Frankfurter Neue Presse
18. April 2006

Ein GMD sucht den Gral
Paolo Carignani dirigiert am 23. April die Neuinszenierung von Wagners „Parsifal" an der Frankfurter Oper. Regie führt Christof Nel.

Von Birgit Popp

Nach den konzertanten Aufführungen von Wagners 1882 in Bayreuth uraufgeführtem „Bühnenweihfestspiel" folgt nun die Premiere der szenischen Realisation. Für den Frankfurter Generalmusikdirektor Paolo Carignani ist es die vierte intensive Auseinandersetzung mit einer Oper von Richard Wagner (1813–1883). „Den ersten Kontakt zu Wagner habe ich über den ,Fliegenden Holländer’ bekommen. Sicherlich Wagners italienischste Oper mit Rezitativen und richtigen Arien. Es war meine erste Neuproduktion, die ich an diesem Haus in meiner Funktion als GMD geleitet habe." Für den italienischen Dirigenten waren es allerdings „Die Meistersinger von Nürnberg", ebenso wie „Tristan und Isolde" gemeinsam mit Christof Nel in Frankfurt auf die Bühne gebracht, die in ihm die Begeisterung für Wagners Schaffen weckten. „Ich habe mich in Wagners Musik verliebt, als ich ,Die Meistersinger’ studiert habe. In ihnen habe ich die ganze Geschichte der Musik erkannt. Es ist zwar ein deutsches Stück, aber man kann dort barocke Musik ebenso wie Operettenmusik finden und unglaublich viel Leichtigkeit entdecken. Ich liebe darin besonders die Figur des Hans Sachs. Er ist ein normaler Mensch, dem aber niemand so richtig dankbar ist. Gurnemanz im Parsifal ist auch ein solcher Mensch. Diese Menschen sind das Fundament einer Gesellschaft. Mit den ,Meistersingern’ hat meine Wagner-Leidenschaft begonnen, und sie hat sich mit dem ,Tristan’ weiterentwickelt."

Im Vergleich zur konzertanten Aufführung von 2004 sieht Paolo Carignani keine wirklichen Veränderungen seinerseits. „Von einer Interpretation möchte ich ohnehin ungern sprechen. Ich denke, davon kann man in einigen Jahren reden, wie ich etwas interpretiert habe. Derzeit ist dies noch ein Entwicklungsprozess. Wenn ich die Partitur lese, besitze ich ein ideales Klangbild in meinem Kopf, aber schon bei einer konzertanten Aufführung weicht bei der Erarbeitung des Stückes mit Orchester, Sängern und Chor die Realität zwangsläufig von dieser Idealvorstellung im Kopf ab. Bei einer szenischen Umsetzung sind die Zugeständnisse noch größer. Die Bühne, die Bewegung der Sänger, all diese Dinge müssen berücksichtigt werden. Auch der Umstand, dass in Frankfurt aus Sparmaßnahmen der Chor nicht der geforderten Größe entspricht. Da muss die Dynamik des Orchesters reduziert werden, damit der Chor im dritten Akt zu hören ist, und aus einem geschriebenen Forte wird höchstens ein Mezzoforte."

Immer wieder diskutiertes Thema sind die Tempi im „Parsifal", der gerne auch als Quintessenz von Wagners Lebenswerk bezeichnet wird, ist er nicht nur dessen letzte Oper, sondern auch über einen Zeitraum von fast dreißig Jahren entstanden. In Bayreuth nachzulesen sind die Zeiten, die die einzelnen Dirigenten für den Parsifal benötigt haben. Da variiert allein der erste Akt um 45 Minuten, wobei Arturo Toscanini derjenige war, der den Parsifal am langsamsten dirigiert hat. Was meint Carignani zu dem Thema? „Das richtige Zeitmaß zu finden, ist sicherlich eine Schwierigkeit im ersten und dritten Akt. Da heißt es langsam, dann sehr langsam und dann noch langsamer. Am Ende weiß man gar nicht mehr, wie langsam man noch den Arm sinken lassen soll", schmunzelt der Orchesterchef. „Da ist der zweite Akt schon einfacher, normaler, lebhafter. Da darf man sich als Dirigent auch mal bewegen." Und dennoch: Gerade das Minimieren, das Reduzieren, das Konzentrieren auf das Wesentliche ist es, das für Carignani die Faszination des „Parsifal" ausmacht. „Im Vergleich zum ,Tristan’ arbeitet Wagner mit stark reduziertem Chromatismus, mit viel weniger Tönen. Eines seiner Vorbilder war dabei Palestrina. Die Konsequenz aus Wagners ,Parsifal’ ist Debussy mit ,Pelléas et Mélisande.’"

