Frankfurter Rundschau
24. Juni 2006

Frankfurt
Christof Loys Sicht auf Mozarts "La finta semplice"

VON STEFAN SCHICKHAUS

Spielen sie ein Spiel? Ab wann ist es ernst? Während der Ouvertüre zu La finta semplice kommen die Sänger von draußen ins Bockenheimer Depot, betreten die Bühne, auf der noch einmal eine Kleinausgabe des Depotgebäudes steht, das Holzskelett, von Bühnenbildner Herbert Murauer mit viel Liebe zum Detail nachgezimmert. Die Sänger jedenfalls sehen aus, als erschienen sie zur Probe: Sportlich gekleidet, mit Wasserflaschen und Handy, sie begrüßen sich herzlich oder cool. Links und rechts vom Depot im Depot sind Schminktische aufgestellt, die Sänger aber bleiben vorerst im Freizeit-Look und machen, während Julia Jones am Pult des Museumsorchesters die Ouvertüre schlank-vital zum Finale führt, lieber noch ein paar Dehnübungen.

La finta semplice ist die erste abendfüllende Oper von Wolfgang Amadeus Mozart, mit zwölf Jahren schrieb er sie nach einem recht erwachsenen Libretto von Carlo Goldoni. Das Kindesalter des Komponisten aber hat der Regisseur Christof Loy, die vielfach bewährte Trumpfkarte der Oper Frankfurt in Mozart-Fragen, eigenen Angaben zufolge komplett ausgeblendet bei seiner Inszenierung. Und wirklich, alle haben sie diese La finta semplice mit größter Ernsthaftigkeit angepackt: Intendant Bernd Loebe, der das Sängerensemble stilsicher zusammenstellte und der erneut die Mozart-Expertin Julia Jones als Dirigentin verpflichtete; der Bühnenbildner Herbert Murauer, der bei seinem filigranen Depot-Modell nicht mit massivhölzernen Einzelteilen sparte; und eben Loy, der plastisch, erhellend, neu bewertend wie immer nun auch an das Kinderwerk gegangen war. Mozart bleibt Mozart, das ist schon klar - aber La finta semplice bleibt ebenso auch ein Werk des Einstiegs, eine auf dreieinhalb Stunden gedehnte Nettigkeit. Diese Spieldauer wird nur deswegen erreicht, weil man in Frankfurt noch eine zusätzliche Arie (KV 78) und Passagen einer frühen Mozart-Sinfonie eingearbeitet hatte. Wo doch ein wenig Verknappung eher die Balance zwischen Form und Inhalt hergestellt hätte.

Einmal zurück und wieder vor

Der Rhythmus drängt sich dem Betrachter nicht gerade auf, nach dem das Sängerensemble dann in eine Rokokoszenerie hinüberwechselt. Nach und nach hat jeder ein Kostüm, eine Perücke, einen Schönheitspunkt - ihre Charakter behalten die Sänger aber bei. Ninetta bleibt die Kecke, Giacinta die Verklemmte, alle spielen sie ihr Spiel weiter, ehrlicher sogar noch durch ihre Verkleidung. Dann die Rückverwandlung, wieder nach und nach. Aufgelöst wird die Intrige der sich einfältig stellenden cleveren Frauen schließlich in der Welt von heute, dort, wo alles begonnen hatte.

Alles durchdacht und durchgearbeitet von Christof Loy, der sich bei La finta semplice an Goethes Stella erinnert fühlt, man darf nachdenken, den Zwölfjährigen dabei in der Tat vergessen. Natürlich kommt auch der Spaß nicht zu kurz, der Witz dieser Buffa-Oper, der Tempo hat trotz der Länge. Jenny Carlstedt als Betrunkene etwa, Alexandra Lubchansky als aufreizende Einfalt, auf diese komischen Säulen hätten andere Regisseure ganze Konzepte gebaut. Loy aber wollte mehr, bekam mehr, wurde allen gerecht, auch wenn der Aufwand bei der Durchleuchtung der einzelnen Figuren spürbar wurde.

