Frankfurter Allgemeine Zeitung
23. Oktober 2005

OPER
Konstanze auf Shopping-Trip
Kochheim inszeniert Mozarts „Entführung"

Penelope soll ihrem Gatten Odysseus während der zwanzig Jahre seiner Abwesenheit treu geblieben sein. In Mozarts Oper „Cosi fan tutte" bemißt sich die Haltbarkeit dieses Zustandes der Ausschließlichkeit in Stunden. Wie aber verhält es sich mit der Treue bei den Personen von Mozarts erster Erfolgsoper, der „Entführung aus dem Serail"?

Hier hört die weibliche Hauptrolle auf den Namen Konstanze und hält entsprechend standhaft zu ihrem Geliebten Belmonte. Seit sie in den Besitz des Bassa Selim gekommen ist, umwirbt dieser sie ausdauernd und überwiegend sehr kultiviert, umgibt sie mit den schmeichelhaften Attributen eines gediegenen Luxus. Das stimmt die junge Dame nicht grundsätzlich um, setzt sie jedoch gewissen Anfechtungen aus. Bei seiner Neuinszenierung am Staatstheater Darmstadt spielt Philip Kochheim diesen letzten Aspekt im eigenen, kühl-luxuriös designten Bühnenbild lustvoll aus.

Seine Konstanze (Eleonore Marguerre) kommt bei ihrem ersten Auftritt gerade vom Shoppen zurück. Der ältliche, mit den Tüten diverser Luxusboutiquen behängte Selim (Harald Schneider) hechelt hinterher. Natürlich funktioniert eine solche Beziehung nicht. Sie verrennt sich in einem Labyrinth von Ersatzhandlungen und Fetischisierungen. Kochheim setzt diese virtuos in Handlungen und Bilder um. Das Zwerchfell hat ordentlich Futter. Zunächst jedenfalls, denn die tatsächlich verhandelte Konstellation entspricht in etwa der Paarung Musetta/Alcindor aus Puccinis „La Boheme". Was dort zu Recht Episode bleibt, wird in Darmstadt in aller Breite thematisiert und zur vermeintlich neuen Sicht auf ein altes Werk stilisiert.

Die Regie gibt vor, die widersprüchliche Vielschichtigkeit des Bühnenpersonals herauszuarbeiten, ersetzt die gesprochenen Originaltexte durch einen modernen Slang und wirft für unbeachtlich gehaltene Handlungsteile einfach über Bord. Was dabei herauskommt, ist eine frappierend geistesschwache Eindimensionalität. Im Original bewegt sich Belmonte materiell auf Augenhöhe mit seinem männlichen Rivalen, ist diesem in charakterlicher Hinsicht tendenziell aber unterlegen. Es ist vorstellbar, daß sich Konstanze nach dem Abklingen der romantischen Hochgefühle an seinen despotischen Zügen und seiner besitzergreifenden Eifersucht aufreiben wird. In Darmstadt weist der Dresscode den im hellbraunen Cordanzug daherkommenden Belmonte hingegen als nur bedingt parkettauglichen, eher finanzschwachen Romantiker aus. Selim gibt alternativ den Geldsack, der die mondänen Gelüste seiner Geliebten locker finanzieren, ihr aber leider nicht zuhören kann. Ein häufig, aber eben in der „Entführung" so gerade nicht behandeltes Klischee.

Osmin (Dimitry Ivashchenko) und Blonde (Andrea Bogner) leiden gleichermaßen an perspektivischer Auszehrung. Lediglich der von Jordi Molina locker-flockig gegebene Pedrillo rettet seinen ursprünglichen Charme in die oktroyierte Jetztzeit hinüber.

Nun ließe sich annehmen, das Aufeinanderprallen von originaler Handlung und Mozarts Musik mit einer radikal aktualisierten Bearbeitung entbinde durch das Mittel der Provokation neue Erkenntnisse. Ansätze hierzu scheinen sich zu Opernbeginn anzudeuten. Doch den dafür nötigen Entfaltungsraum konzediert Kochheim, von der Fülle eigener Einfälle geblendet, der Musik nicht. Die Qualität der musikalischen Ausführung spendet nur bedingt Trost. Das Orchester des Staatstheaters spielt unter der Stabführung von Timor Oliver Chadik häufig sehr ansprechend, leistet sich in der klanglichen Zeichnung jedoch Schwächen. Der Abstimmung mit dem Bühnenpersonal fehlt es erkennbar an Routine, und die gesanglichen Leistungen bewegen sich im Mittelfeld.

Eine belastbare Gegenposition zum selbstverliebten Regietreiben läßt sich daraus nicht aufbauen und so präsentiert sich die neue Darmstädter „Entführung" im Resultat als krude Mischung aus handwerklicher Exzellenz und exegetischem Dilettantismus.