Die Interpretation des „Parsifal" beschäftigt seit mehr als einem Jahrhundert Musik- und Literaturwissenschaftler, Theologen und Philosophen. Sie reicht vom „Zeugnis christlichem Glaubens" bis zum Vorwurf der Blasphemie, der Entehrung und Verhöhnung des heiligen Sakraments, wobei Wagner seinen „Parsifal" als „das christlichste aller Werke" bezeichnet hat. Carignani: „Ich bin zwar kein Philosoph und kein Musikwissenschaftler, aber ich habe gelesen, was sie geschrieben haben. Für mich ist die Partitur jedoch viel wichtiger, denn Wagner hat viel hinein geschrieben. Über die Gralsgeschichte habe ich natürlich nachgedacht. Es gibt viele Vermutungen, wo der Gral zu finden sei. Für mich in der Partitur. Die Partitur ist wie eine große Kathedrale. Ich war in Frankreich in der Kathedrale von Albi. Sie ist so groß, verwinkelt und reichhaltig ausgeschmückt, man muss Acht geben, dass man sich nicht in ihr verläuft. Dort kann man alles und doch nichts sehen. Die ,Parsifal’-Partitur ist ähnlich. Jeder Takt, jeder Satz birgt eine Überraschung. Der Gral ist vielleicht in Albi versteckt oder in der Partitur."

Verkörpert wird die Titelfigur wie bereits 2004 durch das Frankfurter Ensemblemitglied Stuart Skelton, während Jan-Hendrik Rootering, der in Frankfurt bereits den Hans Sachs gegeben hat, die Partie des Gurnemanz gestalten wird. Als Kundry gastieren Michaela Schuster und Julia Juon. Das Bühnenbild entwirft Jens Kilian.

 

Frankfurter Rundschau
21.04.2006

Wie bei einer Gebäudeskizze
Vor der "Parsifal"-Premiere: Paolo Carignani über Musik-Architektur, Wagner-Längen und alte Instrumente

Frankfurter Rundschau: Herr Carignani, wissen Sie noch, wann Sie das erste Mal bewusst mit Wagners Musik in Berührung kamen?

Paolo Carignani: Das war vor einer langen Zeit, in Mailand an der Scala. Ein Lohengrin unter Claudio Abbado, Regie führte Giorgio Strehler. Das muss Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre gewesen sein.

Und? Waren Sie vom ersten Augenblick gefangen?

Ehrlich gesagt: nein. Wagner eröffnet sich nicht in der ersten Stunde. Man muss lernen, ihn aus einer anderen Perspektive zu hören. Er hat einfach größere Dimensionen. Das ist auch beim Parsifal nicht anders. Am Anfang, als ich begann, die Partitur zu studieren, dachte ich: was kommt jetzt? Die ersten 50, 60 Minuten habe ich auf irgendetwas gewartet, auf ein Ereignis vielleicht. Bis mir klar war, dass es darum nicht geht, und ich die Architektur des Ganzen, die große Form gesehen habe.

Was, glauben Sie, ist das Schwierige an Wagner: dass es eine Weile dauern kann, bis man ihn versteht?

Für mich als Dirigent: die Balance der Tempi zu finden. Gerade im Parsifal, dessen Grundtempo ja schon langsam ist. In der Partitur steht "langsam". Dann "sehr langsam". Später dann "nachlassend", "noch langsamer". Diese verschiedenen langsamen Tempi sinnvoll zu strukturieren, ist immens schwer.

Das "langsam", das Sie also im Moment spielen, darf nicht nur in diesem Moment funktionieren, sondern muss immer auch so angelegt sein, dass ein "langsamer" und ein "noch langsamer", wie es Wagner dann später vorschreibt, immer noch musikalisch tragfähig ist.

Genau. Das ist natürlich prinzipiell nichts Neues in der Musik, aber bei Wagner ist es so fein differenziert, dass es eine andere Qualität hat. Es gibt im Parsifal tatsächlich keinen musikalischen Augenblick, den man isoliert betrachten könnte. Man muss immer das Ganze im Blick haben.

Wie erarbeiten Sie sich eine solch gewaltige Partitur?

