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24. Februar 2005

Oper Frankfurt
"L’Orfeo" von Claudio Monteverdi

Die Aufführung von Peris Euridice im Oktober 1600 gilt als offizielle „Geburtsstunde" der Oper. Erst sieben Jahre später erschien L’Orfeo von Claudio Monteverdi (1567-1643) auf der Bühne: Es war also keineswegs die erste Oper, dennoch nimmt die „favola in musica" einen ganz besonderen Platz in der Operngeschichte ein.

Giorgio Caoduro (Orfeo)Monteverdi vereint als erster Musikdramatiker in seinem Orfeo Text, Gesang und Instrumentalmusik zu einer glaubhaften musikalisch-theatralischen Form, deren dramatische Kraft in der Operngeschichte nur selten erreicht wurde.

Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hat sich in Florenz ein Kreis aus Literaten, Musikern und adligen Mäzenen zusammengetan. Die "Florentiner Camerata" – so nannten sie sich – wollte zunächst "nur" über die Wiederbelebung der antiken Tragödie nachdenken. Dabei sei aber – so schien es – eine neue Gattung, die Oper, herausgekommen: Die Aufführung von Jacopo Peris Euridice im Oktober 1607 gilt als offizielle "Geburtsstunde" der Oper. (Eine Geburt, die keineswegs so glatt verlief, wie es häufig dargestellt wird.)

Erst sieben Jahre später erschien Monteverdis L’Orfeo auf der Bühne: Es war also keineswegs die erste Oper, dennoch nimmt die "favola in musica" einen ganz besonderen Platz in der Operngeschichte ein. Obwohl L’Orfeo noch in vielerlei Hinsicht den Experimenten der Florentiner Komponisten verpflichtet ist, ging Monteverdi über die Florentiner Ideen mit einem entscheidenden Schritt hinaus: Er verband die Hirtenmadrigale mit dem neuen Rezitativstil zu einer verblüffend modernen musiktheatralischen Mischform.

Auch die Auswahl des mythologischen Stoffes, die Geschichte von Orpheus, dem Sohn des Musengottes Apollo, und seiner verstorbenen Geliebten, Eurydike, erwies sich als ideal: Orpheus, der auf der Suche nach Eurydike mit seiner Musik sogar die Furien der Unterwelt besänftigen konnte, wurde von einem singend-deklamierenden Solisten dargestellt.

Arlene Rolph (Messagiera)Die musikalische Leitung dieser Neuinszenierung liegt bei Generalmusikdirektor Paolo Carignani, der in dieser Spielzeit neben seinen weiteren Frankfurter Aufgaben als Gast in Zürich, Brüssel, Tokyo und Berlin dirigiert. Mit ihm alterniert am Pult Studienleiter Felice Venanzoni, der erst kürzlich mit der Wiederaufnahme von Monteverdis L’incoronazione di Poppea sein Frankfurter Hausdebüt als Dirigent gab. Regisseur David Hermann, ausgebildet an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler" in Berlin, arbeitete als Assistent von Hans Neuenfels. In Berlin inszenierte er u.a. Amorte I-III in der Kulturbrauerei und essen und sterben an der Neuköllner Oper, gefolgt von Birtwistles Punch and Judy und Bussottis La Passion selon Sade an der Oper Bonn sowie Mozarts Ascanio in Alba am Nationaltheater Mannheim.

Konstanze Schlaud (Euridice)Der junge deutsche Bariton Christian Gerhaher (Orfeo) hat seit 1998 zusammen mit seinem ständigen Klavierbegleiter Gerold Huber Maßstäbe vor allem auf dem Gebiet der Liedinterpretation mit Auftritten in allen internationalen Musikzentren gesetzt. Seine CD-Einspielungen erhielten zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Echo Klassik 2002 und 2004. Auftritte auf der Opernbühne runden seine Tätigkeit ab. Mit ihm alterniert in der Titelrolle der Italiener Giorgio Caoduro, der in Frankfurt kürzlich als Dandini in Rossinis La Cenerentola debütierte. Weitere Gäste in Hauptpartien dieser Produktion sind u.a. Konstanze Schlaud (Euridice) vom Staatstheater Darmstadt und Arlene Rolph (Messagiera / Speranza) von der Welsh National Opera Cardiff. Mitglieder des Ensembles der Oper Frankfurt komplettieren die Besetzung.

