F.A.Z.
17.05.2005 – Nr. 112 / Seite 41

Voll Kraft und Licht
Claudio Abbado dirigiert die "Zauberflöte" in Baden-Baden

Knirschend zerreißt ein Stück Stoff. So intim wirkt die fabelhafte Akustik im Festspielhaus zu Baden-Baden, daß man das Geräusch hören kann bis in die hinterste Parkettreihe. Papageno ist einer der drei Damen auf die Schleppe getreten, mitten im Quintettgeplänkel "Wie? Wie? Wie? Ihr an diesem Schreckensort!" Alles lacht. Geplant war dies Malheur weder von den Spaßmachern Schikaneder oder Mozart noch gar vom Regisseur Daniele Abbado, der Intendant ist am Teatro Municipale Valli in Reggio Emilia und seinen berühmten Vater Claudio Abbado dazu überredet hat, erstmals Mozarts "Zauberflöte" zu dirigieren. Papageno (Markus Werba) darf sich glücklich schätzen. Einerseits das schnelle Tempo, das Abbado der Ältere anschlägt, andererseits das hilflos verquirlte Durcheinander der Personenführung von Abbado dem Jüngeren haben ihm diesen kleinen, lockeren Augenblick der Wahrheit quasi gratis beschert. Es bleibt eine Ausnahme.

Daniele Abbado mag in Italien als ein ideenreicher Regisseur gelten. Von den Tücken der Personenführung in der Oper, zumal in diesem aus Seria, Singspiel und Vorstadtposse zusammengefügten Rätselmärchen, versteht er nicht viel. Die Figuren werden nur verschoben wie Bilderbuch-Schablonen. Papageno und Monostatos (Kurt Azesberger) sind Kasperl und Teuferl, machen große Sprünge, wedeln mit den Armen und buchstabieren ihre Pointen, daß die Kulisse wackelt.

Der Moment, da die Papageno-Musik sich verwandelt und ihrer strophenliedmäßigen Harmlosigkeit entledigt, verstreicht dann aber szenisch ungenutzt. Auch Pamina (Rachel Harnisch) bleibt ein klassizistisch "schönes Fräuleinbild", ihr Tamino (Christoph Strehl) steht hauptsächlich edel im Weg und hält ab und zu die Flöte hoch, damit die Sache vorangeht. Sarastro (Georg Zeppenfeld) und seine Priesterchormannen kommen als Statuen daher, die Fackeln entzünden und Gutmenschentum verströmen. Die sternflammende Königin (Erika Miklosa) indes haust als keifende, glatzköpfige Hexe in seltsam geäderten Bienenwaben wie ein gefährliches Insekt. Und sind die drei Knaben nun salzburgische Barockengel mit angeklebten Flügeln oder doch lieber Straßenjungs mit Schiebermütze, wie sie erstmalig in Harry Kupfers phantastischer Großstadt-"Zauberflöte" aus dem Gully gekrochen sind? Weil Kostümbildnerin Carla Teti sich nicht festlegen mag, müssen sich die drei überirdisch klar, synchron und süß singenden Sängerknaben aus Tölz halt öfter mal umziehen. Monostatos ist wahlweise Chef in einer Fantasy-Tankstelle oder in einem Puff - gleichviel, der kirmesbunt blinkende Plastik-Tigerkopf, worin Bühnenbildner Graziano Gregori die Pamina anketten läßt, quietscht beim Rausfahren in die Kulisse.

So stolpert das Regieteam ein ums andere Mal in die Falle alter Klischees. Daniele Abbados Sonnenreich ist männlich, zivilisiert, aufgeklärt, edel, hilfreich und gut - sein Nacht- und Naturreich finster, emotional, böse, weiblich und von gestern. Im Finale triumphiert wiederum das Patriarchat, glatt hinwegmarschierend über den doppelten Boden, den Mozart selbst diesem vielschichtigen Spiel eingezogen hatte. Das ist zwar rundum sehr schade, doch über kurz oder lang auch wieder ganz egal.

