an diesen Entdeckungen. Zur sich immer wieder einstellenden Ohrenlust, die in Frankfurt vom Dirigenten Martyn Brabbins, dem Museumsorchester und einem brillanten Ensemble nachhaltig gefördert wird, liefern der Regisseur Keith Warner und Bühnenbildner Kaspar Glarner im "Nachtflug" üppige Augenfreuden: Im Hintergrund eine Küstenlandschaft, im Vordergrund der "Tower" und andere Bauten eines historischen Flughafens. Der Realismus einer "authentischen" Flieger-Geschichte wird aber zum Beispiel durch Helme in Form von Vogelköpfen gebrochen, zum Surrealen hin verzerrt.

Ganz in die Phantasmagorie führt in Frankfurt "Der Gefangene": Der Protagonist, getrieben von der Erinnerung an die Folter und der Hoffnung auf Befreiung, schleppt sich auf der kreiselnden Drehbühne durch immer neue Kerker. In diesem Laufrad des Schreckens passiert er grausam grellweiße Verliese, riesige Federn, die ihm nicht die Freiheit bringen werden, ein zerbrochenes Schiff auch, Emblem gescheiterter Hoffnung. Eindringlich klagt die Sopranistin Taina Piira in der Rolle der Mutter um ihren Sohn - im Leid erfahren schon als Frau des vermissten Piloten Fabien aus dem "Nachtflug".

Beide Werke berühren sich auch, wenn sich der Gefangene für ein paar Sekunden in der Landschaft des "Nachtflugs" wiederfindet. Aber die Freiheit erweist sich als Trugbild: Der Großinquisitor (Stuart Skelton) schwebt sozusagen als pervertierter Deus ex machina ein und entzieht der gequälten Kreatur auf zynischste Weise die Hoffnung.

 

Darmstädter Echo
9.6.2004

Die schlimmste Folter
Oper: Zwischen Himmel und Hölle: Zwei Werke von Luigi Dallapiccola in Frankfurt

Von Klaus Trapp

FRANKFURT. Der italienische Komponist Luigi Dallapiccola, vor hundert Jahren geboren und 1975 gestorben, bezeichnete die Suche nach Wahrheit und die Liebe zu den Leidenden als wesentliche Triebkräfte seines Schaffens. In dem Einakter „Nachtflug" nach Antoine de Saint-Exupéry ist es die Witwe eines beim Nachtflug über Argentinien abgestürzten Postfliegers, die den Protest der Liebenden und Leidenden gegenüber dem fortschrittsgläubigen und menschenverachtenden Direktor der Fluggesellschaft ausspricht. In der Kurzoper „Der Gefangene" nach Philippe Villiers de L’Isle-Adam und Charles de Coster erscheint dem Eingekerkerten die bitter enttäuschte Hoffnung auf Freiheit als die schlimmste aller Foltern.

Der britische Regisseur Keith Warner hat bei seiner Neuinszenierung für die Oper Frankfurt die beiden, 1939 und 1949 entstandenen Werke in enge Beziehung gesetzt, wenn er sie auf der immer wieder bewegten Drehbühne gleichsam in sich selbst kreisen lässt.

Die Zeit ist aus den Fugen – das zeigen die asynchron laufenden Weltzeituhren auf dem in düsterem Grau gehaltenen Flugplatz an, der von Kaspar Glarner auf beklemmende Weise ins Bild gerückt wird: mit stählernem Tower, rotierender Gangway, flammenden Landeleuchten und spartanischem Dienstraum. Diese gespenstische Situation von „Nachtflug" wird durch den mit Vogelmasken ausgestatteten Chor (Kostüme: Nicky Shaw) noch verstärkt.

„Der Gefangene" irrt auf der Suche nach Freiheit durch immer gleiche, kalkweiße Zellen, um schließlich vom Großinquisitor empfangen zu werden, der ihn dem Verbrennungsofen zutreibt. Hier gelingt es, die eigentlich in der Epoche Philipps II. spielende Handlung ins Zeitlose zu heben und damit das Allgültige des Werks zu betonen.