Ich lese sie und versuche die Architektur zu verstehen. Sowohl in der Makro- als auch in der Mikrostruktur. Ich suche Einheiten, große und kleine, die manchmal auch nur drei Takte lang sein können, um zu begreifen, wie man die Musik phrasieren muss, wie sie atmet, wann ein Motiv neu ansetzt und so weiter. Wie bei einer Gebäudeskizze: im wievielten Stock bin ich, wo sind die Fenster, wo die Türen? Meine Partituren sind immer ziemlich voll geschrieben und voller Zeichen.

Der "Parsifal" dauert etwa 270 Minuten. Bereiten Sie sich darauf eigentlich gesondert vor?

Nein. Ich gehe nicht früher ins Bett, wenn ich am nächsten Abend fünf Stunden Wagner dirigiere.

Aber ist allein die physische Anstrengung, fünf Stunden Wagner zu dirigieren, nicht eine andere als, sagen wir, zweieinhalb Stunden Mozart?

Das spüre ich aber erst am nächsten Tag. Während des Dirigierens trägt mich seine Musik. Der Parsifal zum Beispiel kam mir noch nie lang vor.

Vor drei Jahren haben Sie hier in Frankfurt, ebenfalls mit Christof Nel als Regisseur, "Tristan und Isolde" herausgebracht. Inwieweit ist der "Parsifal", Wagners letzte Oper, nun noch mal einen Schritt weiter?

Er ist reduzierter. Er wirkt tatsächlich in vielen Augenblicken wie ein Abschiedswerk. Wagners Perspektive auf seine eigene Musik ist sozusagen aus einer größeren Distanz. Die unmittelbare Leidenschaft, die den Tristan durchzieht, die ist hier weit weniger wichtig.

Ist das schwieriger zu dirigieren?

Ich finde schon. Im übrigen, um Ihre Frage von vorhin aufzugreifen, auch körperlich. Immer ein langsames Tempo zu dirigieren, ist sehr viel anstrengender als ein schnelles. Die Spannung in der rechten Hand zu halten, mit der ich den Takt vorgebe, die Bewegung klar und kontrolliert auszuführen, das kostet mehr Kraft und Anspannung, wenn ich sie betont langsam führen muss. Ein Allegro ist dagegen geradezu entspannend.

Wagner hat während der Arbeit zum "Parsifal" gesagt, er wolle sich nicht von der Melodie verführen lassen.

Ein wunderbarer Satz, nicht wahr?! Wagners schönste Melodien sind oft im Orchester quasi versteckt. Sie sind nie besonders offensichtlich. Das ist wohl auch der größte Unterschied zwischen Verdi und Wagner. Beim frühen Verdi blüht die Singstimme in wunderbaren Melodien, und das Orchester hat oft nur ein paar Begleitfiguren zu spielen. Bei Wagner haben die Sänger nicht immer die Hauptstimme.

Der ideale "Parsifal", wie würde der für Sie klingen?

Manchmal träume ich von einem Parsifal, der mit alten Originalinstrumenten gespielt wird. Mit Musikern also, die ganz wenig romantische Musik gespielt haben, aber viel Bach, viel Barock. Mit einem Streicherklang ohne das üppige Vibrato, wie wir es kennen.

Kann man daraus schließen, dass Ihnen Wagner oft zu breit, zu dick dirigiert wird?

Das will ich nicht sagen. Sehen Sie, Pierre Boulez brauchte für den ersten Akt des Parsifal eineinhalb Stunden. Toscanini 2 Stunden 20 Minuten. Aber was ist nun besser? Ich bin von beidem fasziniert.

Und Sie? Wie lang brauchen Sie?

Ich weiß es nicht genau, ich habe es noch nicht gemessen. Aber ich habe den Inspizienten gebeten, es zu stoppen.

Interview: Tim Gorbauch

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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2006
Dokument erstellt am 20.04.2006 um 16:34:28 Uhr
Erscheinungsdatum 21.04.2006

Interview.

Paolo Carignani, 1961 in Mailand geboren, ist seit 1999 Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt. Gemeinsam mit dem Regisseur Christof Nel erarbeitete Carignani bereits Richard Wagners "Meistersinger" und "Tristan und Isolde". Nachdem vor zwei Jahren der "Parsifal" nur konzertant gegeben werden konnte, steht er nun endlich vollgültig auf dem Spielplan.