Denn wie eine Welle aus Kraft und Licht strömt die Musik aus dem Orchestergraben. Sie spült alle szenischen Ungelenkigkeiten einfach von den Brettern. Claudio Abbado, der schon immer gerne mit der Jugend im Bund war, steht wieder an der Spitze seines Mahler Chamber Orchestra und versprüht selbst das Temperament eines jungen Mannes auf Abenteuerfahrt. Man spielt auf modernen Instrumenten, borgt sich aber bei der Musizierpraxis der Alte-Musik-Bewegung die kurzen Phrasierungsbögen aus, die überdeutlichen Akzentuierungen, die Transparenz der Klangrede. Dazu kommt ein Brio sondergleichen, ein dynamischer Schwung und eine Trennschärfe und Akkuratesse im Herausarbeiten von Haupt- und Nebenstimmen, als spielte das Orchester als ein Ensemble von Solisten. In fließender Beweglichkeit führt Abbado das Orchester und die Sänger, als wär's ein Kinderspiel. Letztere, die zwar nicht sämtlich tadellos, doch alle mit äußerstem Einsatz singen, werden getragen und gehoben von diesem Energiestrom, der auch das Publikum mitreißt.

ELEONORE BÜNING

 

DIE WELT
Mittwoch, 18. Mai 2005

Weltenrätsel, Volkstheater, einfach und wunderbar
Der Dirigent Claudio Abbado und sein Sohn Daniele lassen Mozarts "Zauberflöte" in Baden-Baden erklingen als wäre es das erste Mal

von Manuel Brug

Der bald 72jährige Claudio Abbado weiß ganz genau, wie er sein Dirigentendasein gestaltet, das jeglicher Verpflichtung abhold ist und dem Lustprinzip gehorcht. Machtspiele sind passé, der Jugend gilt seine pädagogische Liebe - und den Werken, denen er sich noch nie genähert hat. Nach wirklich epochalen Klangbädern mit "Tristan" und "Parsifal" hat er sich nun Mozarts "Zauberflöte" vorgenommen: die populärste Oper überhaupt und gleichzeitig ein immer noch nicht enträtseltes Mysterium. Banal und tiefsinnig, so perfekt wie unvollkommen, ein seltsam janusköpfiges Ding. Man wendet sich gelangweilt ab, wenn die Aufführung im Klischee stecken bleibt, man ist fasziniert, wenn sie wieder wie beim ersten Mal zu begeistern vermag. Claudio Abbados Auseinandersetzung mit dem Weltenrätsel als Volkstheater ist skrupulös und fließt dabei natürlich - und so ist letzteres der Fall.

Abbado ist ein treusorgender Familienvater. Nicht nur für die vielen Orchester und Festivals, die er auf die Reise zu den musikalischen Sternen geschickt hat; auch für die eigenen Kinder, vor allem die ehelichen. Während sein Sohn mit der Geigerin Victoria Mullova bisher noch nicht in seinem künstlerischen Dunstkreis aufgetaucht ist, hat er seine Tochter Christina bei ihren Festspielunternehmungen in Ferrara und Bologna durch seine Konzertpräsenz unterstützt. Und auch bei der Berufung seines regieführenden Sohnes Daniele zum Chef des Teatro Valli in Reggio Emilia dürfte die in Aussicht gestellte "Zauberflöte" mit dem Vater nicht unbedingt hinderlich gewesen sein. Nach der italienischen Premiere im April gastierte die Produktion nun bei den Karajan-Pfingstfestspielen in Baden-Baden - übrigens der erste deutsche Auftritt von Abbado mit dem von ihm initiierten Mahler Chamber Orchestra, das seitdem so glanzvoll aufregend auf eigenen Füßen steht. CD und DVD sollen das festhalten.

