Frankfurter Allgemeine Zeitung
15. Januar 2006

OPER
Der Verführer im Freizeitbad: „Don Giovanni" in Mainz

Alles ist im Fluß im Leben des lüsternen Frauenverführers Don Giovanni. Er wird getrieben - von einem Land zum anderen, von einer Frau zur anderen. In Spanien sind's schon 1003. Rastlos, beziehungslos, besinnungslos zieht er umher - Ewiger Jude, Fliegender Holländer, Faust. Für seinen Trieb lebt er. Für den mordet er. Denn er kennt kein Maß.

Alles ist im Fluß beim scheidenden Intendanten Georges Delnon im Staatstheater Mainz. Delnon hat die Figuren aus Mozarts Oper „Il dissoluto punito o sia Il Don Giovanni", 1787 für das Gräflich Nostizsche Nationaltheater in Prag geschrieben, daher auf mehrere Laufbänder gestellt. Auf denen werden Don Giovanni, seine Mit- und Gegenspieler und einige Zimmer-Boxen wie von unsichtbarer Hand über die schwarze Bühne gezogen. Im Gegenzug laufen auf der Wand im Hintergrund die projizierten Texte von Mozarts Librettisten Lorenzo da Ponte vorbei. Rückwärts, von rechts nach links.

Eine etwas glanzlose Donna Anna

Die Zeit läuft ab - auch kenntlich gemacht durch eine riesige Digital-Uhr, die schon zur Ouvertüre im 10-Sekunden-Takt ihre Minuten abspult: Um 0 Uhr hat's begonnen, um 0 Uhr ist alles vorbei. Mozarts Giovanni hat eigentlich keine 24 Stunden Zeit, gegen die er anrennen kann - nur eine Nacht muß reichen, um Donna Anna zu überfallen, ihren Vater, den Komtur, umzubringen, das Bauernmädchen Zerlina und eine Kammerzofe zu verführen, seine Noch-Ehefrau Donna Elvira, Racheengel Donna Anna und ihren Verlobten Don Ottavio immer wieder abzuschütteln, das Standbild des Komturs auf dem Friedhof zum Gastmahl einzuladen und für die Ruhestörung der Toten schließlich zur Hölle zu fahren. Zeit ist knapp: Giovanni ist nicht im Fluß. Er ist im Überfluß.

Delnon verwechselt Rastlosigkeit mit Zeitlosigkeit: Friedvoll-harmlos wie ein paar Sommerwölkchen ziehen Giovanni und die Weggefährten auf ihren Laufbändern dahin - und mit ihnen einige haltlose Regieeinfälle. Das Hochzeitsfest Zerlinas findet in Bademänteln und Handtüchern statt, in einem Freizeitbad - ein recht luxuriöses Ambiente für Mozarts armes Bauernpaar. Warum Zerlina, mit reinem Soubrettensopran wunderschön gesungenvon Janice Creswell, da ihren Hals überhaupt noch zum reichen Don Giovanni wendet, warum sie später auf seinem Fest plötzlich um Hilfe schreit, wenn sie sich doch in der Luxus-Bad-Box längst von ihm hat vernaschen lassen, erschließt sich nicht.

Auch Kerrie Sheppards etwas glanzlose Donna Anna hat sich anfangs willig in Giovannis Arme geworfen. Von Vergewaltigung keine Spur. Die Aussprache zwischen ihr und Don Ottavio findet dann im Kino statt - während er gelangweilt Zeitung liest oder auf die imaginäre Leinwand starrt. Am Laptop sitzend, besingt John Carlo Pierce als Ottavio danach zwar klangschön ihr Bildschirmschoner-Bild, das im Hintergrund großformatig projiziert wurde. Da ist Anna aber längst fort. Mit digitaler Technik verwandelt sich ihr Computer-Gesicht erst in Giovannis, dann in das Gesicht des Komturs: Drei Seelen schlagen in Donna Annas Brust - eine gute Idee, aus der sich bei Delnon aber nichts ergibt. Anna und Ottavio bleiben nichtssagende Mitspieler. Bei Mozart aber sind sie musikalisch vielsagende Gegenspieler.