 

Frankfurter Neue Presse
8. März 2005

Orpheus auf dem Drogentrip
Am 13. März hat mit "L’Orfeo" von Claudio Monteverdi eine weitere Barockoper in Frankfurt im Bockenheimer Depot Premiere.

Von Birgit Popp

Nachdem mit "L’incoronazione di Poppea" (Die Krönung der Poppea) aus dem Jahr 1642 die jüngste der drei erhaltenen von mindestens zwölf Opern Monteverdis bereits im November 2000 an der Frankfurter Oper in Szene gesetzt wurde, ist es nun seine erste, 1607 am Hofe des Herzogs von Mantua uraufgeführte Oper "L’Orfeo" (Orpheus). Mit "Il ritorno d’Ullisse in patria" (Die Rückkehr des Udysseus in die Heimat, 1640) soll in der übernächsten Spielzeit ebenfalls mit Paolo Carignani als musikalischem Leiter und David Hermann als Regisseur die dritte seiner erhaltenen Opern zur Aufführung kommen.

Monteverdi, der 1567 in Cremona geboren wurde und 1643 in Venedig starb, nannte sein Werk "Favola in musica", ein "musikalisches Märchen". Bei der Wahl seines Stoffes griff er gemeinsam mit seinem Librettisten Alessandro Stiggio auf ein Stück der antiken Mythologie zurück, wie es in seiner Zeit üblich war und den Ideen der florentinischen Musikreformer entsprach. Die Geschichte handelt von dem Sängers Orpheus, der seine geliebte Ehefrau Euridice/Eurydike durch einen Schlangenbiss verliert, mit seiner Musik den Hadeswächter Caronte/Charon einschläfert und am Ende den Unterweltfürsten Plutone/Pluto überreden kann, ihm Eurydike zurückzugeben. Allerdings wird ihm dieser Wunsch nur unter der Bedingung bewilligt, dass er sich, bis er mit seiner Frau ans Tageslicht zurückgelangt, nicht nach ihr umdreht. Orpheus kann nicht widerstehen, er blickt sich um, als er fürchtet, die Furien könnten seiner Frau etwas antun, und verliert Eurydike damit endgültig.

Claudio Monterverdi gelang es, die Hirtenmadrigale mit dem damals neuen Rezitativstil zu verbinden und als erster Musikdramatiker in seinem "Orfeo" Text, Gesang und Instrumentalmusik zu einer glaubhaften musikalisch-theatralischen Form zu vereinen. Und so gilt Monteverdi, der Violine, Orgel und Komposition studierte und bis 1612 als Sänger, Violaspieler, Komponist und später Kapellmeister am Hof des Herzogs von Mantua wirkte, bevor er 1613 Kapellmeister der St.-Markus-Kirche in Venedig wurde, als bedeutendster Musiktheater-Komponist des 17. Jahrhunderts. Seine Werke bieten eine Ausdrucksdichte und ästhetische Qualität wie erst rund 100 Jahre nach ihm wieder. Besonders sein "Orfeo" erreichte dank seiner außergewöhnlichen musikalischen und dramatischen Konzeption und seiner sorgfältig komponierten Musik eine in der Operngeschichte seltene Perfektion. Als erster Komponist gab Monteverdi dem Ausdruck von Gefühlen höchste Priorität und berührt damit bis heute die Herzen der Zuhörer.