Alexandra Lubchansky als Rosina, eine der Schlüsselrollen dieser Oper, bekam schon auf offener Szene brava-Rufe, doch hinterließ alleine ihr Sopran zwiespältige Eindrücke. Prägnant war er, aber auch mitunter metrisch und intonatorisch ungenau, und bar jeder Textdeutlichkeit. Britta Stallmeister (Ninetta) und Jenny Carlstedt (Giacinta) sowie ihre männlichen Gegenüber Florian Plock (Simone) und Christian Dietz (Fracasso) dagegen überzeugten in allen Belangen, ihre Stimmen waren jung, frisch und präzise. Als Don Cassandro fügte sich der Bariton Robin Adams ebenbürtig in das Ensemble ein. Die meiste Aufmerksamkeit aber verdiente sich ein Debütant an der Oper Frankfurt, der US-amerikanische Tenor Nicholas Phan. Er sang den Don Polidoro mit derart viel Schmelz, Leichtigkeit und, ja, Anmut, dass einem das Idealbild eines Mozart-Tenors begegnet zu sein schien. Da ist kein Druck in der Höhe nötig, statt dessen überall vitalisierte Eleganz, eine herrliche Stimme. In der kommenden Spielzeit wird Phan hier in Händels Ariodante zu hören sein, auch dieses Terrain dürfte dem jungen Stimmlyriker liegen.

Die Dirigentin darf sitzen

Die britische Dirigentin Julia Jones, die 2003 zusammen mit Christof Loy eine der gelungensten und erfolgreichsten Produktionen der Oper Frankfurt, Mozarts Entführung aus dem Serail, auf die Bühne gebracht hatte, konnte diesen Mozart über weite Strecken neben ihrem Pult sitzend erleben. Denn die ausladenden Rezitative waren in der Hand von Johannes Oesterle am Continuo-Violoncello und Francesca Zamponi am Cembalo, die variantenreich und versiert ihre Protagonisten durch den Abend führten. Einen Abend, der zwischen holder Einfalt und hehrer Klugheit die Grenzen verwischte.

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Dokument erstellt am 23.06.2006 um 16:20:08 Uhr
Letzte Änderung am 23.06.2006 um 16:52:24 Uhr
Erscheinungsdatum 24.06.2006

 

WIESBADENER KURIER
24.06.2006

Mozart in mediterranem Licht
Bockenheimer Depot: Christof Loy inszeniert "La finta semplice"

Von Axel Zibulski


Auch Slapstick-Einlagen bietet Christof Loys Mozart-Inszenierung.
Rittershaus

FRANKFURT Am Anfang ist alles offen. Tageslicht scheint ins Bockenheimer Depot, auf die Bühne mit ihrem Gerüst, dessen Balken und Verstrebungen exakt die Architektur der ehemaligen Straßenbahn-Halle ins Kleinformat übertragen. Links und rechts davon Garderoben, Spiegel. Nur langsam trudeln zu den Klängen der Ouvertüre die Sänger ein. Sieben Personen spielen eine Oper, in diesem Fall das erste abendfüllende Bühnenwerk des jungen Wolfgang Amadeus Mozart. Gerade zwölf Jahre war er alt, als er "La finta semplice" komponierte, ein Intrigenspiel in Anlehnung an Carlo Goldoni und die Commedia dell´arte.

Christof Loy hat das Werk jetzt für die Oper Frankfurt in Szene gesetzt, nachdem er im Januar "La clemenza di Tito", Mozarts letzte Oper, auf die Bühne des Opernhauses gebracht hatte; eine auch jetzt im Bockenheimer Depot wieder gezückte Italien-Karte ist freilich ein denkbar loser Querverweis zwischen den beiden Inszenierungen. "La finta semplice", in etwa als "eine, die vorgibt, einfach zu sein" zu übersetzen, spielt in ländlicher Abgeschiedenheit in der Nähe Cremonas. Dort leben zwei Brüder, der ältere Don Cassandro und der jüngere Don Polidoro, mit ihrer in den ungarischen Hauptmann Fracasso verliebten Schwester Giacinta zusammen.

Verliebt ist auch der Sergeant des Hauptmanns; er hat ein Auge auf die Kammerzofe geworfen, nur steht es insgesamt schlecht um die Chancen ehelichen Glücks im Hause des Don Cassandro, der sich als arger Frauenfeind präsentiert. So soll ihm "La finta semplice" in Gestalt von Rosina, der Schwester des Hauptmanns, eine intrigante Nachhilfestunde in Sachen Verliebtsein geben. Verhinderte und angebahnte Liaisons: Worüber sich der erst zwölfjährige Mozart so seine Gedanken gemacht hat!