Auch Donna Elvira gehört dazu. Eigentlich ist es Liebe, dann Mitleid, was sie immer wieder zu ihrem Ehemann zieht. Bei Delnon ist es nur blanker Sex, der Elvira - trotz mancher Höhenspitze schön gesungen von Patricia Roach - noch bei der Gastmahlszene in Giovannis lüsterne Arme treibt.

Wo Kleider keine Leute machen

Delnon hat Mozarts Figuren mit seinem Regieeinfallspinsel skizziert, ihnen aber keine Mozart-Farben gegeben. Karsten Mewes' Don Giovanni und der Leporello des Hans-Otto Weiß singen grandios, mit wunderbar samtig-dunklen Baritonstimmen, doch eine faustisch-mephistophelische Spannung ergibt sich zwischen beiden nicht. Der verwegene Borsalino-Hut, das freche Rappermützchen stehen ihnen gut - die Kleider der Kostümbildnerin Marie-Therese Jossen machen aber noch lang keine Leute.

Auch Mozarts Musik fehlt noch Kontur: Dirigentin Catherine Rückwardt hat sich hörbar vom friedvollen Bühnen-Fluß mittreiben lassen. Ihre Musik plätschert, zwischen Sängern und Orchester häufig unkoordiniert, dynamisch wenig abgestuft, harmlos dahin. Solch sanfte Höllenfahrt hat Don Giovanni gar nicht verdient.

 

WIESBADENER KURIER
16.01.2006

Ein rastloser Verführer auf dem Fließband
Der Mainzer Intendant Georges Delnon inszeniert "Don Giovanni" / Großer Erfolg für Staatstheater-Ensemble

Von Volker Milch


Donna Elvira (Patricia Roach, links) gehört eher zu Don Giovannis Altlasten, während in Gestalt ihrer Zofe (Christina Hafner) Frischfleisch auf den legendären Lüstling wartet.
Bettina Müller

MAINZ. "Tempo non ha" meint der vor Angst schlotternde Leporello am Ende des "Don Giovanni", sein Herr habe keine Zeit. Und bevor das Standbild des Komturs mit eiskaltem Händchen und ebensolcher Stimme seiner Einladung ins Jenseits Nachdruck verleiht, nutzt der Verführer in Georges Delnons Mainzer Inszenierung die Restzeit auf seine Art: Ein brutaler Quickie ist seine erotische Henkersmahlzeit - die Zeche aber zahlt die weinende, als Fastfood missbrauchte Donna Elvira. Keine Frage: Der Regisseur hat Mitleid mit seinen Figuren.

Zwei Wochen vor Mozarts 250. Geburtstag feiert das Mainzer Staatstheater den Komponisten ohne Puder und Perücke. Das 18. Jahrhundert ist, in Gestalt von Gardeoffizieren auf dem Weg zur Fastnachtssitzung, zur Zeit eher auf den Mainzer Straßen als im Theater selbst anzutreffen. Hier, im Großen Haus, bleibt sich der scheidende Intendant in Zusammenarbeit mit der Kostümbildnerin Marie-Thér´Zse Jossen auch als Bühnenbildner treu: Ein karger schwarzer Kasten, in dem der Countdown einer großen Digitaluhr sogleich das Thema Zeit exponiert. Im Hintergrund spielt Lorenzo da Pontes geniales Libretto als Laufband eine Hauptrolle. Und im Orchestergraben sorgt die Generalmusikdirektorin Catherine Rückwardt mit dem Philharmonischen Staatsorchester für einen im Detail gewiss noch zu schärfenden, insgesamt aber frischen, inspirierten Mozart.