Für Frankfurts Generalmusikdirektor Paolo Carignani ist die Umsetzung ein besonderes Anliegen. "Durch mein Studium als Organist habe ich einen besonderen Bezug zur Barockmusik und freue mich daher besonders auf ‚Orfeo’ als Teil eines langfristig angelegten Barockprojektes. Den speziellen farbenreichen Klang der Monteverdi-Orchester-Besetzung erarbeiten wir sowohl mit unseren eigenen Streichern, die auf – teilweise – modernen Instrumenten mit Darmsaiten und Barockbögen spielen, als auch mit Gästen auf historischen Instrumenten. Es sind nicht nur das Non-Vibrato-Spiel und die typischen Verzierungen, die die Musik prägen. Gerade auch bei der Arbeit mit den Sängern lege ich besonderen Wert auf die genaue Einhaltung des synkopischen Rhythmus, denn er lässt den Text und die Musik so lebendig werden." Durch die Synkopen (Verschiebung der Betonung innerhalb eines Taktes) wird eine vorwärtstreibende Spannung im Stück erzeugt.

Während Carignani bei seiner ersten Einstudierung einer Barock-Oper großen Wert auf die Authentizität des Klanges legt, denkt Regisseur David Hermann eher an eine Verfremdung des Stoffes. Der Absolvent der Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin und frühere Assistent von Hans Neuenfels, sieht in "Orfeo" die Geschichte von "dem extremen Künstler, der durch Leiden zur genialen Kunst kommt. Extrem begabt für die Kunst, nicht geeignet für das Leben. Sein Leben ist Leiden, seine Kunst ist Leiden, seine Liebe ist Leiden. Es ist der tragische Weg eines Hypersensiblen, Einsamen, der mit der Sonne kommuniziert, den alle bewundern und beneiden, lieben und hassen, weil sie ihn lieben. Auserwählt und ausgeschlossen. Von der Kunst geküsst, und vom Leben verflucht. Orfeo zwischen den Extremen." Hermann will seinen Orpheus als drogensüchtigen Musiker darstellen, der die Reise in die Unterwelt nur in seinem Kopf während eines Drogentrips erlebt. Das Motiv des umgetriebenen Künstlers verarbeitete auch der Münchner Regisseur Helmut Dietl in seinem jüngsten Kinofilm "Vom Suchen und Finden der Liebe". Orpheus ist darin ein Schlagerkomponist, Eurydike eine Sängerin.

 

Frankfurter Allgemein Zeitung
9. März 2005

Die Fans drehen durch
"Oper extra" zu Claudio Monteverdis "L'Orfeo" im Bockenheimer Depot

Die Titelfigur der Oper "L'Orfeo" von Claudio Monteverdi wird in der Inszenierung von David Hermann, die als Produktion der Oper Frankfurt am Sonntag um 20 Uhr im Bockenheimer Depot Premiere hat, als extremer Künstler zu sehen sein. Der mythische Sänger wird demnach durch sein Leid zu großartiger Musik inspiriert. Orpheus lebe ganz für seine Musik, sei "verschlossen, depressiv, hypersensibel und hochbegabt, aber nicht begabt zum normalen Leben". Der Tod seiner Geliebten Euridice führe ihn in einen "kreativen Wahnsinn", erläuterte der junge Regisseur gestern bei der Einführungsmatinee "Oper extra". In diesem Zustand glaube er, Euridice mittels seiner Kunst "aus der Unterwelt herausholen" zu können.

Die in dem Stück vorkommenden Hirten sollen in Hermanns Inszenierung als Orfeos "Fans" gezeigt werden, als unbedeutsame Menschen ohne Charakter und Charisma, die ihr Idol bewundern wegen der Eigenschaften, die ihnen fehlen. Wie man es von richtigen Fans kenne, könnten sie aber auch "durchdrehen", sagte Hermann. So haßten sie etwa Euridice, weil sie von Orfeo mehr Aufmerksamkeit bekomme. Bei Hermann beschließen die Hirten oder Fans, ihrem Vorbild die Szenen in der Unterwelt vorzuspielen. Orfeo nimmt ihr Spiel als "Subjektivist" indes für bare Münze.