BENEDIKT STEGEMANN

 

Frankfurter Rundschau
25. Oktober 2005

Konstanzes neuer Freund

STEFAN SCHICKHAUS

"Betrug!" rief einer aus dem Publikum auf die Bühne des Staatstheaters Darmstadt, als dort gerade das Finale von Mozarts Singspiel Die Entführung aus dem Serail verklungen war. "Betrug!" - und er hatte durchaus Recht. Betrogen konnten sich auch all die anderen Buh-Rufer fühlen, betrogen um einiges alt Gewohntes. Um die Türken-Oper zum Beispiel, denn die findet in Darmstadt nicht statt. Oberspielleiter Philipp Kochheim hatte hier alles eliminiert, was auf Muselmann, Serail und den "Clash of Civilizations" hindeuten könnte. Betrogen auch um den Chor, denn wenn Bassa Selim kein Großmächtiger ist, muss man ihm auch keine Huldigungslieder singen.

Betrogen schließlich noch um die üblichen Zwischentexte, jene "Gift und Dolch"- Dialoge, die jede Entführung zur Klamotte werden lassen ... Kochheims Entführung aus dem Serail ... bekommt so den Bogen ins Tragische und Hoffnungslose, wie ihn bislang nur gute Regisseure mit der Cosí fan tutte zu schlagen vermochten. Alles andere, das macht Kochheim mehr als deutlich, jedes "lieto fine" wäre Selbstbetrug.

Die Überraschung des Pedrillo (Jordi Molina), als er seinen Freund Belmonte (Andreas Wagner) wiedersieht, ist gering. Denn anders als bei Mozart vorgesehen, war dieser Belmonte nicht Jahre unterwegs, um den Serail zu suchen, in den seine Braut Konstanze von Bassa Selim entführt worden war. In Darmstadt ist Konstanze nun in einer neuen Beziehung, Belmonte ein Relikt aus ihrer Vorzeit. Sicher, bei Bassa Selim, der ihr einen goldenen Käfig gebaut hat, ist sie nicht glücklich, doch auch die Zeit mit Belmonte ist vorüber. Sie ist es, die am Ende alleine auf der Bühne übrig bleibt, alle haben sich von ihr abgewendet. Betrug, in der Tat.

Der goldene Käfig, das ebenfalls von Philipp Kochheim entworfene Einheitsbühnenbild, hat den Bassa sichtlich einiges gekostet. Schuhe, Sushi und Designerroben gibt es im Überfluss, die High Heels im Regal hindern an der Flucht zuverlässiger als ein noch so hoher Zaun ...

 

Frankfurter Neue Presse
24. Oktober 2005

Entführung ohne Happy-End

Von Claudia Arthen

[...] Der Erste Kapellmeister Timor Oliver Chadik setzt Akzente geradezu überpointiert, ungeheuer beweglich und durchhörbar ... Molina und Wagner als Pedrillo und Belmonte sangen zurückhaltend, doch besaßen ihre Stimmen dabei immer noch mehr Präsenz als der unbedingt schöne, aber allzu wenig durchsetzungsfähige Sopran von Eleonore Marguerre ... Anders Andrea Bogner, von der Zeitschrift Opernwelt nun schon zum zweiten Mal zur "Nachwuchssängerin des Jahres" erklärt: Ihre Blonde war eine reine Freude, großer Spielsinn paart sich hier mit einem ganz klaren, immer tragfähigen Sopran.

Fehlt noch der Schauspieler Harald Schneider in der Rolle des Bassa Selim, der in dieser Produktion nicht nur Stichwortgeber sein und den statuarischen edlen Fremden geben darf. Dieser Bassa ist nicht nur reich, sondern auch etwas exzentrisch, er trägt einen Gehrock nach exotischer Mode, könnte an das Muselmanische erinnern. Oder nicht doch eher an Lagerfeld?

Regisseur Philipp Kochheim ... inszeniert ... das Singspiel als pessimistische Beziehungsstudie, die das Happy End der Vorlage ebenso außer Acht lässt wie den Schlusschor "Bassa Selim lebe lange". Am Ende geht nämlich jeder seinen eigenen Weg, und Constanze bleibt einsam und verlassen auf der Bühne zurück. Den Chor hat Kochheim übrigens gänzlich gestrichen, was einige Besucher der Premiere mit enttäuschten Buhs und den Zwischenrufen "Betrug" quittieren.