Ganz erstaunlich ist die Leistung des hauseigenen Ensembles, das sich damit auch an sehr viel größeren Häusern behaupten könnte: Kerrie Sheppard gibt eine Donna Anna mit wunderbar beseeltem Ausdruck und überzeugend dramatischer Emphase (bei etwas eingeschränkter Koloratur-Beweglichkeit). Als starke Frau mit fataler Schwäche für Don Giovanni zeigt sich die Donna Elvira der Patricia Roach, und Janice Creswell ist eine zarte, auch vokal bewegliche Zerlina. Die Herren müssen sich hinter den Damen nicht verstecken: Hans-Otto Weiß als voluminöser Leporello von starker Bühnenpräsenz - ein sinistres Endspiel-Faktotum mit Sonnenbrille und Mütze. Der (auch stimmlich) gut gebaute Masetto des Tobias Schabel macht Don Giovannis erotischem Fluidum durchaus Konkurrenz - sein ist die Rache übrigens auch als düster dröhnender Komtur. Ein sensibel gestaltender und angenehm timbrierter Don Ottavio ist John Carlo Pierce. Richard Morrisons Don Giovanni singt fast ein wenig zu schön, um wahr zu sein. Den zarten, verführerischen Ton im Duettino "La ci darem la mano" trifft er sehr gut, in der Champagnerarie wünscht man sich bei allen Qualitäten mehr anarchische, erotische Elementargewalt in der Stimme.

Auf der anderen Seite passt erotisches Schwächeln zu dem Hauch von Houellebecq, der über der Szene liegt: Don Giovanni scheint durch die Tristesse erotischer Tauschgeschäfte in allerlei Swingerclubs hindurchgegangen zu sein und mit Donna Anna ein dunkles bzw. ledernes Geheimnis zu teilen. Langeweile liegt über dem ausgereizten Leben, und der kühle Chic der Kostüme trägt zu dieser rastlosen Endzeitstimmung bei. Die genitale Radikalität seines Regie-Kollegen Calixto Bieito ist dabei Georges Delnons Sache nicht - dazu ist er wohl zu sehr Ästhet, der für die Sinnlichkeit durchaus noch verführerische Bilder findet: Mit Video-Projektionen traumhaft illuminierte Guck-Kästen schieben sich über die Bühne. Sie zeigen zum Beispiel Donna Elviras Zofe als lebendigen Rückenakt oder Schlüsselszenen, in denen Mozarts Figuren in intensiver Personenführung ganz nah herangeholt werden, ohne an mythischer Zeitlosigkeit zu verlieren. Ästhetisches Wohlgefallen überwiegt, und die Zustimmung des Publikums wird im lang anhaltenden Schlussbeifall nur von wenigen Buhrufen getrübt.

Delnons Don Giovanni ist ein Jäger und Sammler, der als Trophäe seiner Eroberung offenbar gerne einen Schuh mitgehen lässt. Da kommt, wenn Leporellos berühmte Zählung stimmt, eine ganze Menge zusammen: 2065. Gemeinsam mit seinen Schuhkartons wird der Fetischist am Schluss auf dem Laufband entsorgt. Die Laufbänder sind das szenische Äquivalent zum gnadenlosen Fluss der Zeit, die Giovanni in seinem erotischen Konsumverhalten zugleich spiegelt und aufhalten will - eine fabelhafte, auf industrielle Fließbandproduktion verweisende Metapher, mit der auch auf witzige Weise gespielt wird: Rechts fängt die Verführung an, und gerade noch rechtzeitig, bevor die erotisch verstrickten Paare sich ganz entblättern, verschwinden sie links auf der Seitenbühne. Wirklich Zeit hat hier niemand. Fast wie im wirklichen Leben.

 

Rhein Zeitung
16.1.2006

Mainz: "Don Giovanni" leitet Abschied von Delnon ein
Auf dem Lauf­band der Emotionen

Im Mainzer Theaterfoyer hängen Fahnen mit den schnörkellosen Großbuchstaben "G" und "D". Rätselfrage: Wofür stehen sie? An diesem Abend mal nicht für das Mode­label "Dolce & Gabbana", sondern zunächst für "Don Giovanni" - und für den Regie führen­den Intendanten Georges Delnon, der Ende der Saison nach zehn Jahren Inten­danz in Rhein­land-Pfalz ans Theater Basel wechselt.