Dallapiccola ist Zwölftöner der italienischen Art, und das bedeutet, dass er bei aller Konstruktivität seiner Partituren die Grundhaltung des Belkanto nicht verleugnet. So entsteht eine eigenartige, bisweilen etwas ermüdende Konfrontation des vielfältig aufgesplitterten Orchesters mit den Singstimmen. Der englische Dirigent Martyn Brabbins versteht es indessen, mit dem Museumsorchester die dramatischen Impulse zu schärfen und trotzdem den Sängern Raum zur Entfaltung zu lassen.

Dem vorzüglichen Bariton Zeljko Lucic gelingt es, der Partie des Flugdirektors bei aller Strenge einen Unterton der Gebrochenheit beizumischen. Die Sopranistin Taina Piira formt die Partien der Frau des Piloten und der Mutter des Gefangenen auf differenzierte Weise aus. Einen hervorragenden Eindruck macht der Bariton Lucio Gallo bei seinem Frankfurt-Debüt als der Gefangene. Mit glanzvoller, ausdrucksstarker Stimme gibt er der Titelrolle bewegend Profil, lässt die Stadien zwischen Hoffnung und Enttäuschung anrührend miterleben. Kräftiger Beifall nach der Premiere.

 

DIE WELT
9.6.2004

Italienische Raritäten aus der Frankfurter Opernküche
Indendantenkoch Bernd Loebe lässt seine Kundschaft Boitos "Mefistofele" und zwei Dallapiccola-Einakter kosten

von Uwe Wittstock

Frankfurts Oper ähnelt einem Restaurant, das für Stammgäste einige beliebte Gerichte der gutbürgerlichen Repertoire-Küche auf der Speisekarte führt. Das aber mehr und mehr Ehrgeiz in die Zubereitung von Spezialitäten investiert, für die Kenner und Kritiker auch längere Anreisewege nicht scheuen. Die jüngsten Premieren aus dem italienischen Randrepertoire mit Arrigo Boitos "Mefistofele" und Luigi Dallapiccolas Einaktern "Nachtflug" nach Saint-Exupéry und "Der Gefangene", eine humanistische Anklage auf Texte von Villiers de L'Isle-Adam und Charles De Coster, sind gute Beispiele für diese Programmpolitik des Intendantenchefkochs Bernd Loebe, die Frankfurt im vergangenen Jahr den wohlmeinenden Titel "Oper des Jahres" bescherte.

Das Dallapiccola-Doppel war ein unbestreitbarer Erfolg bei den Connaisseurs. Die Musik des italienischen Zwölftöners aus den Vierziger-Jahren klingt freilich nach wie vor sperrig. Doch die Leistungen des Dirigenten Martyn Brabbins und der Sänger Zeljko Lièiæ, Lucio Gallo und Taina Piira sind enorm. Wie Keith Warners Regie und Kaspar Glarners Bühne die Möglichkeiten einer Drehbühne nutzbar machen, war optisches wie intellektuelles Vergnügen. Ob es den Opern-Köchen gelingen wird, dieses exotische Gericht einer größeren Zahl von Gästen schmackhaft zu machen?

Ähnliches gilt für Boitos selten aufgeführte Faust-Oper. Bei Goethe debattieren zunächst Gott und Teufel im Himmel über den Geisteszuschnitt des Menschen ("Er nennts Vernunft und brauchts allein, / Nur tierischer als jedes Tier zu sein") und wetten dann, ob Faust sich auf die schiefe Bahn bringen lässt. Boito macht es genauso, nur geben himmlische Heerscharen im Chor den Startschuss für das Spiel um Fausts Seelenheil: Top, die Wette gilt. Regisseur Dietrich Hilsdorf dagegen lässt die Tragödie im Anatomie-Hörsaal beginnen. Nicht um transzendente Mächte geht es, sondern um Grenzen der Vernunft.

Boitos Oper hat einen musikalisch furiosen Auftakt, danach jedoch werden die Glanzpunkte seltener. Die Walpurgisnacht und Gretchens Arie im Kerker sind beeindruckend, aber mit zunehmender Spieldauer versteht man als Zuhörer, weshalb diese Oper nicht zum Standard-Repertoire gehört. Boitos wichtigster Beiträge zur Musikgeschichte bleiben wohl doch die zwei Libretti zu Verdis "Otello" und "Falstaff".