Szenisch gibt es freilich nicht viel Bemerkenswertes. Der 47jährige Abbado junior hat in einem kahlen, schwarzen Kasten zwischen sparsamen Kostümfarben arrangiert, kaum interpretiert. Das ist angenehm nüchtern und zurückhaltend, ganz ohne Tümlichkeiten, aber auch ziemlich enttäuschend, wenn sich am Ende die Schwarzen und die Weißen - Königin und Sarastro, Pamina und Tamino sowieso - ganz doll liebhaben und an den Händen fassen. Ein Märchen, mehr nicht.

Um so aufregender, was sich akustisch abspielt. Wie Claudio Abbado das macht, das eben ist seine Magie - und sein Geheimnis. Er scheint eigentlich nicht zu tun. Scheint glücklich dem zuzuhören, was er da entfesselt, sich wie ein Kind zu begeistern. Ein raffiniertes Kind freilich, weise und neugierig zugleich. Jugendlich unverbrauchte, klare Sängerstimmen, fast alle deutschsprachig, sind zu hören und ein plastischer, harmonisch ausbalancierter Orchesterklang, licht, weich, doch konturiert.

Scheinbar Nebensächliches leuchtet auf, manches sogar nie so vernommen, und fügt sich doch in einen straffen, selten strengen Zusammenhang. Die ersten Ouvertüren-Akkorde schwingen fein nach, im Folgenden fügen sich die so unterschiedlichen Musik- und Bedeutungsebenen kreatürlich zum einheitlichen Ganzen. Eine naive Freude schwebt über dieser so detailfreudigen wie den großen Bogen schlagenden Exegese: neuerliche, herzklopfende Unschuld einer Initiation.

Markus Werbas wienerischer, aber sachlicher Papageno, Rachel Harnischs innig süße, nie süßliche Pamina, Georg Zeppenfelds schlank strömender Sarastro, die schimmernde Koloraturperlen sprenkelnde Erika Miklosa als Königin der Nacht, Christoph Strehls etwas eng geführter Tamino, Wolfgang Brendels wohliger Sprecher, die tollen Tölzer Knaben - Abbados Sängerschar macht einfach Spaß durch ihr Können, ihr freudvolle Hingabe. Übertroffen nur noch durch das warme, durchsichtig und doch exakt spielende, graziöse, doch auch aufklärerisch auftrumpfende Mahler Chamber Orchestra. So ähnlich muß ein staunendes Publikum im Wiener Freihaustheater empfunden haben, als am 30. September 1791 diese Sternstunde der Menschheit erstmals erklang.

 

Neue Zürcher Zeitung
17. Mai 2005

Wenn der Vater mit dem Sohne
Mozarts "Zauberflöte" im Festspielhaus Baden-Baden

Flüssig und geschmeidig erklingt die dreiteilige Akkordfolge, die in Wolfgang Amadeus Mozarts "Zauberflöte" einleitet; ein Adagio hat sich der Komponist hier gedacht, aber eben eines "alla breve", also in halben Takten geschlagen - das ist zu hören. Bei der synkopischen Stelle, die folgt, geben die Celli und die Bässe kernig den Ton an, während die höheren Streicher mit wenig Vibrato dagegenhalten und die Bläser den Verlauf mit einem klaren Akzent krönen. Wieder einige Takte später ein Doppelstrich - und dort wird der Schlag dann ganztaktig. Das Allegro steht somit in klarem Bezug zum Adagio, wird aber auch sehr schnell. Dem Mahler Chamber Orchestra, das mit dieser Einleitung die achten Herbert-von-Karajan-Pfingstfestspiele in Baden-Baden eröffnet hat, macht das freilich keine Mühe; es kennt jede Regung des Dirigenten Claudio Abbado, und was die Beweglichkeit auf den Instrumenten betrifft, bleibt hier kein Wunsch offen.