Don Giovanni in Aktion: In Mainz ist der Weiber­held Mozarts und seines Librettisten Lorenzo da Ponte ein krankhafter Sammler von Quickies und - Frau­enschuhen.
Foto: Bettina Müller

MAINZ. Kleine Irritation zum Schlussapplaus: Wo bleibt Delnon? Zweimal, dreimal werden die Sänger und die Dirigentin durchgewunken, vom Regie­team keine Spur. Dann schließlich gehen alle ab, Georges Delnon und seine für Kostüm und Bühnenbild mitverantwortlich zeichnende Gattin Marie Thérèse Jossen holen sich Bravos ab - aber auch deutliche Buhs. Ende der letzten originären Mainzer Premiere des scheidenden Intendanten, der von 1996 bis 1999 in Koblenz für ein kleines Theaterwunder gesorgt hatte und seitdem in und für Mainz den Begriff "Staatstheater" in Experimenten und Kooperationen inhaltlich und ästhetisch geweitet und erfüllt hat.

Lang erwartete Produktion

Vermutlich nicht das Ende, das sich Georges Delnon erhofft hatte - aber vielleicht war er einfach schon zu lange mit diesem "Don Giovanni" schwanger gegangen, der eigentlich in jeder Mainzer Spielzeit schon einmal gerüchteweise erwartet worden war. In einer Hinsicht hat sich das Warten gelohnt: Die Oper ist komplett aus dem Haus besetzt - in einer Qualität, die sich selbstbewusst mit manch großem Haus messen kann.

Wer die Regiearbeiten Georges Delnons mit Wohlwollen verfolgt hat, wird sich auch in diesem "Don Giovanni" wohl fühlen: Die eindrucksvollen Bilder, das Auffächern der Handlung in Kaleidoskope von Einzelaffekten führen auch diesen Mozart auf eine ganz individuelle Lesart zurück, und über diese kann man in dieser Produktion streiten.

Dass Delnon mit gewohnten Giovanni-Klischees aufräumt - davon war auszugehen. Zur Hauptfigur bezieht er Stellung: Dieser Frauenheld ist ein Getriebener, dem am letzten Tage seines Lebens das Kartenhaus aus Lügen und Verstellungen gründlich zusammenfällt. Die Ex-Frau Elvira fordert Rechte ein und hofft und sehnt bis zuletzt, die im Vorübergehen verführte Anna ist empfindlich herausgehoben aus ihrem langweiligen Alltagsleben an der Seite des kreuzbiederen Ottavio. Das Spannungsfeld zwischen Eros und Tod ist in Mainz ein Kriegsfeld der emotionalen Verwundungen - von knisternder Erotik oder großer Verführungskunst keine Spur: Noch im Angesicht des Todes und der anstehenden Höllenfahrt vollzieht Giovanni mehr an als mit der leidend duldenden Elvira einen Mitleid erregenden Akt der Verzweiflung.

Für das Bühnenbild ist ein technischer Gag bestimmend, der den Abend über weite Strecken trägt: Laufbänder, wie man sie von Flughäfen kennt, dienen für (oft recht wacklige) Auf- und Abtritte der Handelnden, fahren die Requisiten eines Lebens wie auf einem Sushi-Förderband vorbei. Das gelingt mitunter brillant, wenn etwa im Stau der Einkaufswagen an der Supermarktkasse kein Entrinnen ist, wenn zum Konzert beim Festmahl ein paar Orchestermitglieder über die Bühne gefahren werden oder zum Tode Giovannis der ganze Wohlstandsmüll dieses tollen Tages vorbeifährt.