Christof Loy zeigt in der Ausstattung von Herbert Murauer den abendfüllenden Dreiakter nahezu ohne jene Kürzungen, die zumeist in Inszenierungen dieses dramaturgisch leicht langatmig wirkenden Jugendwerks vorgenommen werden; Loy hat sogar noch eine Arie sowie einen Satz aus einer frühen Mozart-Sinfonie hinzugefügt. So wird "La finta semplice" in Frankfurt mit etwa drei Stunden reiner Spieldauer streckenweise tatsächlich zu einer äußerst langwierigen Angelegenheit, auch wenn Loy die Darsteller das Geschehen immer wieder mit slapstickhaften Einfällen garnieren lässt: Da sucht eingangs eine Sängerin mühsam ihre Kontaktlinsen, wie man hier überhaupt immer wieder Sehhilfen benötigt. Auch die mediterran-atmosphärischen Momente, etwa zur Kerzenleuchter-Pantomime vor der Pause, als es schon dunkel geworden ist im Bockenheimer Depot, gehören gewiss zu den starken Seiten dieser Inszenierung.

Und die Darsteller? Sie, die eingangs noch so unbeteiligt eingetrudelt waren, scheinen sich immer mehr mit dem Geschehen zu identifizieren. Da bleiben auch die eingangs häufiger in der Landessprache des jeweiligen Sängers eingeworfen Flüche im Laufe des Abends zunehmend aus - welche Lehren sie auch immer aus dem verzwirbelten Geschehen gezogen haben mögen.

Aus durchweg jungen Solisten besteht das Vokalensemble; sie alle debütieren in ihren jeweiligen Partien, der viel versprechend , jugendlich leicht singende Tenor Nicholas Phan (Don Polidoro) auch an der Oper Frankfurt. Alexandra Lubchansky ist eine eher herb-intrigante "Finta" Rosina, Britta Stallmeister eine äußerst koloraturensichere Kammerzofe Ninetta. Robin Adams präsentiert als Don Cassandro seinen eher rustikalen Bariton. Jenny Carlstedt (Giacinta), der indisponierte Christian Dietz (Fracasso) und Florian Plock (Sergeant) ergänzen das insgesamt ausgewogene Solistenensemble, das sich seitens des Frankfurter Museumsorchesters unter der Leitung von Julia Jones auf eine zunehmend intonationsgenaue, kernig-transparente Unterstützung verlassen kann.

 

Mannheimer Morgen
24. Juni 2006

MUSIKTHEATER: Mozarts "La finta semplice"
Frankfurts verstellte Einfalt

Von Stefan M. Dettlinger

Als heikel gilt sie ja schon und nicht zu Unrecht auch als zu lang. Deswegen schnippeln Regisseure meist ordentlich an ihr herum. Christof Loy aber, der Mozarts frühes Dramma giocoso "La finta semplice" nun für die Oper Frankfurt auf die Bühne geworfen hat, setzte das Regie-Skalpell lediglich an zwei (von 26!) Arien an, implantierte dafür aber wiederum externes Material, eine Bravour-Arie und Teile einer Sinfonie. Ergebnis: In Frankfurt dauert der Spaß um die Liebesspiele der Paare Giacinta-Fracasso und Ninetta-Simone knappe drei Stunden. Das ist zu viel für ein Werk, das ein Zwölfjähriger zwar mit einer Menge musikalischer Delikatesse und bemerkenswerten Einfällen niederschrieb, aber doch mit zu wenig dramaturgischer Stringenz.

615 Seiten Partitur über verbotene Liebe, die schließlich durch die Hinterlist der "vorgetäuschten Einfalt" Rosinas doch noch zu Heißblut und Heirat mutiert - Mozart muss verrückt gewesen sein. Christof Loy ist es nicht weniger, denn er nimmt das Werk als solches ernst und zeigt auf der Bühne des Bockenheimer Depots ein rasantes Spiel auf einer schräg abfallenden Einheits-Bretterbühne, auf der das Depotgebäude dann noch einmal im Miniaturformat als Kulisse dient (Bühne, Kostüme: Herbert Murauer). Seine Grundidee ist nicht weit entfernt von dem, was Sandra Leupold im Heidelberger "Don Giovanni" zeigte: Ein paar Typen treffen sich - hier in einer Art Tschechowschen Datscha - zur Probe einer Oper. Alles wirkt improvisiert, der Übergang von Zivil- zu Kostümtracht ist fließend.