Musikalisch wie neu

Damit gab die Ouverture vor, was die in Zusammenarbeit zwischen dem Festspielhaus Baden-Baden und den Opern von Reggio Emilia und Ferrara entstandene Produktion auszeichnet: eine musikalische Ausarbeitung auf höchstem Niveau und eine ganz bewusste Ausleuchtung der Strukturen, zugleich aber auch musikantische Lust und klangliche Schönheit sondergleichen. Vor allem aber trat hervor, in welchem Mass die Errungenschaften der historischen Aufführungspraxis inzwischen Standard geworden sind. Spürbar wurde das etwa am Gewicht, das die Bläser im Gesamtklang einnehmen; die Trompeten zum Beispiel schmetterten, dass es eine Art hatte, aber verwendet wurden offenkundig eng mensurierte Instrumente alter Bauart, so dass die Balance gewahrt blieb. Vierzig Jahre sind vergangen, seit Nikolaus Harnoncourt und der Concentus musicus Wien diesen Paradigmenwechsel in Gang gesetzt haben. Gehässige Abwehr war damals die Reaktion. Heute steht - bei der Brüsseler "Zauberflöte" vor drei Wochen - René Jacobs vor einem Sinfonieorchester herkömmlicher Art und sät dort erfolgreich seine Spezialkenntnisse, während sie sich auf der anderen Seite ein Star wie Abbado längst zu eigen gemacht hat.

Abbado hat spät zur "Zauberflöte" gefunden; 72 Jahre alt, stellt er sich erstmals öffentlich diesem ebenso schwierigen wie populären Werk. Die Konstellation gleicht jener von 1990, als sich der damals 78-jährige Georg Solti im Wiener Konzerthaus noch einmal der "Zauberflöte" zuwandte: mit einem weitgehend aus jungen Sängern gebildeten Ensemble. Doch während in der an sich schönen Aufnahme Soltis eine bisweilen forcierte Frische herrscht, geht Abbado diese späte Musik Mozarts ganz souverän und gelöst an; wie von selbst scheint sie sich zu ergeben, und wie von selbst scheint sie auch ihre so unterschiedlichen Tonlagen zu finden. Apollinische Heiterkeit im Sinne der Wiener Mozart-Tradition der Nachkriegszeit stellt sich dabei nicht ein, das verhindert Abbados Interpretationsansatz. Er lässt das Werk vielmehr in spannendem Wechselspiel vorüberziehen, und immer wieder legt er in der scheinbar so vertrauten Partitur unerwartete Aspekte frei. Das ist Interpretation im eigentlichen Sinn des Wortes: Verlebendigung eben. - Wie Solti arbeitet auch Abbado bei dieser "Zauberflöte" mit einem Ensemble vorwiegend junger Sänger - und die Besetzung wirkt fast noch stimmiger als beim "Don Giovanni" 1998 in Aix-en-Provence. Der Tenor Christoph Strehl neigt zwar auch hier zum Pressen; zudem setzt er ein Ausdrucksmittel wie das Portamento, das Ansingen der Töne, etwas häufig ein - und ein Schluchzer vor dem eröffnenden Sextsprung in der Bildnis-Arie ist schlicht geschmacklos. Aber wie er der gern süsslich geratenden Partie des Tamino vokale Kontur und männliche Figur verleiht, ist ausgesprochen überzeugend.

Sehr innig in Stimmgebung wie physischer Ausstrahlung die Pamina von Rachel Harnisch, quirlig und wohlklingend der Papageno von Markus Werba, äusserst agil die Papagena von Julia Kleiter. Und als Königin der Nacht führt Erika Miklosa, die in der Höhe in keinem Moment spitz wird, geradezu sensationelle Treffsicherheit vor, während Kurt Azesberger einen schneidenden Monostatos gibt und Georg Zeppenfeld als Sarastro einen ebenso schlanken wie klangvollen Bass hören lässt. Das Baden-Badener Publikum war von all dem so angetan, dass es die Nachspiele der Arien immer wieder verklatschte.