Constanze schwankt in Kochheims "Entführungs"-Version zwischen dem reichen Kunstmäzen Bassa Selim und dem armen Maler Belmonte. Der eine hält sie in einem ebenso eleganten wie kalten Appartment gefangen und verwöhnt sie mit Luxusklamotten und Designer-Schuhen. Der andere kann ihr nichts als romantische Gefühle bieten. Auch Constanzes Gefährtin Blonde ist hin- und hergerissen: zwischen Pedrillo, der sie aufrichtig liebt, und Osmin, Bassas Leibwächter, der sich als viriler Macho gibt, mit dem die junge Frau auf bisher unentdeckte sado-masochistische Seiten ihres Verlangens stößt. Die Unsicherheit, die alle Protagonisten ausstrahlen, wird besonders in der Schlüsselszene deutlich: Da sitzen Constanze, Belmonte, Blonde und Pedrillo minutenlang stumm auf Bänken und haben sich außer Floskeln nicht viel zu sagen - zum großen Unmut einiger Premierenbesucher.

Kochheims Ansatz und die neue Dialogfassung des Mozartschen Werkes, die, gelegentlich etwas zu flapsig, die Liebeswirrungen der Protagonisten ganz ins Heute transportiert, können durchaus überzeugen. Und trotz mancher überflüssiger Gags und einiger Ungeschicklichkeiten der Personenführung inszeniert Kochheim nicht gegen Mozarts Musik, die auch ohne Tschingderassabum gefangen nimmt - vor allem die Arien, die zu den technisch anspruchsvollsten und psychologisch ausgefeiltesten der Literatur gehören.

Eleonore Marguerre als Constanze und Andreas Wagner als Belmonte beherrschen Mozarts Spitzentöne und Koloraturen meisterlich. Den drei buffonesken Nebenrollen lauscht man auch mit Vergnügen, allen voran Dimitry Ivashchenko als Osmin und Andrea Bogner als Blonde. Und Harald Schneider interpretiert die Sprechrolle des Bassa so, dass man an der Figur auch liebenswerte Seiten entdeckt. Timor Oliver Chadik dirigiert ein schlank und federnd aufspielendes Orchester und erweist sich bei den Arien als orchestral-psychologischer Feinzeichner.

 

OFFENBACH POST
25. Oktober 2005

Nur eine belanglose Beziehungsgeschichte
Mozarts "Entführung" in Darmstadt krampfhaft aktualisiert

Am Ende jubelt der Janitscharenchor: "Bassa Selim, lebe lange, Ehre sei sein Eigentum." Oder er jubelt eben nicht. Weil ein Regisseur ihn einfach gestrichen hat. Wie jetzt im Staatstheater Darmstadt, wo Mozarts Singspiel "Die Entführung aus dem Serail" in der Inszenierung von Philipp Kochheim Premiere hatte: "Wir haben alles rausgeworfen, was ablenkt von diesem durch die Musik vertieften Wechselbad der Gefühle", erklärt der Regisseur im Programmheft, und man ist fast dankbar, dass wenigstens die Janitscharenklänge der Ouvertüre, die das Orchester unter der Leitung von Timor Oliver Chardik so frisch und exakt musiziert, seine Gnade gefunden haben.

Gewiss: Der türkische Spielort der Oper ist in der Tat einer Mode der Mozart-Zeit geschuldet; das Drama kann sich letztlich an jedem beliebigen Ort abspielen, auch in einem modern und mondän möblierten Raum, wie er sich in diesem Palast des Bassa Selim (Harald Schneider) hinter Glasscheiben öffnet. Konstanze hat sich hier offenbar gut eingelebt, lässt sich vom Monarchen mit Markenkleidern und Unmengen neuer Schuhe aushalten. Und wenn ihr Belmonte im braunen Cordanzug (Kostüme: Bernhard Hülfenhaus) schüchtern des Weges kommt, glaubt man tatsächlich, dass sie sich gar nicht so gern aus diesem Gefängnis retten lässt, dessen Wächter Osmin hier als russischer Mafioso auftritt.

So weit, so gut. Wahrscheinlich hat Regisseur Kochheim nicht einmal Provokation im Sinn, wenn er die "Entführung" so spielen lässt, wie sie heute möglicherweise ablaufen könnte. Kaum erträglich ist es jedoch, wie in der Darmstädter Fassung das Geschehen mehr und mehr ins Banale abgleitet. Die Dialoge, in dieser Inszenierung "vom Ensemble", sind nichts anderes als das Alltagsgeplauder einer im Luxus vor sich hin lebenden Gesellschaft; die Inszenierung überbrückt den Spannungsabfall durch laue Gags wie dem Herumspritzen mit Sonnenmilch. Es stimmt etwas nicht, wenn man in Konstanzes "Martern"-Arie nicht im Ansatz nachvollziehen kann, welche Qualen sie wofür in Kauf zu nehmen bereit ist; die Musik ist längst bloße Begleiterscheinung geworden. Und als die Paare Blonde/Pedrillo und Konstanze/Belmonte, anstatt zu fliehen, minutenlang schweigend auf Bänken sitzen hat sich diese "Entführung" offensichtlich totgelaufen. Am Schluss wird Konstanze von Bassa Selim und Belmonte einfach stehen gelassen: Ende einer belanglosen Beziehungs-Story.