Loys größtes Verdienst ist, dass er zu zeigen versucht, was das Stück einerseits mit den Protagonisten, andererseits aber auch mit den (zivilen) Sängern anstellt. So ist die scheinbar einfältige Rosina am Ende so in das Liebesverwirrspiel involviert, dass auch die Sängerin Alexandra Lubchansky emotional aufgelöst scheint und nicht mehr weiß, was sie will. Das ist ein durchaus interessanter Ansatz. Den allerdings suchte man im Dirigat von Julia Jones vergeblich. Hingegen navigierte das sehr junge Sängerensemble sehr tapfer durch die zuweilen sehr virtuosen Klippen der Partitur.

 

DIE WELT
Mittwoch, 28. Juni 2006

Mozarts "Finta semplice" in Frankfurt/M.

von Uwe Wittstock

Das Bockenheimer Depot in Frankfurt ist eine adrette dreischiffige Holz-Stahl-Konstruktion, eine Art altes Fabrikgebäude, akustisch nicht eben ideal für Opernaufführungen, aber architektonisch reizvoll. Für Mozarts "La finta semplice" hat der Bühnenbildner Herbert Murauer die Konturen des Gebäudes auf der Spielfläche aus Holz nachgebaut: kein Modell der Realität, sondern eher ein lichtes, leichthändiges Zitat. An die Rückwand der Bühne hat er eine Leinwand mit blauweißem Sommerhimmel geheftet, davor noch ein paar Fauteuils und Strohballen verteilt - fertig ist die Skizze einer lieblichen Landpartie.

Gezeigt werden zwei Hochzeiten und ein Täuschungsfall. Mozart komponierte "La finta semplice" mit zwölf Jahren nach einer Komödie von Carlo Goldoni: Zwei junge Paare wollen dringend vor den Altar und noch dringender ins Bett, der griesgrämige Don Cassandro hindert sie erst, wird aber dann durch die opernübliche, höchst fabulöse Intrige zur Liebe bekehrt. Bemerkenswert an dem Stoff ist das dick aufgetragene Sex-and-the-city-Selbstbewußtsein der Frauen. Alle wünschen sie sich einen Mann, der sie "befehlen läßt" (Ninetta), möchten "ihn haben, wenn er bequem ist; ihn lassen, wenn er Umstände macht" (Giacinta), oder wollen, wie der Vamp Rosina, am besten gleich zwei von dieser Sorte - was ja angeblich nie gut geht und deshalb auch auf der Bühne trotz Rosinas hartnäckiger Täuschungsbemühungen nicht klappt.

Christof Loy inszeniert das alles mit der nötigen Lockerheit. Seine Sänger kommen während der Ouvertüre mit Koffern und Taschen durch die Seitentür gepoltert, schminken sich gut sichtbar neben der Bühne, spielen erst in zeitgenössischen, dann in historischen Kostümen und streuen in ihre italienischen Rezitative deutsche Nebenbemerkungen ein. Nicht zuletzt wegen der Sommerhitze stehen während des ganzen Abends die Türen des Depots offen, so daß, wenn Rosina in ihrer Arie vor bedrohlichen "Liebesgeistern" warnt, sich von der Straße passend die Sirene des Notarztwagens in die Musik mischt. Auch die Partitur ist Loy nicht heilig: Als Fracasso seinen künftigen Schwager Don Cassandro zum Duell fordern will, spielt das Orchester leise ironisch ein paar Takte von Händels "Sarabande" an.

Will man in all dem mehr sehen als ein musikalisches Sommervergnügen, kann man Loy loben für das Geschick, mit der er in dieser Oper, die von der vorgetäuschten Einfalt Rosinas handelt, die Täuschungen der Bühnenfiktion regelmäßig unterbricht und aufhebt - ohne den Charme dieses zarten Jugendwerkes zu zerstören. Aber man kann sich auch einfach an seinen zahllosen kleinen Regieeinfällen freuen, daran, wie liebevoll er die Charaktere zeichnet und welche herrlich klaren, nie überladenen und doch prachtvollen Bilder ihm gelingen.