Die Frankfurter Akteure mühen sich nach Kräften. Das Orchester unter Paolo Carignani spielt tadellos, klar und temperamentvoll. Für die beiden Chöre gilt das gleiche, sie sind hervorragend. Mark S. Doss hat als Mefistofele die dankbarste Rolle und füllt sie mit komödiantischer Lust aus. Annalisa Raspagliosi verleiht Gretchen eine zerbrechliche Natur - mit kräftiger Stimme. Alberto Cupido dagegen singt seinen Faust lauter und druckvoller als es seinen Fähigkeiten entspricht, will sagen: Mitunter schreit er ein wenig.

Im Bemühen, Boitos Oper aktueller erscheinen zu lassen, als sie ist, versucht Hilsdorf, sie mit allerlei Regietricks zu einer Art musiktheatralischem Diskurs über zeitgenössische Vernunftkritik zu stilisieren. Auffällig viele Orte und Motive, die in Michel Foucaults einschlägigen Überlegungen zentrale Bedeutung haben, bringt er auf die Bühne: den Anatomiesaal, das Irrenhaus, das Gefängnis, das an ein Panoptikon von Bentham erinnert, dazu treten Kinderchor und Gretchen in Zwangsjacken auf, Helena und Pantalis als Domina und Sklavin mit Hundehalsband. Doch dieser Regieaufwand wirkt letztlich ungeordnet und eher spekulativ als wirklich erhellend.

Der Mischkalkulation des Frankfurter Programms folgend, werden die Opernköche demnächst wieder ein Stück fürs kulinarische Stammpublikum auf die italophile Speisekarte setzen: "La Cenerentola" von Rossini. Die Gäste mit dem nicht so delikaten Gaumen werden es ihnen danken.

 

Süddeutsche Zeitung

10. Juni 2004

(...) Der 67. Maggio Musicale musste seine letzte Opernneuinszenierung verschieben: Nach den Meistersingern, von Chefdirigent Zubin Mehta dirigiert, und einem ebenfalls von Graham Vick inszenierten Idomeneo jetzt ein Pflichtstück für Florenz: Volo di notte (Nachtflug) und Il prigioniero (Der Gefangene) von Luigi Dallapiccola, der am 3. Februar hundert Jahre alt geworden wäre. Il prigioniero, ausnahmsweise mit Hiob gekoppelt, war Mitte Mai auch in Catania inszeniert worden, am vergangenen Sonntag brachte die wieder interessant gewordene Frankfurter Oper die fast obligate Kombination Volo di notte und Il prigioniero heraus.

(...) Der Intendant des Teatro Bellini in Catania, Piero Rattalino, setzt einen angesichts katastrophaler Finanzen erstaunlichen Spielplan durch. Dallapiccola (46 Minuten Il prigioniero, 30 Minuten Job) hatte in der kaum musikfreudigen Stadt am Ätna rauschenden Erfolg - die Aufführung unter der präzisen und spannenden Leitung von Zoltán Peskó war eine Sternstunde der Oper. Peskó hatte als sein Scala-Debüt den Ulisse dirigiert und kennt das Werk des größten italienischen Komponisten zwischen Puccini und Luigi Nono in jedem Detail. Die Musik, zwölftönig, dissonanzenreich, ist plastisch in der melodischen Erfindung, „süffig" in der Instrumentation, die zeitliche Nähe zu Puccini ist plausibel. Auch der über siebzig Jahre alte Bruno Bartoletti, Chef des Chicagoer Symphony Orchestra, kennt seinen Dallapiccola und dirigierte in Florenz emphatischer, pathetischer, weniger analytisch. Gegenüber beiden blieb der achtbare Martyn Brabbins in Frankfurt deutlich zurück.

(...) Das schönste Bühnenbild ist zweifelsohne das in Frankfurt: Kaspar Glarner hat für Keith Warners Regie eine sich drehende Zimmerflucht gebaut, durch die der Gefangene (Lucio Gallo) im Kreis flieht, nur um wieder anzukommen, wo er schon war. Der letzte Raum aber ist das Krematorium. Eine Leichenbahre ist noch frei, die Feuertür öffnet sich verheißungsvoll. (...)

