Frankfurt Rundschau
13. Dezember 2005

Ein Liebestod in Wetzlar
Durch und durch kulinarischer Musikstrom: Die Oper Frankfurt reaktiviert die holländische "Werther"-Inszenierung von Jules Massenet mit neuen Sängern

VON HANS-KLAUS JUNGHEINRICH

Halberwachsene Sturm- und Drang-Gefühle in bleierner DDR-Umgebung konstatierte Ulrich Plenzdorf knapp 200 Jahre nach Goethes Jugenderfolg. Auf halbem Wege zu dieser literarischen Aktualisierung kondensierte der französische Komponist Jules Massenet die alten Leiden des jungen W. zu einer Oper, die sich im internationalen Repertoire durchsetzte. In den 188Oer Jahren gab es gewiss keine Werther-Mode mit kollektiven Weltschmerz- und Selbstmordattacken. So war der Rekurs auf Goethes empfindsames Sujet pure Bildungsreminiszenz, wohlgeeignet zur Aromatisierung eines zum Gepflegten, Reputierlichen sich drängenden Kunst- und Opernwollens. Vom im musikalischen Temperament nicht ganz unähnlichen Puccini unterscheidet sich Massenet vor allem durch eine dem uneleganten Verismo abholde Vorliebe für "große" Stoffe aus Weltliteratur und -historie.

Die Funde des Sängerrutengängers

Nach dem von Frankreich verlorenen Krieg war Werther freilich auch eine etwas zwiespältige Text-Option (immerhin konnte man auf den Werther-Fan Napoleon I. verweisen); die Uraufführung fand 1892 an der Wiener Hofoper statt, erst ein Jahr später erklang die französische Originalfassung in Paris. Besondere Freude hatte der Komponist offenbar an einer Frankfurter Wiedergabe 1895. Gewissermaßen als Anknüpfung an diese altvordere Großtat konnte man also die jetzige Frankfurter Einstudierung betrachten, bereits (nach Manon) die zweite Massenet-Premiere der ins vierte Jahr gehenden Amtszeit von Bernd Loebe.

Werther ist bekanntermaßen eine "Sängeroper"; sie steht und fällt mit der Titelpartie, einer Vorzeigerolle für noch nicht in Schwermetall gerüstete Tenöre (prominent kreiert etwa von Alfredo Kraus). Auch die Mezzosängerin der Charlotte hat dankbare, weit ins Dramatische (3. Akt) hinein reichende Aufgaben. Den Plan zu einem Frankfurter Werther fasste Sängerrutengänger Loebe bei einer Brüsseler Rosenkavalier-Aufführung mit Kristine Jepson als Octavian und Piotr Beczala als italienischem Sänger. Heureka, er hatte das Hauptpaar für seine Massenetiade am Main gefunden. Seine Charlotte debütierte in dieser Rolle (und an der Oper Frankfurt), der aus Polen stammende Tenor, ein kluger Verweser seiner Stimme, hat mit dem Werther bereits Erfahrungen gesammelt und hütet sich einstweilen, einer Verfestigung seiner Stimme durch allzu heldische Partien (wie Otello) Vorschub zu leisten.

Werthers umfängliche Gesangspräsenz in dieser Oper ist lyrisch akzentuiert; schmetterndes Posieren findet weniger statt, allenfalls im dritten Akt, der die finale Katastrophe vorbereitenden Wiederbegegnung mit Charlotte. Piotr Beczala beeindruckte mit leichter, beweglicher tessitura und fein nuancierter Dynamik, die alle einschlägigen Empfindsamkeits-Register souverän auslotete. Auch den Höhen-Aufschwüngen gebrach es nicht an Glanz und Kraft, und ohne Anwandlungen von Anstrengung oder Ermüdung kam eine Rollengestaltung zustande, die der intimen Brillanz einer hochrangigen Personencharakteristik bestens anstand. Zu der sozusagen offenbrüstigen Gefühlsemission Werthers kontrastierte glaubwürdig die dunkelgrundiert-ambivalente Haltung Charlottes zwischen mütterlich-autoritativer Abwehr und schutzloser erotischer Verfallenheit - dieser konnte Kristine Jepson vor allem im Schlussakt die bezwingend durchwärmten Herzenstöne geben, während jene in den markant dramatisch intonierten Phasen des vorangegangenen Aktes triumphierte. Ein Traumpaar exzellierenden Sängertheaters.

Als szenische Realisierung kaufte Loebe eine zehn Jahre alte Produktion der Nederlands Opera ein - ein mehrfach geschickter, glücklicher Schachzug. Willy Deckers Konzeption im spektakulären, lapidar schönen Bühnenbild von Wolfgang Gussmann mutete in keiner Weise altbacken an - ein Jahrzehnt ist opernästhetisch offenbar ein nicht allzu langer Zeitraum. Die Werther-Optik ähnelte verblüffend der weiträumig-glasklaren Traviata vom vergangenen Salzburger Festspielsommer desselben Teams.