Dass Don Giovanni ohne großes illusionistisches Bühnenbild wunderbar funktionieren kann, beweist diese technisch aufwändige und hochfein geleuchtete Produktion spielend - dass in dieser Hinsicht weniger noch mehr sein kann, hat zuletzt Sandra Leupold in Heidelberg gezeigt: Ganz ohne Bühnenbild, mit sparsamsten Kostüm-Versatzstücken und intensivem Kammerspiel.

Dass in Mainz Regisseur Delnon dem moralisierenden Finale misstraut, ist mit der Separation der Figuren gut zu erahnen - eine weit stärkere Infragestellung, nämlich das Abspielen des so aufgesetzt wirkenden Schlusses vom Band, hatte Delnon schon in seiner sensationellen "Così fan tutte"-Deutung verbraten.

Im Fragezeichen hinter dem Mainzer "Don Giovanni", das sich im nicht gerade frenetischen Applaus manifestierte, sollten die Solistenleistungen nicht untergehen: Für die Titelrolle dürfte manchem Zuhörer Richard Morrison ein Stück zu kultiviert sein. Trotzdem: Feinsinniger kann man das Ständchen des Giovanni wohl kaum hören, und ein überzeugender Verführer ist der Bariton allemal. Als sein Diener Leporello macht Hans Otto Weiß eine überaus gute Figur: Ein Sänger, der unter Generalmusikdirektorin Catherine Rückwardt zu neuer stimmlicher Konzentration bei gewohnt großer Bühnenpräsenz gefunden hat.

Veränderungen im Ensemble

Der neue Bass im Ensemble, Tobias Schnabel, führt als Komtur und Masetto eine Qualitätsstimme vor, die auf künftige Rollen neugierig macht. Die Damenriege punktet mit Patricia Roach, die als Donna Elvira sopranklare Spitzen der Hysterie setzt - und mit Kerrie Sheppard, die ihre große Stimme Jahr für Jahr besser zu dosieren versteht und mit glänzend ausgeglichenem Mozartgesang überrascht. Schließlich Janice Creswell als Zerlina nahe an der Perfektion und John Carlo Pierce als überaus gepflegt singender Don Ottavio: Der neue Intendant muss schon eine überragend gute Koloratursoubrette und einen überdurchschnittlichen Mozarttenor im Gepäck haben, um diese beiden Sänger zu ersetzen, die dem Vernehmen nach nicht in Mainz bleiben.

 

Darmstädter Echo
16.01.2006

Wie man Zeit verspielt
Musiktheater: Georges Delnon inszeniert im Staatstheater Mainz Mozarts Oper „Don Giovanni" als moderne Moritat

Von Heinz Zietsch

MAINZ. Don Giovannis Uhr ist abgelaufen. Bereits während der Ouvertüre, die Generalmusikdirektorin Catherine Rückwardt mit viel Gespür für Nuancen, Dynamik, Tempo und Instrumentation dirigiert, läuft sie von Null an rückwärts. Don Giovannis Zeit ist um. Doch er ist ein junger Mann, kein alter, wie man bei diesem Ansatz denken könnte. Und er kriegt nichts mehr richtig hin. Schade um ihn, den vornehmen Dandy. Am Ende, bevor der kopflose Komtur ihn zur Hölle führt, muss Giovanni seine angestaute Sexualität loswerden und vergewaltigt Donna Elvira.

Georges Delnon, der Intendant des Staatstheaters Mainz und der Regisseur von Mozarts Oper, lässt das Stück in unserer schnelllebigen Gegenwart spielen mit Laufbändern, Videoshow-Wänden, Golden Girls und Glamour (Kostüme: Marie-Thérèse Jossen) aus dem Showgeschäft. Viel glitzernde Oberfläche und nichts dahinter. Nach der dreieinviertel Stunden dauernden Premiere am Samstag im Großen Haus des Staatstheaters Mainz bekommt der Regisseur vom Publikum die Quittung: Seine Inszenierung wird ausgebuht.

Delnon geht vom Finale aus, das die Moral der Geschichte enthält: „So endet, wer Böses tut." Der Regisseur macht dann aus dem Stück eine moderne Moritat vom Leben eines Wüstlings – heißt doch der originale Titel von Mozarts Oper übersetzt „Der bestrafte Wüstling oder Don Giovanni".