DIETMAR POLACZEK

 

nmz
Juli/Aug. 2004/07 | 53. Jahrgang | Seite 44

An den Scheidelinien des Humanismus
Die Oper Frankfurt erinnerte an frühe Opern von Dallapiccola: „Volo di notte" und „Il Prigioniero"

Gabriele d’Annunzios dröhnender, technikbesessener Poeten-Aktionismus markierte die Anfänge des italienischen Faschismus, Luigi Dallapiccolas Oper „Volo di notte" („Nachtflug", uraufgeführt 1940 in Florenz) dessen Endphase. Nur verhalten noch und wie contre cśur werden hier männliche Tugenden gefeiert. Das Abenteuer des Nachtflugs wirkt als existenzielle Metapher zudem doppeldeutig: Sphäre des von physikalischen und moralischen Gravitationen befreiten heldischen Menschen und zugleich Chiffre für Hybris, Scheitern, Tod.


Nachtflug-Landschaft: das Bühnenbild zu „Volo di notte" an der Frankfurter Oper.
Foto: Charlotte Oswald

Der italienische Komponist schrieb sein Libretto nach einem Roman von Antoine de Saint-Exupéry, dem passionierten Flieger, dessen Śuvre nach 1945 dem Erbe des Humanismus zugeschlagen wurde. Gleiches bedeutete auch der internationale Erfolg des Dallapiccola-Werkes. Unmissverständlich erwies sich die geistige Verortung des Komponisten dann mit der Oper „Il Prigioniero" („Der Gefangene", 1949), einer szenischen Reflexion über die Gewaltsysteme der letzten Jahrhundertmitte, die in den Jahrzehnten nach ihrer Entstehung freilich vor allem antikommunistisch instrumentalisiert werden konnte. Die beiden stattlichen, mit ihrem Ausdrucksgestus und den musikalischen Mitteln ins Große zielenden Einakter wurden an der Oper Frankfurt kombiniert in einer präsentablen, ansprechenden Inszenierung von Keith Warner.

Die Partitur des „Volo di notte" beginnt und endet mit hellen, luftigen, schwebenden Klängen, gewinnt nach der Mitte zu Schicksalsschwere, expressive Wucht und dissonante Rabiatheit.

Landschaftsmusikalischer Impressionismus spielt reichlich hinein, dagegen gibt es aber kaum heroische Tönungen. Im Zentrum des Stückes steht der Dialog zwischen der Frau und dem Direktor der Fluggesellschaft, der angstvoll um das Schicksal des Verschollenen Bangenden und dem skrupellosen Funktionär der Macht. Die Gewichtung der Szene zeigt, wie Dallapiccola wirklich über die „Kosten" des Heldentums denkt. Vorherrschend sind die lyrischen, schmerzvollen Intensitäten auch bei der vokalen Diktion, die den Stimmen eine zwar ausgreifende, aber niemals schroff aufgebrochene Kantabilität gönnt. Die insgesamt schneidendere, auch kleinmotivischer-polyphon gebaute „Prigioniero"-Musik gewinnt ihr besonderes Raffinement dadurch, dass der Kerkermeister als Repräsentant der Macht durchweg sanft und schmeichlerisch gezeichnet ist, vor allem mit der leitmotivischen Floskel „fratello" („Brüderchen"), die sich wie ein Ohrwurm einprägt. Sie ist das Zeichen einer spezifischen Art von Folter, die beim Opfer Vertrauen und trügerische Hoffnung erweckt.

Die Pervertierung von „Brüderlichkeit" könnte auch als Anspielung auf die verdorbenen Werte der Französischen Revolution verstanden werden. Dallapiccola, auch hier (wie noch in seinem späten, zwölftönigen Meisterwerk „Ulisse", 1969) sein eigener Librettist, verkleidete die Aktualität seines Stoffes mit einer auf Charles de Coster zurückgehenden Episode aus dem Imperium Philipps II., in der die Schergen der Heiligen Inquisition die Rolle des Repressionsapparats innehaben. Die beiden relativ großformatigen, auch Chorklang einbeziehenden Opern heben sich von den skrupulösen, skelettierten, überwiegend kammermusikalischen (gleichwohl oft von Vokalität inspirierten) Spätwerken Dallapiccolas auch durch ein unspezifischeres, unbedenklicheres Schwanken zwischen Tonalität und Atonalität, Mitteilsamkeit und Verschlossenheit, ab.