Alle Sänger geben in dieser Inszenierung ihr Rollendebüt; Alexandra Lubchansky (Rosina), Robin Adams (Don Cassandro) und Britta Stallmeister (Ninetta) sind sowohl stimmlich wie auch schauspielerisch eindrucksvoll. Die britische Dirigentin Julia Jones leitet nicht einfach das Orchester, nein, sie scheint die Musik Mozarts gelegentlich mit geschmeidigem Körpereinsatz regelrecht zu tanzen. Was den beschwingten Opernabend angenehm untermalt.

 

Frankfurter Neue Presse
24.06.2006

Jeder Augenaufschlag gilt der Liebe
Mit seiner Inszenierung von Mozarts „La finta semplice" für die Oper Frankfurt ist Christof Loy zu Hochform aufgelaufen.

Von Michael Dellith

Man weiß gar nicht, was mehr zu bewundern ist: die schauspielerische Intensität, mit der die Sänger-Darsteller an diesem Premierenabend pralles Leben auf die Bühne des Bockenheimer Depots brachten, oder das musikalische Feingefühl, mit dem sie die geniale Musik des zwölfjährigen Mozart verinnerlichten. Da saß jede Geste, jeder Augenaufschlag, jede Pointe. Das Timing stimmte bis ins Detail bei dieser ebenso dynamischen wie hintergründigen Regiearbeit, deren Einfallsreichtum sich – wie stets bei Loy – aus der Partitur speist: angefangen vom Eintrudeln der Protagonisten zur Musik der Ouvertüre, die sich an den Schminktischen neben der Bühne „theaterfertig" machen, über die Rezitative, von denen es in Mozarts Jugendoper reichlich gibt und die von der exzellenten Continuo-Gruppe mit Francesca Zamponi am Cembalo und Johannes Oesterlee am Cello mit größter Flexibilität und Expressivität (inklusive der spannungsgeladenen kunstvollen Pausen) gestaltet wurden, bis hin zu den szenisch ausgeformten Arien. Ein statisches An-der-Rampe-Singen gibt es bei Christof Loy nicht. Die britische Dirigentin Julia Jones und das Frankfurter Museumsorchester waren dem Regisseur dabei nicht nur umsichtige, sondern auch inspirierende Partner.

Was Loys Arbeit auszeichnet, ist die Konsequenz (bis hin zur Wahl der Kostüme), mit der er Motivation und Befindlichkeiten der Figuren herausstellt – was in dieser Oper nach einer Vorlage von Goldoni gar nicht so leicht ist, gleicht doch die Handlung einer Irrfahrt von Heiratswütigen und Liebessehnsüchtigen. Am Ende gibt es zwar eine Doppelhochzeit, aber auch eine offene Dreierbeziehung.

Das Ensemble agierte schonungslos vital, mit subtilem Witz. Alexandra Lubchansky gab mit geschmeidigen Koloraturen eine Rosina, die als „finta semplice" (die Einfältige aus Klugheit) nicht eiskalte Intrigantin, sondern eine mitfühlende Frau ist, hin- und hergerissen zwischen ihren Empfindungen für zwei unterschiedliche Männer: der eine, „Frauenhasser" Don Cassandro, herrlich selbstverliebt, eitel und verletzlich von Robin Adams dargestellt, der andere, dessen Bruder Don Polidoro, knabenhaft-rein, von naiver Unschuld, dem Nicholas Phan Cherubino-hafte Züge verlieh. Einen lyrischeren Gegenpart nahmen Jenny Carlstedt als Giacinta und Christian Dietz als Hauptmann Fracasso ein (Dietz sang die Partie trotz Erkrankung mit wunderbar warmem Timbre), hinreißend und mit viel Charme agierte das Diener-Paar Britta Stallmeister (Ninetta) und Florian Plock (Simone). Am Ende gab’s viele Bravos, auch für Ausstatter Herbert Murauer, der als Bühne das Bockenheimer Depot nachbildete, als wolle er dem Publikum sagen: Schaut her, das seid ihr, da vorne! Getreu Mozarts Motto: So machen’s alle.