Leporello ist, im Gegensatz zu seinem noblen Herrn, ein arbeitsloser schräger Vogel. Wie in einer Moritat wird auf fast blanker Bühne Bild um Bild entfaltet. Die Menschen hausen in engen, hin und herschiebbaren Kästen, in die Videos eingespielt werden, wobei durch raffinierte Lichtregie auch mal silhouettenartige Wirkungen entstehen. Auf dem Boden liegt ein riesiger Setzkasten. Tatsächlich behandelt Delnon die Figuren wie Typen, die sich nicht weiter entwickeln, weil sie alle auf Don Giovanni konzentriert sind. Noch nicht einmal die Frauen können ihm Paroli bieten. Der Text der italienisch gesungen Oper läuft dabei über ein Spruchband mit, während am oberen Bühnenrand die deutsche Übersetzung mitgelesen werden kann. Personenregie findet kaum noch statt.

Entwicklung und feine Schattierungen bieten zum Glück die Musiker unter Catherine Rückwardt. Ihr Tempo ist straff und wenn nötig auch schroff, dennoch fördert sie viele spannende Details zutage. An diesem musikalischen Strang ziehen auch die Sänger, allen voran Richard Morrison in der Titelrolle, der in seiner betörenden Serenade an Donna Elviras Zofe ein Kabinettstückchen feinster Schattierungskunst abliefert. Mit wohltönend voller Stimme gestaltet Hans-Otto Weiß die Partie des Leporello. Die beiden drängen die Frauenstimmen fast in den Hintergrund, obgleich Kerrie Sheppard als Donna Anna, Patricia Roach als Donna Elvira und Janice Creswell für Höhenglanz sorgen.

Delnons vordergründige moderne Sicht hat „Don Giovanni" keineswegs näher gerückt. So lässt sich auch Zeit verspielen, auf die der Regisseur gleich zu Beginn seiner Inszenierung gesetzt hat.

 

Allgemeine Zeitung
16.01.2006

Ein Verführer auf dem Fließband
Georges Delnon inszeniert "Don Giovanni" / Großer Erfolg für Mainzer Staatstheater-Ensemble

Di Volker Milch


Berückende Bilder - die getäuschte Elvira (Patricia Roach) und Leporello (Hans-Otto Weiß) in Don Giovannis Kleidern.
Foto: Bettina Müller

MAINZ "Tempo non ha" meint der verängstigte Leporello am Ende des "Don Giovanni", sein Herr habe keine Zeit. Und bevor das Standbild des Komturs mit eiskaltem Händchen und ebensolcher Stimme seiner Einladung ins Jenseits Nachdruck verleiht, nutzt der Verführer in Georges Delnons Inszenierung die Restzeit auf seine Art: Ein brutaler Quickie ist seine erotische Henkersmahlzeit - die Zeche aber zahlt die weinende, als Fastfood missbrauchte Donna Elvira. Keine Frage: Delnon hat Mitleid mit seinen Figuren.

Kurz vor Mozarts 250. Geburtstag feiert das Mainzer Staatstheater den Komponisten ohne Puder und Perücke. Im Großen Haus bleibt sich der scheidende Intendant in Zusammenarbeit mit der Kostümbildnerin Marie-Thér´Zse Jossen auch als Bühnenbildner treu: Ein karger schwarzer Kasten, in dem der Countdown einer Digitaluhr sogleich das Thema Zeit exponiert. Im Hintergrund spielt Lorenzo da Pontes geniales Libretto als Laufband eine Hauptrolle, während Generalmusikdirektorin Catherine Rückwardt mit dem Philharmonischen Orchester für einen im Detail noch zu schärfenden, insgesamt aber frischen, inspirierten Mozart sorgt.