Auch die vokalen Leistungen überzeugen nur zum Teil: Dimitry Ivashchenko singt den Osmin mit inakzeptablen Tempo-Freizügigkeiten, Eleonore Marguerre wirkt als Konstanze (bei völliger Text-Unverständlichkeit) in der Höhe angestrengt. Andreas Wagner gibt einen auch vokal eher schmächtigen Belmonte, zuverlässig immerhin Andrea Bogner als silbrig singende Blonde und Jordi Molina als wendiger Pedrillo.

AXEL ZIBULSKI

 

Darmstädter Echo
24.10.2005

„Die Entführung aus dem Serail" von Wolfgang Amadeus Mozart
Philipp Kochheims Darmstädter Inszenierung lässt das Textbuch hinter sich und verdient doch Respekt

Von Johannes Breckner


LIEBE LÄSST SICH NICHT ERZWINGEN,aber teure Geschenke erhalten wenigstens die Freundschaft: Eleonore Marguerre als Konstanze, Harald Schneider als Bassa Selim in „Die Entführung aus dem Serail". Philipp Kochheim hat Mozarts Singspiel in Darmstadt inszeniert; die Aufführung folgt einer ähnlichen Inszenierung, die der Regisseur vor zwei Jahren in Pforzheim erarbeitet hatte. (Foto: Barbara Aumüller)

DARMSTADT. Es lebe die Liebe. Gerade noch haben zwei Paare das Band beschworen, das die Welt zusammenhält. Sie sind dazu auf Bänke gestiegen, Denkmäler der Botschaft, die sie herausgeschmettert haben. Jetzt ist Mozarts Musik zu Ende, das Kraftwerk der Gefühle ist erloschen, und das Quartett steht im fahlen Licht wie bestellt und nicht abgeholt.

Konstanze und Belmonte, Blonde und Pedrillo sind im Alltag angekommen. Die Zweifel, die sie aneinander haben, stehen zwischen ihnen. Zu lange war die Zeit der Trennung, zu sehr hatten die Frauen sich mit neuen Partnern gut arrangiert.

Von der Liebe zu wissen, ist das eine. Sie aber zu spüren und auf den anderen zugehen zu können, lässt sich vom Verstand nicht erzwingen. Blonde und Pedrillo werden es wohl noch einmal schaffen. Aber Konstanze und Belmont zerrinnt die neu gewonnene Liebe zwischen den Fingern. „Es lebe die Liebe", fleht die traurige Konstanze noch einmal, wenn die Oper eigentlich schon aus ist. Aber da ist Belmonte schon gegangen.

Das steht so nicht bei Mozart und schon gar nicht in dessen Textvorlage. Dass „Die Entführung aus dem Serail" weitaus schwieriger plausibel zu erzählen ist, als es die einfache Geschichte zunächst vermuten lässt, hat schon Generationen von Regisseuren beschäftigt. Die gesprochenen Dialoge lassen sich heute kaum mehr auf die Bühne bringen, ohne unfreiwillige Heiterkeit zu riskieren. Und die krause Geschichte wäre weiter nicht der Rede wert, gäbe es nicht den verstörenden Kontrast zu dem Seelendrama, das Mozart in manchen der Musiknummern zeichnet.

So ist mit dieser Oper allerhand angestellt worden. Mal hat man den Konflikt zwischen Orient und Okzident gerückt, mal sah Osmin aus wie ein islamischer Teroristenführer, mal regierte der Jux, dann wieder der Ernst wie bei Ruth Berghaus’ radikal nach innen gewandter Interpretation 1981 in Frankfurt.

Ein solcher Meilenstein der Deutungsgeschichte ist Philipp Kochheims Darmstädter Inszenierung nicht, doch ist sie radikal auf ihre Weise. Kochheim weicht den Schwierigkeiten mit dem Text aus, indem er großzügig über ihn hinweggeht. Die gesprochenen Dialoge sind so knapp wie möglich gehalten und neu geschrieben. Pedrillo begrüßt seinen Kumpel Belmont mit einem fröhlichen „Alles klar, Alter?", und wenn Konstanze und Bassa Selim es sich daheim gemütlich machen, fragt der Hausherr: „Möchtest Du einen Drink, oder wollen wir gleich?" Der lässige Tonfall passt zu der Geschichte, die Kochheim erzählt und die mit der Mozart-Oper nur noch die Grundzüge gemeinsam hat.

