Darmstädter Echo
20. Oktober 2004

„Mahagonny" mitten unter uns
Porträt und Ausblick: Der Regisseur Philipp Kochheim und seine Sicht auf Brecht/Weills Oper – Premiere am Freitag (22.)

Von Heinz Zietsch

DARMSTADT. Mit Opern hatte Philipp Kochheim zunächst nichts im Sinn. Verband er doch damit vor allem disproportionierte Darsteller im Stile von „dicker Sänger liebt dicke Sängerin", wie er sich ausdrückt. Regieführen wollte er schon, nur eben nicht im Musiktheater, obwohl die Musik für ihn, der seit seinem siebten Lebensjahr Klavier spielt, bis heute immer wichtig geblieben ist. Der am 4. Dezember 1970 in Hamburg geborene Kochheim war als Jugendlicher vor allem von den Inszenierungen Peter Zadeks begeistert, die sein Interesse am Schauspiel und die Lust am Theater weckten.

Wie aber wurde aus dem Saulus, dem Opernverächter, ein Paulus, ein Opernliebhaber? Zunächst studierte Kochheim Kunstgeschichte in München – dazu als Nebenfächer Theater- und Literaturwissenschaft. Seine Studien schloss er 1995 mit der Magisterarbeit über „Strategien zur Rezeption des Grauens in der Nachkriegsmalerei" ab. Noch während der Münchner Studienzeit hatte er in der Spielzeit 1992/93 sein Sauluserlebnis, als er in einer Aufführung von Verdis „Maskenball" erstmals die „Macht und das Kraftwerk der Gefühle" in der Oper erlebte. Das hätte seine Einstellung zum Musiktheater gewandelt. Nunmehr neugierig geworden, hospitierte er am Theater in Augsburg und lernte dort John Dew kennen, der ihn schon damals für seine ersten Wiener Inszenierungen als Assistenten mitnahm, bevor er ihn zwischen 1995 und 2000 als Assistenten am Theater in Dortmund engagierte. Dort hat Kochheim auch Schauspiele inszeniert, eigene Stücke (darunter eines über Tschaikowsky) und das Libretto zu Rosenfelds Oper „Kniefall in Warschau" geschrieben, die 1997 in Dortmund in Dews Regie uraufgeführt wurde.

Als freier Regisseur hat Kochheim dann viel in Heidelberg, Pforzheim und in Norddeutschland inszeniert. Der Durchbruch sei ihm 2001 mit Mozarts „Cosí fan tutte" in Heidelberg gelungen, die in der Zeitschrift „Opernwelt" zur Inszenierung des Jahres gekürt wurde. Erst jüngst wurde Kochheim, den der Darmstädter Intendant John Dew zu den begabtesten jungen Regietalenten zählt, in Berlin mit dem Götz-Friedrich-Preis für Nachwuchsregisseure ausgezeichnet. Für Furore sorgte Kochheim, als er Anfang des Jahres in Wilhelmshaven Becketts Vier-Männer-Stück „Warten auf Godot" mit zwei Paaren (jeweils Mann und Frau) besetzen wollte, was der Verlag aber verboten hatte, weil Beckett es untersagt hatte, das Stück mit Frauen zu besetzen. So gab es eine Lesung im gemischten Doppel.

Für Kochheim bedeutet Regie mehr, als nur die Geschichte, die Handlung eines Theaterstücks nachzuerzählen. „Ich suche in den Stücken, die ich inszeniere", erklärt er in einem Gespräch, „eine konzeptuelle Klammer. Ich möchte aus dem Stück heraus neue Perspektiven entwickeln und nicht das, was mich privat interessiert. Ich kann es nicht ausstehen, wenn ein Regisseur seine privaten Obsessionen umzusetzen versucht." In dieser Spielzeit inszeniert Kochheim drei Opern am Staatstheater Darmstadt: Brecht/Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny", die am Freitag (22.) im Kleinen Haus Premiere haben wird, danach Rossinis „Barbier von Sevilla" (Premiere am 10. Dezember) und Verdis „La traviata" (25. Februar 2005). „Ich hoffe", sagt Kochheim dazu, „dass der Zuschauer die drei Stücke von mir so wahrnehmen wird, als seien sie von drei verschiedenen Regisseuren inszeniert worden". Und ergänzend dazu bemerkt er: „Ich habe mich nie darum gekümmert, einen Personalstil zu entwickeln."