 

Darmstädter Echo
5.7.2006

Illusionen der Liebe
Musiktheater: Julia Jones dirigiert Mozarts Jugendoper „La finta semplice" im Bockenheimer Depot in Frankfurt

Von Siegfried Kienzle

FRANKFURT. Mit zwölf Jahren hat Mozart die Buffo-Oper „La finta semplice" (die Einfältige aus Klugheit) geschrieben. Da interessiert vor allem, was da an musikalischen Vorausklängen auf seine späteren Meisteropern enthalten ist. Da gibt es einige Kostbarkeiten zu entdecken: ein lyrisches Verzeihungsflehen wie später im „Figaro", eine von der Solo-Oboe umschmeichelte Gefühlsverwirrung wie in „Cosí", eine Duell-Szene als rhythmisch gepfeffertes Duett. Für die Oper Frankfurt hat der Bühnenbildner Herbert Murauer im Bockenheimer Depot eine luftige Balkenkonstruktion errichtet. Zwischen Strohballen be-kehrt die kapriziöse Rosina den Frauenfeind Cassandro zur Lie-be.

Die Inszenierung von Christof Loy verweigert das von Mozart komponierte obligate Happy-End. Cassandro (Robin Adams mit Spielwitz und geschmeidigem Bass) bleibt zuletzt verliebt, aber ohne Trost einsam zurück wie sein weinerlich tollpatschiger Bruder (Nicholas Phan). Alexandra Lubchansky vertieft weit über die Typenkomödie hinaus die Figur der Rosina. Aus der mutwilligen Strippenzieherin wird eine zwischen zwei Männern schwankende Frau. Mit herrlich dunkel timbrierten Sopran monologisiert sie über ihre Selbstzweifel und entzieht sich der Heirat. Der Haudegen Fracasso (Christian Dietz) steuert mit der bebrillt altjüngferlichen Giacinta (Jenny Carlstedt), der Sergeant Simone (Florian Plock) mit Zofe Ninetta (Britta Stallmeister als resolute Vorstudie einer Despina) in den Ehehafen.

Die Regie spielt mit der Demaskierung des Theaters. Zu-nächst sehen wir Gegenwartsfi-guren im Freizeitlook. Dann rauscht Rosina als Primadonna aus dem Rokoko daher und zieht allmählich alle Figuren in Haltung und Kostüm hinein in die Mozart-Zeit. Zuletzt sind alle desillusioniert und zu beliebigen Zeitgenossen von heute geworden. Doch gewinnt die Aufführung aus dieser Reibung der Epochen wenig dramatische Energie.

Die Dirigentin Julia Jones, vor zehn Jahren Kapellmeisterin in Darmstadt, führt ambitioniert durch die Partitur, die in Frankfurt erweitert wurde durch einen Satz aus der Sinfonie KV 45, um eine Pantomime zu untermalen.

 

Stuttgarter Nachrichten
Kultur - 24.06.2006

Loys "Finta semplice" in Frankfurt
Das Wunderkind war wirklich eines

Von Susanne Benda

Ach du liebe Güte: Das Jahr ist schon fast halb herum, und bevor noch der Salzburger Festspiel-Marathon mit sämtlichen Opern Mozarts beginnt, hätten wir fast vergessen, dass das Mozartjahr auch nach der Fußball-WM noch lange nicht zu Ende ist.

Zum Glück machte ein Abend in der Dependance der Frankfurter Oper im Bockenheimer Depot, wo der Regisseur Christof Loy sich der kaum je gegebenen ersten italienische Oper des erst zwölfjährigen Mozart, La finta semplice, annahm, jetzt wieder richtig Lust auf den großen Jubilar von 2006. So wie Herbert Murauers Bühnenbild, ein schlichtes Holzgerüst, die Maße der Frankfurter Experimentierbühne auf Spielformat eingeschrumpft hat, so findet sich in Die Einfältige aus Klugheit gleichsam Mozarts reifes Musiktheater en miniature.