Konstanze lebt keineswegs im fernen Orient, sondern im Haus des offenbar schwerreichen Bassa Selim, der sich Osmin als Leibwächter und Pedrillo als Faktotum leisten kann. Bassa liebt Konstanze – und Harald Schneider porträtiert den unglücklichen Mann, dem es nicht gelingt, seine Gefühle anders zu zeigen als durch den großzügigen Einsatz der Kreditkarte, weshalb das Wohnzimmer in Kochheims Bühnenentwurf bis in die Farbabstimmung so ausschaut wie ein Schuhgeschäft der Edelmarke Prada, das der Fotograf Andreas Gursky zur Kunst erhoben hat. Konstanze genießt diese Form der Zuneigung durchaus.

Sie nutzt sie auch aus. Sie spürt zugleich, dass sich Gefühle nicht zwingen lassen. Als der frühere Geliebte Belmont wieder auftaucht, der, wie Kostümbildner Bernhard Hülfenhaus erkennen lässt, weitaus preiswerter einzukaufen pflegt, lernt sie auch die Lektion, dass sich alte Liebe nicht beliebig aufwärmen lässt. Zu dieser Interpretation passt es nicht schlecht, dass der schöne Sopran von Eleonore Marguerre seine Koloraturen nicht nur spielerisch leicht produziert, sondern gleichsam einbindet in die dramatische Schärfe.

Was Kochheim erzählt, ist gewiss keine sehr raffinierte Story. Aber sie wird an ihren wichtigsten Wendepunkten beglaubigt durch Mozarts Musik, die von Dingen erzählt wie Angst, Stärke, Hoffnung, Liebe, Unsicherheit, Verzweiflung. Kochheims Inszenierung, die zunächst eher umtriebig angelegt und vordergründig unterhaltsam ist, entwickelt eine starke Konzentration dort, wo die Musik den Singspielton verlässt und Seelentiefen auslotet.

Die Konstanze-Arien sind Studien des Zweifels und der inneren Zerrissenheit, die Eifersuchts-Eintrübung des großen Quartetts, an dessen Anfang die Harmonie doch schon hergestellt scheint, entwickelt mit leisen Tönen eine dramatische Dringlichkeit, der man sich nicht entziehen kann.

In diesen Augenblicken vertraut Kochheim der Ausdruckskraft der Komposition stärker als dem Sinn des Textes. Das würde in jenen Mozart-Opern, die ein stärkeres Libretto und aus ihm eine stringentere musikalische Dramaturgie entwickeln, nicht funktionieren. Undenkbar, beispielsweise den „Don Giovanni" in dieser Weise für eine eigene Erzählung gleichsam auszuschlachten. Aber weil Mozart in der „Entführung" ja vor allem situativ stark ist, kann diese Praxis durchaus angehen.

Bei der Premiere am Samstag stieß die zweieinhalbstündige Aufführung auf geteilte Reaktionen. Heftige Buhrufe und viele Bravos stritten um die Wette. Einig war das Publikum in der Anerkennung der musikalischen Leistung. Andrea Bogner stattete ihre Blonde mit einem schlanken und beweglichen, gleichzeitig angenehm warm gefärbten Sopran aus, Andreas Wagners Belmonte klingt im Verlaufe des Abends zunehmend frei und gelöst, Jordi Molina als Pedrillo ist ein beweglicher und charakterstarker Darsteller, dem vor allem die Romanze wunderschön geschmeidig gelingt.

Und als Bassa Selim bringt Dimitry Ivashchenko einen kultivierten, sicher geführten Bass mit; die fiese Leibwächtertype, die er zeigt, ist erst eine witzige Karikatur, die sich gegen Ende verfinstert, wenn dieser Osmin sich für Blondes Verrat mit brutaler Gewalt rächt.

Das Orchester des Staatstheaters versieht unter Timor Oliver Chadiks Leitung die Partitur mit feinen Akzentuierungen, und weil Kochheim auch die Chöre mit ihren Bassa-Jubelgesängen gestrichen hat, hört man am Ende nur noch deren Begleitmusik: Das jedenfalls ist ein rares Vergnügen.

 

Darmstädter Echo
8.11.2005

Drei Neue für Mozart
Oper: Nahtlos ins Konzept gefügt: Die Zweitbesetzungen bei der „Entführung aus dem Serail" im Staatstheater Darmstadt

Von Klaus Trapp

DARMSTADT. Bei der Sonntagnachmittagsvorstellung von Mozarts „Entführung" im Staatstheater Darmstadt waren drei Rollen neu besetzt. Das Niveau der sängerischen und darstellerischen Rollengestaltung sprach für die Ausgeglichenheit des Darmstädter Opernensembles. In Philipp Kochheims moderner, im Haus eines reichen Mannes spielender Version bewegten sich die Akteure natürlich und treffsicher, sie fügten sich nahtlos auch ins schnittige musikalische Konzept ein, das Timor Oliver Chadik, wie schon bei der Premiere, am Pult mit starkem Einsatz vertrat.