Szenisch banal

Der Clou der Produktion bestand nun aber darin, dass der Vater mit dem Sohne - dass der Dirigent Claudio Abbado den Regisseur Daniele Abbado mitgebracht hatte. Das war ein Reinfall. Daniele Abbado soll sich zwar ausführlich mit Literatur befasst haben, er hat sich aber nicht für eine erkennbare Lesart des Stücks entscheiden können; das Feld blieb den Ausstattern Graziano Gregori (Bühne), Carla Teti (Kostüme) und Guido Levi (Licht, aber oft spärlich) überlassen. Der Regisseur scheint vom freimaurerischen Initiationsritual absehen, das Stück eher wie ein Kindermärchen erzählen zu wollen. Daher die vielen Tiere wie der gewaltige Dinosaurier am Anfang - aber da bleibt doch vieles allzu konventionell, da ist Achim Freyer in seiner Salzburger "Zauberflöte" von 1997 schon wesentlich weiter gekommen. Dazu gibt es jede Menge an handwerklicher Unsinnigkeit, zum Beispiel jenen sehr schräg gestellten Bretterboden, auf dem Sarastro und seine Mannen ihre Würde nur mit Mühe wahren können. In italienischen Opernhäusern ticken die Uhren noch immer anders.

Peter Hagmann

 

DER STANDARD
17.05.2005

Familientreffen im Musiktheater-Schlafwagen
Mozarts "Zauberflöte" bei den Festspielen in Baden-Baden: Dirigent Claudio Abbado widmete sich erstmals diesem Werk, leider ließ er seinen Sohn Daniele Abbado inszenieren.

Von Ljubisa Tosic aus Baden-Baden


Eine jener grellen, aber nicht sehr tragfähigen Ideen von Regisseur Daniele Abbado:
die arme Pamina (Rachel Harnisch) im Löwenkopf, der Monostatos gehört.

Kooperationen werden zusehends zu Herzschrittmachern von Festivals. So viele wie die Wiener Festwochen, für die Europas Kooperationskönig Stéphane Lissner programmiert, haben zwar nur wenige. Aber auch die auf ihre Exklusivität stolzen Salzburger Festspiele kommen ohne Partnerschaftsprojekte nicht aus - die Atomisierung der Eigenständigkeit und die Verwässerung des Eigenprofils sind in Zeiten real sinkender Budgets der Trend. Womöglich wird es dereinst in Europa ja nur noch ein Festival unter verschiedenen Namen geben - bestückt von einem Musiktheater-Wanderzirkus.

Auch die Festspiele von Baden-Baden können sich der Entwicklung nicht entziehen. Aber heuer hatte man Glück, jemanden zu erwischen, der sich dem Betrieb nicht mehr ausliefert. Dirigent Claudio Abbado hat nach seiner schweren Krebserkrankung den Job bei den Berliner Philharmonikern nicht mehr verlängert und macht nur noch das, was Spaß macht. Wozu auch gehört, um Österreich einen Bogen zu machen. In Luzern hat er ein Orchester gegründet. Ansonsten aber seine Aktivitäten reduziert.

Wer ihn "bekommt", kann also eine gewisse Aufmerksamkeit generieren. Exklusivität verzeichnen. Baden-Baden hat hier gut aufgepasst, seinen Blick auf die Ränder der Opernwelt gerichtet. Nach Reggio Emilia also, wo Daniele Abbado, der Sohn des Dirigenten, Intendant ist. Dort nahm sich der Papa erstmals Mozarts Zauberflöte vor, und Baden-Baden schloss sich dem Projekt an. Auch eine Kooperation. Aber sie macht den mittlerweile "unsichtbaren" Abbado immerhin sichtbarer.

Auch dem Sohn ist dafür zu danken. Der Preis, den man als Zeuge zu zahlen hat, ist allerdings, Danieles Inszenierung erleiden zu müssen. Wobei "Inszenierung" eine Übertreibung ist. Der Sohn hat das Geschehen trostlos arrangiert, von einer Deutung kann nicht die Rede sein.