Von all dem, was Mozart später so außerordentlich machte, ist hier schon etwas zu hören: Vom ersten Ton an, den Julia Jones dem recht präzise spielenden Frankfurter Museumsorchester entlockt, steckt die Musik voller Theater, Ernstes steht dicht neben Komischem - zumal in jener zerrissenen Titelfigur, die sich zwischen zwei Männern, nein: zwischen Gefühl und Distanz nicht entscheiden kann. Auf der Bühne stehen Menschen, die nach der Liebe suchen und sie manchmal auch finden; für Momente entdeckt man in einem von ihnen den Don Giovanni, in einem anderen den Don Ottavio, und das schlichte Credo der Kammerzofe Ninetta ("Ich will Liebe, und ich will einen Mann") könnte aus jedem späteren Mozartstück stammen.

Am erstaunlichsten indes ist die Doppelbödigkeit, die Ironie der Goldoni-Adaption. Christof Loy spielt mit ihr, indem er die jungen Sänger (allen voran Alexandra Lubchansky, (...) Robin Adams, Jenny Carlstedt und Britta Stallmeister) zwischen Alltagskleidung und historischer Kostümierung wechseln lässt und das Stück ansonsten ganz im Stile einer Schauspiel-Komödie mit viel Schwung, viel Spielwitz (...) auf ein Finale zutreibt, das die Verherrlichung der Single-Gesellschaft im Eingangschor ("Am allerschönsten ist die Freiheit") abermals zu bestätigen scheint. Heraus kommt ein unterhaltsames, vielleicht noch etwas halb gares, aber oft schon faszinierend vielschichtiges Werk: Das Wunderkind war wirklich eines.

 

opernnetz
24.6.2006

Seifenoper mit tollem Soundtrack

Don Cassandro und Don Polidoro sind zwei wohlhabende Brüder. Ihre Schwester Giacinta und deren Kammerzofe Ninetta wollen gerne heiraten. Und zwar zwei Soldaten: den ungarischen Hauptmann Fracasso und dessen Sergeanten Simone. Das stößt auf den Widerstand des Hausherrn Don Cassandro, der ist nämlich Frauenfeind und hält die Beziehung zum anderen Geschlecht für den Untergang jedes Mannes. Also wird Rosina, Schwester des Fracasso und obendrein eine ungarische Adelige, eingespannt. Sie soll die Herzen der beiden verschrobenen Brüder erweichen, um vor allem Don Cassandros Widerstand gegen die Verheiratung von Giacinta und Ninetta zu brechen. Natürlich gelingt ihr das auch zugleich, denn kein Mann kann ihr widerstehen.

Soweit die einleuchtende und lebensnahe Geschichte, die Mozarts früher Oper „La Finta Semplice" zugrunde liegt. Obendrein wartet das Libretto von Marco Coltellini nach einer Vorlage des berühmten Theaterdichters Carlo Goldoni mit etlichen weiteren Verstrickungen sowie ein paar harmlosen Schlüpfrigkeiten und Blödeleien auf.

Mozarts früher Versuch, eine Oper in der italienischen Buffo Manier zu schreiben – er war zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt -, gehört sicherlich nicht zu jenen Werken, die man als vergessenen Schatz der Opernliteratur bezeichnen müsste. Dennoch zeigte die Oper Frankfurt in ihrer Zweitspielstätte Bockenheimer Depot, dass es trotzdem Sinn macht, sich auch mit einem schwächeren Mozart-Werk auseinander zusetzen. Denn entstanden ist ein durchaus kurzweiliger Abend, der zwischen allem Huch! und Hach! und Hopsala! sowie dem im Spannungsfeld Mann – Frau obligatorischen Gequiekte und Gekreische eine handwerklich solide umgesetzte Seifenoper mit teilweise ergreifend schöner Musik verband.