Nathalie de Montmollin gab der Figur der Konstanze schmiegsames Profil. Mit ihrem klaren Sopran überzeugte sie sowohl beim lyrischen Ausdruck wie beim brillanten Koloraturgesang. Die Arien „Traurigkeit ward mir zum Lose" und „Martern aller Arten", die unmittelbar aufeinander folgen, zeigten deutlich die Spannweite ihrer Gestaltungsmöglichkeiten.

Sonja Gerlach war eine quicklebendige Blonde, die ihr Spiel mit den Männern zielsicher betreibt. Mit der Arie „Welche Wonne, welche Lust" gab sie eine gelungene Kostprobe leicht perlenden Mozart-Gesangs. Mark Adler entfaltete als Belmonte tenoralen Glanz, auch wenn hier und da die Intonation nicht ganz exakt war. Feinsinnig zeichnete er die Arie „O wie ängstlich" nach, mit spürbarem Textbezug. Besonderes Lob verdienen die Ensemble-Leistungen, die am eindrucksvollsten im großen Quartett am Ende des zweiten Aufzugs zum Tragen kamen. Hier griffen Spiel und musikalische Deutung besonders eng ineinander. Harald Schneider als Bassa Selim, Dimitry Ivashchenko als Osmin und Jordi Molina als Pedrillo, die bereits bei der Premiere mitgewirkt hatten, sorgten für Kontinuität in der Gesamtdarstellung. Es gab am Sonntag viel Beifall für die Sänger und den Dirigenten, und dies bereits nach jeder einzelnen Musiknummer.

 

egotrip.de
november 2005

Entführung ohne Happy End
Mozarts "Entführung aus dem Serail", in Darmstadt gegen den Strich gebürstet

Die Geschichte kippt in dem Moment, wenn das Publikum sich bereits mit dem Gedanken an die Heimfahrt beschäftigt. Der böse Osmin hat die Flüchtlinge festgesetzt und bedroht sie mit Waffen und Worten "(Oh, wie werd' ich triumphieren..."), man weiß jedoch, dass sich Bassa Selim zur Großmut durchringen und die Liebenden mit allen guten Wünschen nach Hause schicken wird. Nicht so bei Philipp Kochheim und seiner Darmstädter "Entführungs"-Inszenierung. Während noch Bassa Selim (Harald Schneider) mit versteinertem Gesicht die gefesselten und mit Augenbinden für eine Exekution vorbereiteten Gefangenen anstarrt, macht sich Osmin über Blonde her, schlägt den ihr zur Hilfe kriechenden - "eilenden" würde der Situation nicht gerecht werden  - Pedrillo zusammen und schleppt die sich wehrende Blonde von der Bühne. Bassa Selim gibt seine Gefangenen zwar frei, aber eher mit verhaltener Wut und einem bis auf den Grund verletzten Herzen. Und noch während Belmonte und Constance dem Bassa Selim für seine Großmut danken, kriecht Blonde auf die Bühne, offensichtlich von Osmin brutal vergewaltigt. Dieser steht mit verschränkten Armen im Hintergrund, Bassa Selim ignoriert die Tragödie. Belmonte und Konstanze sind entsetzt, Pedrillo führt die zusammengebrochene Blonde still von der Bühne, Belmonte geht - ohne Konstanze - nach rechts ab, und diese bleibt allein auf der Bühne, singt leise die ersten Takte der Arie über die Liebe - Schluss. Kein jubelndes "Ende gut, alles gut", kein Wort von Bassa zu Osmin; dieser triumphiert am Ende tatsächlich.


Andrea Bogner (Blonde), Eleonore Marguerre (Konstanze) Jordi Molina (Pedrillo) und Andreas Wagner (Belmonte)