Die Musik soll in der ganzen Produktion jedoch im Mittelpunkt stehen, führte der Bühnen- und Kostümbildner Christof Hetzer aus: "Wir wollten die Geschichte nicht mit unseren Bildern zupflastern." Vielmehr sei alles so angelegt, "daß sich der Zuschauer selbst etwas vorstellen kann". Der Orpheus-Mythos habe schon immer als "Projektionsfläche" gedient. Monteverdi sei es dabei gelungen, aus sehr heterogenen Quellen ein Stück in "dramaturgisch exzellenter Form" herzustellen, äußerte der Dramaturg Zsolt Horpacsy. Die Uraufführung des Werks, das als erste Oper der Musikgeschichte gilt, sei am Hof in Mantua am 22. Februar 1607 auch eine "Machtdemonstration" gewesen. Die Sänger waren höfische Angestellte und zugleich auch als Instrumentalisten tätig.

Die Besetzung des Orchesters ist aus der Partitur ersichtlich, die sogar als Faksimile vorliegt. Viele Freiheiten bleiben allerdings im Einzelfall bei der Continuogruppe, vor allem bei der Begleitung der rezitativischen Teile. Laut Generalmusikdirektor Paolo Carignani, der in Frankfurt seine erste Barockoper leiten wird, wurde der gewünschte Klang während der Proben beispielsweise so abgestimmt: "Hier klingt das Cello zu schwer, wir brauchen ein Theorbe."

Das Orchester wird insgesamt mit 25 Musikern besetzt sein, mit spezialisierten Gästen auf historischen Instrumenten und mit Streichern des Museumsorchesters, die Darmsaiten auf ihre Instrumente spannen. Der Chor besteht aus 15 Mitgliedern des Konzertchors Darmstadt. Die sehr umfangreiche und anstrengende Titelpartie ist alternierend mit dem deutschen Bariton Christian Gerhaher und dem Italiener Giorgio Caoduro besetzt. Caoduro, Konstanze Schlaud (Sopran), Arlene Rolph (Mezzosopran), Toshinori Osaki (Theorbe) und Wiebke Weidanz (Cembalo) umrahmten die Veranstaltung mit Musik von Monteverdi.

GUIDO HOLZE

 

Frankfurter Rundschau
9. März 2005

"L'Orfeo hat alles, was Menschen bewegt"
Christian Gerhaher über die Monteverdi-Oper, die im Bockenheimer Depot zu sehen sein wird, über Vorurteile gegen Liedsänger und musikalisches Wunschdenken

Christian Gerhaher
"Liedsdnger, heißt es, fallen bei jedem Windhauch um": Dagegen wird nun in Frankfurt der vor allem als Liedsdnger bekannte Christian Gerhaher der Super-Sänger Orpheus sein.

Frankfurter Rundschau: Herr Gerhaher, Sie sind ein gutes Beispiel dafür, wie die CD-Branche die Wahrnehmung beeinflussen kann. Auf CD sind Sie fast nur als Liedsänger vertreten, wurden als solcher auch mit Preisen bedacht. Dabei haben Sie schon etliche Opernpartien gesungen, waren sogar kurz fest in einem Ensemble engagiert. Hat der Liedsänger Gerhaher den Opernsänger Gerhaher in den Schatten gestellt?

Christian Gerhaher: Ich bin nicht gleichermaßen in der Oper zuhause wie im Lied. Da ich Gesang nicht studiert habe, war dieses erste Engagement an einer Opernbühne wichtig, um einfach etwas Routine und Praxis zu bekommen. Und auch wenn ich jetzt gegen meine eigene Hochschule in München spreche, an der ich unterrichte: Ich finde, man sollte während eines Studiums studieren und nicht zu viel Zeit mit Produktionen verbringen und an Bühnen rumhängen. Da sind dann danach einige Spielzeiten an einem kleinen Haus der richtige Einstieg.