Und mit der Musik soll diese Besprechung auch begonnen werden – fällt diese doch bei langatmigen Beschreibungen der Szene leider oftmals zu sehr hinten runter. Das wäre speziell in diesem Fall eine grobe Ungerechtigkeit. Dass Julia Jones eine herausragende Mozart-Dirigentin ist, muss an dieser Stelle einfach noch mal mit Nachdruck gesagt werden, könnte man sie doch augenzwinkernd und gemäß dem Djuna Barnes-Diktum auch als „berühmteste Unbekannte ihrer Zeit" bezeichnen. Denn obgleich sie regelmäßig an den großen Häusern in Berlin und Wien gastiert, bei den Salzburger Festspielen dirigierte und häufig in Frankfurt präsent ist – unter anderem 2003 gemeinsam mit Regisseur Christof Loy die überragende „Entführung aus dem Serail" verantwortete –, ist sie wohl nach wie vor dem Publikum weit weniger ein Begriff als etwa Medienlieblinge wie Daniel Harding oder Philippe Jordan. Wie vertraut ihr die Mozartsche Klangrede ist und was sie dabei für einen Gestaltungswillen entwickelt, wie sie eine klare Vorstellung von jeder noch so kleinen Dynamikveränderung zu haben scheint und wie dabei auf einmal aus einer doch relativ schlichten Komposition (die durch einige Sinfonieteile bzw. Arien die Mozart ungefähr zur selben Zeit aber für andere Zwecke schrieb ergänzt wurde) die ganze Kunst Mozarts erspürbar wird – dafür muss man der Dirigentin einfach dankbar sein. Das Frankfurter Museumsorchester folgte ihrem – ohne Taktstock, aber mit viel Körpereinsatz demonstrierten – Willen hochkonzentriert und bewies erneut, welch erstklassiges Mozartorchester es in den letzten Jahren geworden ist: Flexibel und wendig einerseits, zärtlich und innerlich andererseits – stets mit einem warmen und trotzdem transparenten Klangbild. Besser geht es eigentlich kaum.

Während das Orchester in Feinheiten schwelgte, ging es auf der Bühne eher etwas gröber zu. Regisseur Christof Loy und Ausstatter Herbert Murauer nutzten die Bedingungen des ehemaligen Straßenbahndepots in Frankfurt Bockenheim gut aus, indem sie das Spiel der sieben Akteure und Akteurinnen nicht nur auf der Bühne stattfinden ließen – das Umkleiden in der zum Publikum offenen Künstlergarderobe seitlich der Bühne war genauso Bestandteil der Aufführung. Dadurch entsteht ein Spiel im Spiel: Sieben junge Leute spielen sich und spielen sieben junge Leute zu einer anderen Zeit. Sie alle sind auf vielfältige Weise amourös verstrickt – eine Art Cosi fan Tutte-Vorläufer, nur mit einer noch unwahrscheinlicheren und noch komplizierteren Handlung. Die Geschichte des misogynen und krankhaft geizigen Edelmannes Don Cassandro und dessen trotteligen und gutgläubigen Bruders Don Polidoro, die von ihrer Schwester Giacinta und der Zofe Ninetta in eine Intrige verwickelt werden, die dazu dient, die beiden „Helden" selbst durch Liebe dazu zubringen, den Ehewünschen der beiden genannten Damen zuzustimmen, ist obendrein wenig originell und besitzt keinerlei Tiefgang.

Dass Loy trotzdem versucht, diesen aufzuspüren und den Personen eine Individualität zu verleihen, ehrt ihn. Genauso ehrenwert ist sein Versuch, die Gefühle der Protagonisten herauszuarbeiten und als ewige, somit auch heutige, zu präsentieren. So etwa die Zerrissenheit der Intrigantin Rosina, wenn sie zu einer Entscheidung für einen der beiden Brüder genötigt wird (Hand aufs Herz: Einer Frau von heute mag die Wahl zwischen den beiden vorkommen wie die Wahl zwischen Pest oder Cholera – Gesang hin, Gesang her). Doch Loys psychologischer Blick, der sich bei anderen Mozartwerken wie der „Entführung" oder dem „Titus" so bewährt hat, prallt hier weitestgehend an der Oberflächlichkeit des Stückes und der Charaktere ab.

Dennoch: Wer einen kurzweiligen Abend in einer schönen und intimen Atmosphäre verbringen möchte, sollte sich auf jeden Fall eine Finta-Aufführung gönnen. Das Publikum im fast ausverkauften Saal ging jedenfalls aufmerksam und angeregt mit und spendete am Ende allen Beteiligten warmen Beifall. Darüber hinaus befindet sich die Produktion mit jungen und engagierten Sängern, unter denen besonders Alexandra Lubchansky als Rosina und Nicolas Phan als Don Polidoro hervorstachen sowie dem exzellenten Orchester unter Julia Jones musikalisch auf hohem Niveau. (sr)

Musik 5/5
Gesang 4/5
Regie 3/5
Bühne 4/5
Publikum 4/5
Chat-Faktor 3/5