Diese überraschende Wendung am Ende der Oper zeigt durchaus Konsequenz und ist in sich schlüssiger als der von Mozart und Librettist Stephanie entworfene Ausgang. Die plötzliche Großmut eines schwer in seiner Eitelkeit und Liebe getroffenen Potentaten, der die Macht über Leben und Tod besitzt und obendrein noch in Belmonte den Sohn seines Erzfeindes erkennt, ist eher der inneren Zensur des Librettos geschuldet als der Realität. Ein guter Herrscher war am Wiener Hof allemal besser zu "verkaufen" als ein rachsüchtiger Wüterich. So wurde denn bei Mozart Bassa Selim zum König der Großmut und Osmin zu einem eher kuriosen Großmaul, das keine wirkliche Macht über die beiden Paare besitzt. Regisseur Philipp Kochheim macht jedoch aus diesem Turban tragenden und Krummsäbel schwingenden Kinder-Buhmann einen brandgefährlichen, brutalen Body-Guard der Neuzeit. Sonnenbrille, schwarzer Anzug und schwarzes T-Shirt gehören ebenso zu seinem "Outfit" wie die Pistole im Achselhalfter und die Drahtschlinge zum Erwürgen. Mit seiner geradlinigen, dennoch geschmeidigen Brutalität kontrolliert er sogar seinen Herrn Bassa Selim. Weit davon entfernt, vor ihm zu kriechen, kennt er dessen inneren Wünsche und Begierden besser als dieser selbst und weiß sie gut zu nutzen. Die Vergewaltigung Blondes stellt für ihn kein größeres Risiko dar, da er ganz genau weiß, dass Bassa Selim alles andere als Mitleid für seine Gefangenen aufbringt. Der Bassa Selim der Darmstädter Inszenierung entlässt seine Gefangenen eher aus politischem Kalkül denn aus Großmut. Eine Vergewaltigung stellt in diesem Kontext nur einen unerheblichen Kollateralschaden dar. In diesem Sinne ist Bassa Selim ganz ein Kind der heutigen - und wohl auch der damaligen - Welt. Macht korrumpiert, und menschliche Kategorien verlieren angesichts persönlicher Rachegefühle und fehlender Korrektive schnell an Bedeutung.


Blonde flirtet mit Osmin (Dimitrij Ivashenko)

Doch Kochheim beschränkt sich nicht auf diesen plötzlichen Umschwung am Ende, sondern bereitet ihn systematisch vor. Ein Indiz dafür ist die humorlose und gefährliche Charakterisierung des Osmin. Hier lauert vom ersten Moment an eine tödliche Gefahr. Doch auch die beiden Paare bilden bei ihm nicht den Gegenentwurf zur Welt des Osmins und des Bassa Selim. Die bei Mozart ursprünglich mit einem Augenzwinkern angelegten Eifersuchtsszenen von Belmonte und Pedrillo gerinnen hier zu bitterem Ernst. Konstanze und Blonde geht es bei Bassa Selim durchaus nicht schlecht. Bassa überschüttet Konstanze mit Mode von Dior bis Givenchy (Achtung: "Product Placement"...;-)), was diese sich durchaus gefallen lässt, und Blonde heizt in einem stillen Stündchen den darüber sehr erfreuten Osmin in einer Art und Weise an, dass man es nicht mehr als reine Taktik betrachten kann. Obwohl sie sich vor Osmin fürchtet, fasziniert sie doch sein brutaler Machismo, und wäre nicht Pedrillo die meiste Zeit um sie herum, könnte man für nichts garantieren. Die Eifersucht der beiden Männer entbehrt also durchaus nicht des Grundes, und das Misstrauen bleibt, auch wenn sich die beiden Frauen ob der - durchaus nicht falschen - Unterstellungen beleidigt zeigen und längere Zeit nicht mit den beiden reden. In einer Schlüsselszene nach dem Streit sitzen die vier vorne an der Rampe und schweigen sich an. Das Orchester gönnt sich eine Generalpause von mindestens fünf Minuten, in denen nichts weiter geschieht, als dass keiner von den vieren das erste Wort zu einer Versöhnung findet. Das ehemalige, naive Vertrauen ineinander ist zerstört, das Misstrauen groß. Und so verlassen sie ihre Plätze ohne Aussprache, nur mit dem Vorwand, nun endlich packen zu müssen. Die extreme Dauer dieser sprachlosen Einlage verleiht der Szene besondere Bedeutung: unter dem Druck externer Macht und unmittelbarer Bedrohung zerbricht auch die Solidarität der Opfer. Dass Not zusammenschweißt, erweist sich als Mär. Letztlich ist jeder sich selbst der Nächste, und Solidarität reicht nur soweit wie die eigene Sicherheit. Die geplante Flucht dient jetzt nicht mehr einem zukünftigen Zusammenleben in Liebe und Vertrauen sondern nur dem Zweck des Überlebens.