Das korrespondiert mit den „altmodischen" Zügen, die den auf sympathische Weise verunsicherten, im luftleeren Raum treibenden Humanismus Dallapiccolas hier grundieren. Ein vergleichbarer deutscher Komponist wäre Karl Amadeus Hartmann insbesondere mit seinem „Simplicius Simplicissimus", der derzeit wieder an der Oper Stuttgart zu erleben ist.

Die vielumjubelte Frankfurter Aufführung unterstrich szenisch das Altmodische, aber auch den Drive der zum „Prigioniero" führenden Entwicklung. Kaspar Glarners Bühnenbild baute die imposante Kulisse einer pionierhaften Flugstation in der südamerikanischen Pampa vor einem gewitterschweren Fjordprospekt; eine Atmosphäre zunehmender Beunruhigung hielt die Drehbühne in unaufhörlicher Bewegung. Vielleicht um eine Spur zu fingerzeigerisch die monströse Vergrößerung des Bürokratenschreibtischs am Ende. Der Mann, der das ihm anvertraute „Menschenmaterial" (die Piloten) bedenkenlos in den Tod schickt, wird in dieser Sicht schonungslos demaskiert. Zeljko Lucic imaginiert ihn, mit voluminöser Stimmsubstanz, auf der Scheidelinie zwischen autoritärer Selbstherrlichkeit und psychopathischer Getriebenheit. Als Frau vehement: Taina Piira. Charaktervolle Erzählung des Funkers: Peter Bronder.


Das Bühnenbild zu „Il prigioniero" an der Frankfurter Oper.
Foto: Charlotte Oswald

Den weiten Horizonten des „Volo" war die Enge des Gefängnisstückes scharf entgegengesetzt: kleine Räume, überwiegend grell ausgeleuchtet, zwischen denen der Eingesperrte in seiner illusionären Befreiungshoffnung hin- und her irrte bis zum Ende in einem Verlies, in dem sich ein Tod signalisierender Verbrennungsofen öffnete. Zuvor hatte er auf seiner vom Kerkermeister observierten Wanderschaft auch die vermeintliche Freiheit der „Nachtflug"-Landschaft erreicht, deren glazialer Rückprospekt vor seinen Augen krachend zusammenbricht. Aus einer Gondel hoch über der Bühne kommentiert der Machthaber höhnisch die Desillusion und die anstehende Exekution des Delinquenten. Auf historisierendes Kolorit wurde nahezu verzichtet. Mit der trügerischen Sanftmut eines zum Tode verführenden schwarzen Engels glitt der Tenor Stuart Skelton als Machtagent durch die Bilder, niemals seinen lyrischen Schmelz ins Brutale ziehend, wie er denn auch auf jegliche Anwendung von körperlicher Gewalt verzichtete. Der Gefangene, namenlose Inkarnation der Erniedrigung, des Aufbegehrens und der unzerstörbaren Hoffnung, wurde von dem markanten Bariton Lucio Gallo mit allen Facetten expressiver Eindringlichkeit wiedergegeben. Den Prolog der Mutter gab wiederum Taina Piira mit aufblühendem Duktus.

Dallapiccolas Musik ist auch in ihren dramatischsten Färbungen kaum mehr als schockierend wahrnehmbar, oft geradezu ein samtener, gepolsterter Klangteppich oder ein fein ausziseliertes Gewebe. So mutete auch das Dirigat von Martyn Brabbins nie brachial oder martialisch an, vielmehr in vielerlei Nuancen abgestuft, hellhörig disponiert, mit dramatischem Spürsinn verdichtet und gesteigert. Neben den zahlreichen Vokalsolisten agierten der Chor (einstudiert von Alessandro Zuppardo) und das Museumsorchester in lebhafter Klangsicherheit und Wohlproportioniertheit.

Hans-Klaus Jungheinrich

 

Giessener Anzeiger
9. Juni 2004

(...) Politische Stücke, hat der britische Regisseur Keith Warner einst bekannt, seien für ihn die beiden Operneinakter Volo di notte und Il prigioniero von Luigi Dallapiccola nicht. Sie handeln für sein Verständnis von nichts geringerem als der "Beziehung des Menschen zum Kosmos", seien spirituelle Werke einer modernen Analyse des Himmels und der Hölle. Diesen radikalen Ansatz hat nun Warner für die Oper Frankfurt bühnenwirksam umgesetzt. In seiner aktuellen Inszenierung der beiden Stücke wirft er einen unbarmherzigen Blick in die Innenwelten menschlicher Existenzen. Die umjubelte Premiere war am Sonntag. (...)