So hat ihn natürlich die Stilvielfalt in „Mahagonny" besonders gereizt. Kochheim sieht in dieser 1930 in Leipzig uraufgeführten Oper ein Stück, das bereits auf die Postmoderne unserer Tage vorausweise. Vor allem belege Weill mit seiner Mischung aus Songstil, barocker und traditioneller Oper, madrigalartigen Chören sowie den vielen Zitaten, dass alles möglich sei. Das passe natürlich bestens zum Inhalt des Brecht-Textes, der eine negative Utopie ausgebreitet habe, indem er von einem Paradies berichte, in dem alles möglich sei – vorausgesetzt, man habe das Geld und könne bezahlen. Wir befänden uns bereits heute in einer Zeit, in der wir über alles verfügen können; Mahagonny habe sich heute längst materialisiert und sei mitten unter uns, erklärt der Regisseur.

Deshalb lässt Kochheim „Mahagonny" in unserer Zeit spielen. Man müsse die Strategien Brechts auf die Gegenwart übertragen. Die Menschen bewegen sich auf einem campusartigen Gelände. Die elektronisch-künstliche Welt von Cyberspace sei gar nicht so weit weg, meint Regisseur, der dem Zuschauer einen Raum der grenzenlosen Möglichkeiten ins Bewusstsein bringen möchte. Im Grunde genommen ist für Kochheim Mahagonny ein Männertraum. Eine Nostalgie-Revue ist mit „Mahagonny" in Darmstadt allerdings nicht zu erwarten. Die andere Sicht auf das Stück soll aber den Zuschauer, so hofft der Regisseur, auf geistreiche Weise unterhalten.

Die Premiere von „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" ist am Freitag (22., Lilien-Abo) um 19.30 Uhr im Kleinen Haus des Staatstheaters Darmstadt. Philipp Kochheim inszeniert, das Bühnenbild stammt von Thomas Gruber, und Bernhard Hülfenhaus hat die Kostüme entworfen. Raoul Grüneis wird die mit Pause laut Kochheim etwa zweieinviertel Stunden dauernde Oper dirigieren. Eine etwas andere Besetzung ist am Sonntag (24., Abo Löwen-M) zu erleben.

Philipp Kochheim
Philipp Kochheim
1970 geboren in Hamburg - 1995 Magister der Kunstgeschichte - 1995-2000 Assistent von John Dew, mit ihm u.a. an der Wiener Staatsoper