Sie haben überhaupt nicht Musik studiert?

Nein. Ich wollte ein Doppelstudium aus Medizin und Musik belegen, was mir aber nicht erlaubt wurde. In Medizin habe ich dann promoviert, Gesang nur privat studiert.

Kann man gleich gut sein als Lied- wie als Opernsänger?

Die Fächer im Operngesang sind ja stark aufgegliedert. Ein dramatischer Sopran wird nie im Konzertfach so reüssieren können wie beispielsweise ein lyrischer Bariton. Das liegt in der Natur der Sache. Ich persönlich denke, ein solcher Bariton gehört eher in ein Konzert- als in ein Opernhaus. Das ist aber, wie gesagt, mein ganz persönlicher Geschmack. Ich selbst möchte nicht mehr fest an einem Opernhaus singen, weil das Repertoire dort nicht meine Interessen ganz befriedigen würde. Und weil dort doch mit einem breiteren Pinsel gemalt wird und man seine Stimme dann aktiv wieder zurückfahren muss, wenn man einen Liederabend gibt. Aber wenn mich einer fragt, was ich von Beruf sei, sage ich meistens: Opernsänger - weil er sonst am Ende noch glaubt, ich mache Pop oder so, wenn ich nur "Sänger" sage. Nein, Spaß beiseite: Ich liebe Oper, möchte da auch gerne etwas mehr machen mit geeignetem Repertoire, aber zur Zeit stecke ich einfach in einer anderen Schublade. Und Liedsänger, heißt es dann, können nur leise Töne produzieren und fallen bei jedem Windhauch um.

... und verstehen sich nicht auf einer Bühne zu bewegen und müssen sich immer an einem Flügel festhalten?

Genau. Alles Quatsch.

Bei fast allen Sängern im Bariton-Fach taucht irgendwo in der Biografie ein Studium oder Meisterkurs bei Dietrich Fischer-Dieskau auf. Sie scheinen an diesem Über-Bariton vorbei gekommen zu sein.

Doch, doch, ich war da auch mal. Man kommt nicht an ihm vorbei. Er war schließlich derjenige, der das Kunstlied aus der Ecke der Beliebigkeit und Sentimentalität herausgeführt und ihm kammermusikalische Qualität und Seriosität verliehen hat. Viele Sänger sind sich ja bis heute nicht bewusst, wie sentimental sie auf dem Podium agieren wegen des gesungenen Wortes - sie identifizieren sich zu stark damit. Solche Übergriffe der Persönlichkeit missfallen mir ausgesprochen! Gesehen wird nicht, dass das Lied auch absolute, ja abstrakte Musik sein kann. Das war Fischer-Dieskaus großer Verdienst, dafür bewundere ich ihn.

Wenn man zwei Opern herauspickt, die Sie in letzter Zeit gesungen haben - eine "Cosí fan tutte" unter Thomas Hengelbrock und einen "Freischütz" mit der Cappella Coloniensis - könnte man meinen, sie fühlen sich besonders wohl in der Umgebung der historischen Aufführungspraxis.

Nein, überhaupt nicht. Man geht immer davon aus, Sänger können sich besser entfalten, wenn sie von alten Instrumenten begleitet werden. Aber auch die können einen Höllenradau machen! Ich bin kein Verfechter dieser Aufführungspraxis, im Gegenteil. Ich schätze Harnoncourt zwar sehr und die Bereicherung, die diese Art des Musizierens für das Musikleben gebracht hat. Aber ich halte den Anspruch des Authentischen vom Prinzip her für falsch. Denn es ist nicht nur nicht möglich zu eruieren, wie damals gesungen wurde, sondern ebenso, wie damals gehört wurde. Wir können doch nicht so tun, als hätten wir eine heile Musikwelt in einer historischen Aufführungspraxis, und draußen laufen stinkige Motoren und es werden Menschen erschossen mit Donnerbüchsen, die zur Zeit dieser Musik noch gar nicht erfunden waren. Diese Rekonstruktion des alten Klanges halte ich für nostalgisches, etwas unreifes Wunschdenken.