Ganz erstaunlich ist die Leistung des Ensembles: Kerrie Sheppard gibt eine Donna Anna mit wunderbar beseeltem Ausdruck und überzeugend dramatischer Emphase. Als starke Frau mit fataler Schwäche für Don Giovanni zeigt sich die Donna Elvira der Patricia Roach, und Janice Creswell ist eine zarte, vokal bewegliche Zerlina. Die Herren müssen sich hinter den Damen nicht verstecken: Hans-Otto Weiß als voluminöser Leporello von starker Bühnenpräsenz - ein sinistres Endspiel-Faktotum mit Sonnenbrille und Mütze. Der (auch stimmlich) gut gebaute Masetto des Tobias Schabel macht Don Giovannis erotischem Fluidum durchaus Konkurrenz. Ein sensibel gestaltender und angenehm timbrierter Don Ottavio ist John Carlo Pierce. Richard Morrisons Don Giovanni singt fast ein wenig zu schön, um wahr zu sein. Den zarten, verführerischen Ton im Duettino "La ci darem la mano" trifft er sehr gut, in der Champagnerarie wünscht man sich mehr anarchische Elementargewalt.

Auf der anderen Seite passt erotisches Schwächeln zu dem Hauch von Houellebecq, der über der Szene liegt: Dieser Don Giovanni scheint durch die Tristesse erotischer Tauschgeschäfte in allerlei Swingerclubs hindurchgegangen zu sein und mit Donna Anna ein dunkles Geheimnis zu teilen. Der kühle Chic der Kostüme trägt zur Endzeitstimmung ausgereizten Lebens bei. Die genitale Radikalität seines Regie-Kollegen Calixto Bieito ist dabei Georges Delnons Sache nicht - dazu ist er wohl zu sehr Ästhet, der für die Sinnlichkeit durchaus noch verführerische Bilder findet: Mit Video-Projektionen traumhaft illuminierte Guck-Kästen wandern über die Bühne. Sie zeigen zum Beispiel Elviras Zofe als lebendigen Rückenakt oder Schlüsselszenen, in denen Mozarts Figuren in intensiver Personenführung ganz nah herangeholt werden, ohne an mythischer Zeitlosigkeit zu verlieren.

Giovanni ist Jäger und Sammler, der als Trophäe offenbar gerne einen Schuh mitgehen lässt. Da kommt, wenn Leporellos berühmte Zählung stimmt, eine ganze Menge zusammen: 2065. Gemeinsam mit seinen Schuhkartons wird Giovanni am Schluss auf dem Laufband entsorgt. Die Laufbänder sind das szenische Äquivalent zum gnadenlosen Fluss der Zeit, die Giovanni in seinem erotischen Konsumverhalten zugleich spiegelt und aufhalten will - eine fabelhafte, auf Fließbandproduktion verweisende Metapher, mit der sich witzig spielen lässt: Rechts fängt die Verführung an, und gerade noch rechtzeitig, bevor die Paare sich ganz entblättern, verschwinden sie links auf der Seitenbühne. Wirklich Zeit hat hier niemand. Aber das Mainzer Publikum nimmt sie sich: für lang anhaltenden Beifall.

 

OFFENBACH POST
17 Januar 2005

Mozarts Macho im Kampf mit der Zeit
Georges Delnon zeigt "Don Giovanni" am Staatstheater Mainz als vom Schicksal getriebenen Wüstling

Die Mozartologen streiten sich seit der Prager Uraufführung des "Don Giovanni" im Jahre 1787 wie der aus dem italienischen Original übersetzte vollständige Titel lautet. Hat Mozarts kongenialer Librettist Lorenzo Da Ponte in der ersten Szene die von dem zügellosen Edelmann Don Giovanni begehrte Donna Anna nun als erobert zeigen wollen, bevor der väterliche Komtur als bestürzter Rächer den Duelltod erleidet, oder hat er nicht?