1997 Inszenierung von Gogols "Tagebuch Eines Wahnsinnigen" am Dortmunder Schauspiel

1998 Inszenierung eines eigenen Stücks "C.Q.D." am Dortmunder Schauspiel

1999 Uraufführung von Alexander Goehrs Opern-Triptychon "No-Opern" an der Dortmunder Oper

2000 Inszenierung "The Black Rider" am Stadttheater Wilhelmshaven

2001 Inszenierung von Mozarts "Così fan tutte" am Theater Heidelberg

2001 Uraufführung von Erkki-Sven Tüürs "Wallenberg" an der Dortmunder Oper

2001 Inszenierung von Purcells "Dido and Aeneas" an der Dortmunder Oper

2001 Inszenierung von Max v.Schillings "Mona Lisa" am Theater Heidelberg

2001 Inszenierung von Middleton/Rowleys "Changeling" am Stadttheater Wilhelmshaven

2002 Inszenierung von Smetanas "Die verkaufte Braut" am Theater Heidelberg

2002 Inszenierung von Jacques Halevys "Der Blitz" an der Hamburger Kammeroper

2002 Inszenierung von Massenets "Werther" am Theater Bielefeld

2002 Inszenierung von Reimanns "Gespenstersonate" am Theater Heidelberg

2002 Inszenierung und Bühnenbild der Uraufführung von Kverndokks "Gefährliche Liebschaften" am Stadttheater Pforzheim

2003 Uraufführung eines eigenen Stücks "Tschaikowsky" in Wilhelmshaven

2003 Inszenierung von Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen" am Oldenburgischen Staatstheater

2003 Inszenierung von Wagners "Tannhäuser" am Theater Heidelberg

2004 Verbot der Wilhelmshavener "Warten Auf Godot" - Inszenierung wegen der Besetzung von Estragon und Lucky mit Frauen

ab 2004/2005 Oberspielleiter der Oper am Staatstheater Darmstadt

In der Spielzeit 2004/2005: Verdis "La traviata" in Darmstadt, Tschaikowskys "Pique Dame" in Heidelberg, Rossinis "Barbiere di Siviglia" in Darmstadt, Donizettis "L'elisir d'amore" in Oldenburg und Weills "Mahagonny" in Darmstadt.

 

DA facto
21. Oktober 2004

Premiere am 22./24. Oktober im Staatstheater Darmstadt
Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny"

Mit der Aufführung von "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" (Kurt Weill/Bertolt Brecht), klinkt sich das Staatstheater Darmstadt in die Diskussion ein, ob Brechts Entwurf eines epischen Theaters heute noch aktuell ist und man ein Stück wie dieses überhaupt noch verstehen kann.


In der Netzestadt, wie Mahagonny genannt wird, zählt nur, wer Geld hat.

Das Mahagonny-Projekt stand mehrere Jahre im Zentrum der Zusammenarbeit von Kurt Weill und Bertolt Brecht. Zunächst entstand für Baden-Baden ein Songspiel unter dem Titel Mahagonny, das im Sommer 1927 uraufgeführt wurde.

Von 1927 bis 1929 arbeiteten Weill und Brecht den Stoff des Songspiels schließlich zu einer neuartigen „epischen" Oper unter dem Titel Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny zu einem satirischen und desillusionierenden Gegenentwurf aus. Damit sollte das abgenutzte Genre der Oper erneuert werden sollte.

1930 fand in Leipzig die Uraufführung dieser negativen Utopie einer kapitalistischen Gesellschaft statt und wurde zum Eklat: Die Deutschnationale Volkspartei im Theaterausschuss der Stadt beantragte das Verbot, worauf die zweite Vorstellung abgesetzt wurde. Derweil hatte der Songstil Weills aber bereits die Schlager- und Filmindustrie sowie die Kabaretts erobert.

„Darum laßt uns hier eine Stadt gründen und sie nennen Mahagonny, das heißt: Netzestadt!" Die Idee klingt nicht schlecht: eine Paradies-Stadt, in der alle Bedürfnisse erfüllt werden und man ein beschauliches, idyllisches Leben führen kann. Aber bald herrscht Unzufriedenheit unter den Einwohnern der neu gegründeten Stadt und die Preise sinken. Ein Taifun, der die Stadt bedroht, inspiriert ein neues Gesetz: Du darfst alles! Der Taifun biegt ab. Die Stadt blüht auf. Die Bedürfnisse steigen – und mit ihnen die Preise. Denn: Man darf zwar alles – aber nur, wenn man es bezahlen kann! Jim Mahoney, der selbst das Gesetz eingeführt hat, wird, als ihm das Geld ausgeht, zum Tode verurteilt. Seine Hinrichtung wird zum Anlass einer riesigen Demonstration gegen die Teuerung.

Oberspielleiter Philipp Kochheim, der die Oper am Staatstheater Darmstadt inszeniert hat, findet, dass das Werk eine außergewöhnliche Aktualität entfaltet und sich frappierende Parallelen zur Jetztzeit auftun.

Der Weg von der „Netzestadt" zum Klammergriff der virtuellen Vernetzung ist nicht weit, und die Welt, in der wirtschaftliche Interessen und Größenwahn regieren, ist noch lange nicht aus der Mode gekommen. Außerdem ergeben sich erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen Brechts Utopie einer kapitalistischen Gesellschaft und dem Amerika-Bild unserer Zeit. Dabei ist die Oper bei aller Kritik, die sie übt, außerordentlich unterhaltsam und garantiert mit Nummern wie dem Alabama-Song einen kernigen Opernabend.