Mitunter hatte man das Gefühl, die Figuren könnten im Stehen eingeschlafen sein - klar, dass dies bei den Sprechteilen zu erheblichen Bremseffekten führte. Was an Bühnenaktion sichtbar wurde, lebte denn auch von den alleingelassenen Schauspieltalenten der Protagonisten. Soweit eben vorhanden, wie bei Markus Werba (als Papageno).

Das bisschen an Ideen, das vorhanden ist, leuchtete vor allem im Optischen (Bühnenbild: Graziano Gregori) auf. Doch hat auch das nur bedingt Substanz: Tamino (delikat Christoph Strehl) und Pamina (tadellos lyrisch Rachel Harnisch) beobachten selbst, wie sie als kleine Puppen Prüfungen bestehen. Monostatos (profund Kurt Azesberger) lebt in einem Löwenkopf, der wirkt, als hätte man ihn vom Wiener Wurstelprater geliehen. Und die Priestergesellschaft sitzt auf einer Schräge und weckt Assoziationen an lustige Sandalenfilme.

Sehr oft ist die Bühne nahezu leer, was bei entsprechender Lichtgestaltung Atmosphäre gebracht hätte - doch leider. Dafür dürfen die drei Damen reichlich Kleider wechseln, während die Königin der Nacht (koloratursicher, aber klanglich schroff: Erika Miklosa) in einer Kugel erscheint. Macht Wirkung. Dennoch ist man öfters versucht, das Glück bei geschlossenen Augen zu suchen.

Schließlich hat Claudio Abbado mit dem Mahler Chamber Orchestra einen grazilen, durchsichtigen Klang gewählt, der die Musik so leicht macht, als wollte man Mozart übers Wasser gehen lassen. Es geht allerdings nicht um harmlosen Schönklang. Jedes Detail, jeder Akkord wird ernst genommen, man kommuniziert lebhaft mit der leider leblosen Bühne.

Abbados Kammermusikideal ist hier orchestrale Wirklichkeit geworden; und die punktuelle Herbheit der Bläser zeugt davon, dass auch die Originalklangbewegung am Maestro nicht spurlos vorbeigegangen ist. "Der schönste Applaus ist die Stille nach dem Verklingen des Werkes", hat Abbado einmal gesagt. Sie hat sich nicht eingestellt. Doch kein Grund, ins Grübeln zu geraten.

Ort der vier Festivals

Als Herbert von Karajans Pfingstfestspiele von Salzburg nach Baden-Baden zogen, hatten die Betreiber Großdimensioniertes vor. Um 60 Millionen Euro wurde ein 2500 Personen fassendes Festspielhaus (Architekt: Wilhelm Holzbauer) gebaut. Doch schon bei der Eröffnung 1998 zeigte sich, dass das Preiskonzept (Karten bis zu 320 Euro) nicht aufgehen sollte.
Ehe man sich's versah, stand man knapp vor dem Konkurs - man hatte über sechs Millionen Euro Schulden angehäuft. Mithilfe von Festspielfreunden, Stadt und Land Baden-Württemberg konnte man die Katastrophe abwenden. Man senkte die Kartenpreise und ist heute auch dank Intendant Andreas Möllich-Zebhauser in einer guten Verfassung.
Das Jahresprogramm, das auch namhafte Konzertkünstler wie Alfred Brendel und Anne-Sophie Mutter präsentiert, beinhaltet mittlerweile vier Festivals - eines pro Jahreszeit. Zu Pfingsten 2006 bietet man Wagners Lohengrin. (tos)

 

Pforzheimer Zeitung
17.05.2005

Bilder aus einer bunten Märchenwelt
Claudio Abbado dirigierte zum Auftakt der Pfingstfestspiele des Festspielhauses Baden-Baden Mozarts „Zauberflöte"

Von Thomas Weiss


Eine Weltklasseleistung bot Erika Miklosa als Königin der Nacht.
Christoph Strehls Tamino (im Vordergrund) hatte es da schon schwerer.
Foto: Festspielhaus

Der nun 72-jährige Dirigent gab sogar ein doppeltes Debüt, er dirigiert zum ersten Mal in Deutschland die „Zauberflöte" und gab zugleich im Baden-Badener Festspielhaus seine Premiere bei
den Herbert-von-Karajan-Pfingstfestspielen.