Ohne Harnoncourt aber würden wir jetzt in Frankfurt keinen "L'Orfeo" von Claudio Monteverdi auf dem Programm haben. Denn er hatte in den 1980ern eine erste Monteverdi-Opern-Renaissance ausgelöst, derzeit scheinen wir inmitten einer zweiten zu stecken - hier in Frankfurt laufen diese Spielzeit neben dem "L'Orfeo" noch die "Poppea", nebenan in Darmstadt wird ebenfalls die Orpheus-Oper gespielt.

Monteverdi ist für die Oper schon etwas Besonderes, nicht nur, weil er das erste Schlüsselwerk dafür komponiert hat. Barockopern, die 50 oder 100 Jahre später geschrieben wurden, sind wesentlich schwieriger im Zugang und formal viel statischer. L'Orfeo ist eine extrem moderne Angelegenheit. Sie hat alles, was Menschen bewegt - um so eine subjektiv bewegende Weltsicht wieder zu erreichen, muss man einen Sprung bis zu Wagner machen, meiner Meinung nach.

Der antike Orpheus ist ja der Superman der Musik, mit seinem Gesang und seiner Musik kann er das Unmögliche möglich machen. Ist diese Rolle nicht der Traum eines jeden Sängers?

Für mich nicht. Dass die erste erhaltene Oper der Musikgeschichte ausgerechnet diesem Mythos gewidmet ist, gibt natürlich ein schönes Bild ab, aber das Orpheus-sein ist mir persönlich nicht wichtig. Ich maße mir nicht an zu sagen, ich kann wahnsinnig viel bewegen, wenn ich singe.

Orpheus schafft es, das Sterben außer Kraft zu setzen. Singt da jetzt auch der "Doktor Gerhaher" in ihnen ein bisschen mit? Der den weißen Kittel anhätte, wäre er nicht Sänger geworden?

Das ist jetzt eine sehr komplexe Frage! Es geht mir als Sänger nicht darum und würde mir auch als Mediziner nicht darum gehen, Menschen wieder zum Leben zu erwecken. Ich bin da zu sehr Pragmatiker und Realist.

In welche Richtung wären Sie als Mediziner denn gegangen, wenn Sie sich nicht für die Kunst entschieden hätten?

Schon während des Studiums war mir eigentlich klar, dass ich Sänger werde. Tja, was wäre ich für ein Mediziner geworden? Interessiert hätte mich die Psychiatrie, auch wenn ich da doch auch Angst gehabt hätte, dass ich mit mir selbst irgend einen Schmarren anstellen würde. Obwohl... nein, da rede ich jetzt nicht drüber.

Interview: Stefan Schickhaus

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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2005
Dokument erstellt am 08.03.2005 um 16:32:08 Uhr
Erscheinungsdatum 09.03.2005

INTERVIEW
Der Bariton Christian Gerhaher, 1969 in Straubing bei München geboren, legt derzeit eine beachtliche Karriere vor. Seine CD-Aufnahmen als Schubert- und Schumann-Sänger wurden hoch gelobt, er singt Mahler-Lieder mit namhaftesten Dirigenten.

Die Oper Frankfurt stellt Gerhaher jetzt als Opernsänger vor und zeigt damit eine weit weniger bekannte Seite seiner Kunst.

Im Bockenheimer Depot wird der Bariton die Titelpartie in Claudio Monteverdis "L'Orfeo" singen, in einer Inszenierung von David Hermann und unter der Leitung von Paolo Carignani. ick