Der Nachtflug (Volo di notte) kreist bei Warner, der nicht erst seit seiner noch aktuellen Bayreuther Lohengrin Inszenierung zu den bedeutendsten britischen Regisseuren zählt, um eine latente Schuldfrage. Hat Rivière (stimmgewaltig und mit beeindruckender Schwärze Željko Lučić) das Recht, seine Piloten in Gefahr zu bringen? Hat allein der Fortschritt Bedeutung? Ist der Tod des Einzelnen als Opfer für diesen Fortschritt noch tolerabel? Auf der anderen Seite thematisiert er in Il prigioniero die Hoffnung auf Freiheit des zum Tode verurteilten Gefangenen als letzte zu erleidende Qual vor dessen Tod.

Es sind beklemmende, schlüssige Chiffren, die Warner und Glarner für ihre Frankfurter Inszenierung entwickelt haben, (...). Bilder, die den Atem stocken und schaudern lassen.

Mit dem Engländer Martyn Brabbins stand ein Spezialist neuerer Musik am Pult, der auch klanglich auf die zartesten Regungen der Protagonisten einging: Das Museumsorchester wirkte noch klarer als sonst, feinfühlig, zurückhaltend und bei aller Kühlheit dennoch hochgradig emotional. Lucio Gallo, der den Gefangenen bereits 1996 am Teatro del Maggio Musicale Fiorentino und bei den Salzburger Festspielen unter Zubin Metha sowie am Théâtre Royal de la Monnaie in Brüssel dargestellt hat, war unterdessen der große und gefeierte Star des Abends. Stimmlich und mimisch ohne Tadel ließ er die Flucht in den Tod zu einem anrühenden und packenden Erlebnis werden, die dieser Produktion trotz mancher Verkopftheit des interpretatorischen Ansatzes zum Status einer wirklich großartigen und sehenswerten Produktion verhilft.

Christian Rupp

 

FINANCIAL TIMES
Jun 08, 2004

Opera: Volo di Notte/Il Prigioniero
By Shirley Apthorp

An ostensibly benign nation, claiming to act in the name of Christianity, tortures a prisoner. And the aviation industry, bent on profit and progress, compromises on safety issues. Luigi Dallapiccola's two one-act operas, Volo di notte (Night Flight, 1940) and Il prigioniero (The Prisoner, 1949), are screamingly topical.

The Frankfurt Opera's new production opened just two days before the Maggio Musicale's in Florence; Catania's Teatro Bellini staged Il prigioniero last month though none of these houses could have known what was looming in Iraq. It's to Keith Warner's credit that his Frankfurt staging avoids overt references to contemporary politics. Il prigioniero draws from the texts of Philippe Villiers de I'lsle-Adam and Charles De Coster, and plays at the time of the Spanish Inquisition.

But it's equally about the imprisonment of the spirit. Warner chases his prisoner through the flimsy white rooms of his mind, neon nightmares leading ineluctably to the crematorium oven. We squint in the glare and taste the anguish as illusion gives way to despair. Lucio Gallo, in the title role, brings a human dimension to the surreal setting, his rich, intelligent baritone showing us precisely where Puccini intersects with Berio.

Taina Piira recalls earthy Verdi as his mother; Stuart Skelton finds evil shadows in his Heldentenor timbre for the role of Gaoler/Grand Inquisitor. Conductor Martyn Brabbins and the Frankfurt Museum Orchestra fare better with the bold blocks of sound and structured repetitions of the later work than in Volo di notte, where Puccini's influence can be more strongly felt.

Warner's staging here, again dominated by Kaspar Glarner's psychologically profound sets, pays slavish tribute to Antoine de Saint-Exupery’s novel. His literalism weakens his case. With its slow descending scales and dark echoes of things to come, the work deserves more complex handling. But the two pieces, pessimistic visions of heaven and hell, fit beautifully together.