Osmin (Dimitrij Ivashenko) hat die Flüchtlinge gefangen

Philipp Kochheim hat einigen Mut damit bewiesen, dieser generell als liebe- und spaßvolles Singspiel inszenierten Oper eine derart düstere Aussage mit auf den Weg zu geben. Allerdings hat er dabei auf grobe Klötze verzichtet, da er sich mit der Musik Mozarts arrangieren musste. So enthält die Darstellung Osmins auch komische Elemente, etwa bei dem Techtelmechtel mit Blonde oder dem Besäufnis mit Pedrillo. Auch letzterer erscheint bis auf die Schlussszene als Spaßvogel und unverbesserlicher Optimist, den nichts erschüttern kann und der immer einen flotten Spruch auf den Lippen führt. Ähnliches gilt für Blonde, die das Flirten nie lassen kann. Insofern bleibt die Inszenierung über weite Strecken im Rahmen des Librettos; doch die tödliche Gefahr in Gestalt eines unberechenbaren Bassa Selim und eines gewalttätigen Osmins lauert immer zwischen den Arien und den Szenen. Die Textfassung dieser Inszenierung hat das Ensemble eigenständig neu erstellt und auf die heutige Umgangssprache umgestellt. Die oftmals saloppe Ausdrucksweise vor allem Pedrillos und auch Osmins sorgen dabei für einige Lacher, Anhänger der klassischen Inszenierungen werden dies aber nicht unbedingt goutieren. Die blumigen Wendungen des ursprünglichen Librettos sind nämlich durchweg dem heutigen "Coolness"-Slang gewichen. Doch im Kontext des modernen Bühnenbildes - Schauplatz ist die Edelwohnung Bassa Selims mit weißen Sitzgarnituren und Hausbar - und anderer Requisiten wie Handy und Stereoanlage gewinnt auch die Sprache eine konsistente Wirkung. Dasselbe gilt für die durchweg modernen Kostüme, wobei Blonde das Weibchen herauskehrt und Konstanze als Dame auftritt.


Osmin (Dimitrij Ivashenko) verschleppt Blonde (Andrea Bogner)

Bei den Darstellern haben die scheinbaren Nebenfiguren Osmin, Blonde und Pedrillo die Nase vorn, da sie einfach die dankbareren Rollen haben. Witz, Leichtlebigkeit, Brutalität - kurz: alle aus dem Rahmen fallenden Charaktereigenschaften, machen sich auf der Bühne immer besser als Ernst und Sittsamkeit. Insofern wirkt vor allem Mark Adler als Belmonte ein wenig farblos. Stimmlich ist bei ihm wenig auszusetzen, wenn er auch in manchen Partien etwas leise wirkt, aber schauspielerisch hat er leider nur den "edlen" Part des liebenden Helden, zu dem weder der schnelle Witz noch etwa Brutalität passt. Eleonore Marguerre hat es da als Konstanze ein wenig besser, da sie vor allem mit einer Reihe publikumswirksamer Arien bedacht ist und sich dadurch sehr gut in Szene setzen kann. Sie meistert die anspruchsvollen Partien mit Souveränität und auch darstellerischer Qualität, doch auch bei ihrer Rolle gilt: vornehme Zurückhaltung, keine Ausfälle. Da können Andrea Bogner als Blonde und Jordi Molina als Pedrillo natürlich ganz anders vom Leder ziehen. Andrea Bogner glänzt als quirlige, nie um eine Idee verlegene Blonde, die das Herz auf dem rechten Fleck hat, und besticht vor allem in der Szene mit Dimitrij Ivashenko (Osmin) und in den Koloratur-Arien. Nicht zuletzt gelingt ihr der Umschwung zu der gebrochenen Person am Ende überzeugend. Jordi Molina zeigt wieder einmal seinen strahlenden Tenor und genießt ansonsten die über weite Strecken seinem komischen Talent zusagende Rolle des Sprüche klopfenden Pedrillo. Dimitrij Ivashenko bringt die schmierige Brutalität des Osmin so glaubwürdig zum Ausdruck, dass man richtiggehend Angst vor ihm bekommen kann, und muss sich dafür von Pedrillo/Molina noch mit russischen "Dawai, dawai"-Rufen in seinen unfreiwilligen Schlaf schieben lassen. Harald Schneider aus dem Schauspiel-Ensembnle schließlich tritt in der reinen Sprechrolle des Bassa Selim auf, gewinnt damit dieser Figur jedoch völlig neue Züge ab. Sein Bassa tritt am Schluss mit großer Schuld und Verbitterung ab.

Das Orchester unter der Leitung von Timor Oliver Chadik bemüht sich - passend zu dem kleinen Ensemble auf der Bühne - um einen kammermusikalischen Klang, wobei die Transparenz und die eher nüchterne Interpretation der Musik der Inszenierung entgegenkommen. In gewissem Sinn sieht man die bittere Ironie des Regisseurs auch in der Musik aufblitzen und das fröhliche Singspiel zur doppelbödigen Kommentierung des abgründigen Bühnengeschehens mutieren. Insofern passt bei dieser Inszenierung alles zusammen, auch wenn sie vielleicht nicht den Beifall aller Mozart-Freunde finden wird. 

Das Publikum am 22. November applaudierte jedoch lange und begeistert und dankte den Darstellern für ihre überzeugenden Leistungen. Das Regieteam musste sich bei dieser Aufführung dem Publikum nicht stellen.

Frank Raudszus