Erstmals hatte Abbado kurz zuvor die „Zauberflöte" im italienischen Teatro Valli Reggio Emilia geleitet, das für diese Produktion ebenso wie das Teatro Communale di Ferrara mit dem Festspielhaus an der Oos kooperiert.

Eigener Zugang

Am Pult des vom Publikum im ausverkauften Festspielhaus ebenso wie das Ensemble gefeierten Gustav Mahler Chamber Orchestra betonte Abbado einen eigenständigen Zugang zur „Zauberflöte". War man in den vergangenen Jahren am gleichen Ort beim Mahler Chamber Orchestra unter Minkowski einen geschärfteren, rhythmisch auch agileren Mozart („Entführung aus dem Serail", „Le nozze di Figaro") gewohnt, so ist Abbados Auffassung sicher eine etwas traditionellere. Gelegentlich neigt er zu breiteren Tempi, die noch nicht immer spannungsvoll genug ausgeformt sind.

Abbado tönt den Klang immer wieder fein ab, sorgt für differenzierte Farbmischungen, lässt das Orchester gewohnt transparent musizieren. Der Hörer erlebt so viele von einem warmen Orchesterklang getragene Momente.

Ganz bei der „Zauberflöte" scheint Abbado nicht angekommen zu sein, man erlebte eine Interpretation, die noch im Wachsen begriffen ist. Für das noch junge, von Abbado ausgesuchte Ensemble gilt dies ebenfalls. Wobei anfänglich der Eindruck entstand, manche der Stimmen hätten (noch) nicht das Volumen für die Weiten des Festspielhauses. Eine schon in den großen europäischen Opernhäusern gesuchte Interpretin der Königin der Nacht ist indes Erika Miklosa.

Litt ihre erste Arie trotz perfekter Koloraturen noch etwas unter der ungünstigen Platzierung im Bühnenhintergrund, forderte sie mit „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen" Jubelstürme heraus. Eine Weltklasseleistung. Christoph Strehls auch darstellerisch statischer Tamino hingegen verströmte nur gebremsten Mozart-Wohllaut. Angeschliffene Töne und eine Neigung zum Forcieren sind nicht unbedingt Zeichen für Festspielreife. Rachel Harnischs Pamina hingegen ließ mit ihrem farbreichen Sopran viele Hoffnungen auf eine glanzvolle Sängerzukunft offen. Etwas mehr solcher vokaler Farben hätte man dem sehr zuverlässigen Bass von Georg Zeppenfeld (Sarastro) gewünscht.

Mit seinem unverkrampften Spiel und dem frei strömenden Klang seines flexiblen Baritons wurde Markus Werba als Papageno zum Liebling des Premierenpublikums, Julia Kleiters Papagena zeigte viel komödiantisches Talent. Das weitere Ensemble mit dem Sprecher Wolfgang Brendels oder Kurt Azesbergers ausdrucksstarkem Monostatos zeichnete sich weitgehend durch Solidität aus, ebenso der Festspielchor Baden-Baden.

Fern jeder Deutungsabsicht zeichnete Claudio Abbados Sohn Daniele, der als Regisseur außerhalb Italiens noch kaum hervorgetreten ist, für eine märchenhafte „Zauberflöte" verantwortlich. Mit seinem Bühnenbildner Graziano Gregori und den Kostümen von Carla Teti, die der Welt von Tamino/Sarastro einen fernöstlichen Touch verleihen, einen farbenpächtig-kitschigeren Zuschnitt gibt es für die Dienerwelt des Monostatos und seiner Sklaven, bildet er ein auf seiner Linie liegendes Team. Trotz manch gelungener Bildwirkungen und den erotisch aufgewerteten Damen der Königin der Nacht, die mit ihren Reizen auch für Tamino nicht geizten, ist ansonsten von einer profilierten Figurenzeichnung mit Ausnahme Papageno/Papagena kaum die Rede. Statisches Rampentheater dominiert.