In der als Beitrag zum Mozartjahr gedachten Neuinszenierung am Staatstheater Mainz kommen da eigentlich keine Zweifel auf: Der spanische Draufgänger, im modischen Gammel-Look des Jubeljahres 2006, steht peinlicherweise ohne Hose an der Rampe, und auch die Aufmachung der begehrten Dame nebst ihren ausgestellten Zärtlichkeiten lässt an Eindeutigkeit kaum zu wünschen übrig.

Auf Diskretion hat es Regisseur Georges Delnon, Intendant des Mainzer Theaters seit 1999, nicht angelegt. Die vordergründig derb erotische Inszenierung ist seine letzte Regiearbeit in Mainz, das er zur nächsten Spielzeit in Richtung Basel verlassen wird. Delnon, sonst zumeist mit Ur- oder Erstaufführungen befasst, kehrt mit "Don Giovanni" zu einer Repertoireoper zurück und knüpft damit an seinen Mainzer Einstand mit "Così fan tutte" an. Er hat das düstere Drama nicht aufgehellt, aber versucht, die früher auf einen unerreichbaren Sockel gehobene "Oper aller Opern" zu entmythologisieren.

Seine Grundmelodie ist die unerbittlich verrinnende Zeit in einer kalten, dunklen Welt, die durch keinerlei äußerliche historische Zugeständnisse anschaulich gestaltet ist (mitverantwortlich für Regie, Bühne und Kostüme: Marie-Therèse Jossen). Schwarzes Gestänge, Laufbänder, zuweilen belichtete rechteckige Aufbauten, in manchen Szenen mit Video-Hintergrund, beherrschen die Bühne, während zu Beginn und zum Finale eine übergroße Digitaluhr mit einem Sekunden-Countdown, gleich der symbolischen Sanduhr in barocken Stillleben, an das unvermeidliche Ende gemahnt.

Auf den Laufbändern ziehen die Protagonisten vorüber oder werden von einem schwarzen Kasten verschlungen, hinter dem sich Bedeutsames abzuspielen scheint, wie gelegentliche Lustschreie nahe legen. Dass der nicht besonders charmante Wüstling an einem Tick leidet, wird bald offenkundig: Er hat einen Schuh-Komplex. In einer hie und da aufscheinenden Asservatenkammer türmen sich Kartons mit den Trophäen seiner von Diener Leporello mit bürokratischem Eifer aufgezeichneten Affären: den Damen fehlt nach der Begegnung mit dem spanischen Macho ein Schuh.

Die trotz allem immer noch in Liebe ergebene Elvira gibt sich kurz vor Schluss gar am Bühnenrand dem Don Giovanni, nachdem dieser (nicht besonders dämonisch agierend, dafür ansprechend singend: Richard Morrison) mehr beiläufig die berühmte Lobpreisung der Frauen und des Weins zum Besten gegeben hat. Leporello (Hans-Otto Weiß) sucht unterdessen dringend nach einem Fluchtweg, den die mehrfach betrogene Donna Elvira, von der Sopranistin Patricia Roach ausgezeichnet verkörpert, vor der finalen Katastrophe gerade noch gefunden hat, während die zwiespältige Donna Anna (Kerrie Sheppard, eindrucksvoll vor allem in ihrer letzten Arie) den nur gelegentlich leicht aufmuckenden Liebhaber Don Ottavio (John Carlo Pierce) erneut vertröstet. Vor Spielfreude sprühen Zerlina und Massetto (Janice Cresswell und Tobias Schabel, in einer Doppelrolle zugleich der Komtur), die mit ihrem jugendlich-leichten Sopran und ausdrucksvollem Bass Lust und Leid der naiven und zugleich vitalen Liebenden eindringlich vermitteln.

Mit dem Schlusssextett der Hinterbliebenen endet eine ausschließlich vom Mainzer Sängerensemble getragene und vom gediegenen Chor unterstützte beachtliche Neudeutung des ewigen Meisterwerks, dem auch das Philharmonische Staatsorchester unter Catherine Rückwardt, nach anfänglicher Nervosität und etwas undifferenzierten Tempi, kaum etwas schuldig blieb.

EBERHARD MITTWICH