Am Ende dieser von ihren Bildern lebenden „Zauberflöte" geht Daniele Abbado dann auf einen utopisch anmutenden Versöhnungskurs. Nach dem Happy End für Tamino und Pamina dürfen auch die zuvor in die Unterwelt verbannte Königin der Nacht und ihre Damen und selbst Monostatos in den Weisheitstempel einziehen. Die drei Knaben (beachtlich die Solisten des Tölzer Knabenchores) liefern dazu noch eine Kon- fettiparade …

Für die „Zauberflöten"-Aufführung im Festspielhaus am Mittwoch, 18. Mai, um 19 Uhr gibt es noch Restkarten.

 

Offenbach Post
17.5.2005

Wenn der Vater mit dem Sohne
Zweifacher Abbado in Baden-Baden

Allmählich dürfte es sich herumgesprochen haben, dass Andreas Mölich-Zebhausers Festspielhaus in Baden-Baden eine sichere Adresse für ästhetisch geschmackvolle Opernproduktionen mit hochkarätigen Besetzungen ist.

Zur Eröffnung der Pfingstfestspiele gab es eine geradezu sensationelle Premiere: Claudio Abbado, fast 50 Jahre im Musiktheater aktiv, dirigierte seine erste "Zauberflöte", wohl bemerkt im Alter von 72 Jahren! Gleichzeitig ist diese deutsch-italienische Koproduktion mit dem Teatro Valli in Reggio Emilia die erste gemeinsame Opernproduktion des ehemaligen Chefs der Berliner Philharmoniker und der Mailänder Scala mit seinem 47-jährigen Sohn Daniele, Regisseur und seit 2002 Intendant des wunderschönen, legendären Teatro Valli.

Dafür, dass Vater und Sohn nicht schon früher gemeinsame Projekte angingen, gibt es gute Gründe: Daniele ist ein ebenso selbstkritischer Künstler wie sein Vater. Er will sich nicht zum Narren machen wie viele andere Söhne berühmter Väter, die letztlich nur Künstler geworden sind, weil es der Alte so wollte und eine Karriere greifbar nahe schien. Daniele Abbado hat solches Vitamin B gar nicht nötig, erweist er sich doch als ein intelligenter, souveräner Strippenzieher, der sich mit seinen Regie-Einfällen nie aufdrängt, der Musik immerfort die Vorfahrt überlässt.

So bilden Claudio und Daniele ein ideales Team mit gleichen künstlerischen Überzeugungen. Sie verpflichten sich dem Komponisten, spannen auf faszinierende Weise Rokoko und Aufklärung zusammen. Unter Claudios Leitung pflegt das Mahler Chamber Orchestra einen feinen, duftigen Klang von höchster Grazie. Auf der Bühne gelingen mit sparsamen Mitteln menschlich anrührende Szenen von märchenhaftem Zauber. Es gibt viel Kerzenlicht in diesem mysterienhaften Singspiel um Liebe, Rache, Hass, Weisheit und Freimaurer sowie fantasievolle Kostüme, tanzende Tiere, ein drachenartiges Schlangenungeheuer und eine besonders Furcht einflößende gespenstische Königin der Nacht mit kahlem Schädel (brillante, blitzsaubere Koloraturen: Erika Miklosa). Und auch der Humor kommt nicht zu kurz, dank eines exquisiten Papagenos (Markus Werba), der ebenso so viel Schalk wie Liebesfeuer besitzt.

Überhaupt wird aufs Vortrefflichste musiziert und gesungen, besonders hervorzuheben ist die vorbildliche Textverständlichkeit. Ein großer Abend, mit Ovationen gefeiert vom Premierenpublikum. Und Claudio und Daniele: Sie werden hoffentlich noch möglichst oft und an vielen Orten zusammenarbeiten.

KIRSTEN LIESE