Gussmanns Bühnenraum war zweigeteilt: vorne ein breites, flaches Interieur, dahinter, leicht diagonal versetzt, eine ebenfalls weitflächige "Bühne auf der Bühne", anfangs so etwas wie Traumgefilde des somnambulen Titelhelden, dann aber auch mehrmals deutlich markiert als "Außenwelt" komplementär zu den Stationen des inneren Dramas. Blau und Gelb als die notorischen Wertherfarben wurden im Bühnenbild unaufdringlich zitiert; die Kostümgestaltung (ebenfalls von Gussmann) folgte dieser Tradition nicht sklavisch.

Deckers Regie schärfte die Handlungsdynamik deutlich an durch gleichsam hoffmanesk-schwarzromantische Momente, insbesondere die zu zynischen Zylindergestalten hergerichteten Chargen Johann und Schmidt (gelenkig imaginiert von Simon Bailey und Michael McCown), die immer wieder die Ereignisse höhnisch kommentierten. Auch Charlottes fahler Ehemann Albert ward gelinde dämonisiert als lebensfeindliche "Pflicht"-Instanz (vokal nobel: Nathaniel Webster). Britta Stallmeister war eine besonders anmutige, frische Sophie, Franz Mayer ein soignierter Le Bailli. Mit Constantin Neiconi (Brühlmann) und Hao Zhang (Käthchen) war das Werther-Erstsänger-Ensemble gediegen vervollständigt. Als herausgehoben verweilender Augenblick prägte sich die lange, stumme, bewegungslose Erstbegegnung des Paares am Anfang ein.

Erlesene Instrumentationskunst

Bereits im einleitenden Orchestervorspiel zeigt sich die ein wenig uneinheitliche Operndiktion Massenets: das kaum vermittelte Nebeneinander von etwas fahriger Echauffage und schmelzender Melodiosität. In der mehrgliedigen Kantilene, die bereits hier aufklingt (und die dann mehrmals raffiniert modifiziert wiederkehrt) könnte man die "kleine Melodie" des fiktiven Vinteuil aus Prousts Recherche identifizieren. Die erlesene, abgeschmeckte Instrumentationskunst Massenets offenbart sich vor allem im dritten Akt (Saxophon!). Mit dem aufgewühlten Intermezzo zum Schlussakt wird fast puccineske Vollblütigkeit erreicht.

Am Pult stand ein seit über 30 Jahren der Oper verbundener Gast, der nun mit Gusto und Feinnervigkeit eine Premiere betreute. Carlo Franci erwies sich nicht nur als gestandener Routinier, sondern auch als hochgradiger Zauberer, mühelos optimale Abstimmungen zwischen Bühne und Graben meisternd, ein furioser und gleichermaßen behutsamer Lotse durch Tiefen und Untiefen eines geschmeidigen, durch und durch kulinarischen Musikstroms. Zuverlässig und sublim bis zum verklärt-trostlosen Liebestod in Wetzlar, zu dem das "Weihnachts"-Geschrei des Kinderchores die sarkastische Pointe beizutragen hatte.

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Dokument erstellt am 12.12.2005 um 15:56:19 Uhr
Erscheinungsdatum 13.12.2005

 

Frankfurter Neue Presse
13.12.2005

Selbstmord an Weihnachten

Von Michael Dellith

Wie ein Keil schiebt sich der trapezförmige Guckkasten in die ansteigende Bühnenlandschaft – ein klaustrophobischer Innenraum, der eine Barriere zur Außenwelt darstellt, zu der man nur durch eine große Schiebewand gelangt. Schon allein dieser Regieeinfall macht Willy Deckers „Werther"-Inszenierung, die vor neun Jahren für die Nederlandse Opera in Amsterdam entstand und nun von Johannes Erath für die Frankfurter Oper eingerichtet wurde, sehenswert.

Es ist der Konflikt zwischen biedermeierlicher Häuslichkeit und ungebändigter Natur, zwischen rigiden gesellschaftlichen Konventionen und absoluter Freiheit, zwischen Pflichterfüllung und bedingungsloser Liebe, den Decker und sein Bühnenbildner-Kollege Wolfgang Gussmann, der auch die historisierenden Kostüme (uniformes Blau für die Welt Charlottes, sonniges Gelb für Werther) entwarf, als Grundidee für ihre Inszenierung verarbeiteten. So entstand ein auch in der Personenführung schlüssiges Gesamtkonzept, das immer wieder mit berückenden Bildern aufwartete – so etwa die Szene, als Werther das Familienidyll von Charlotte und ihren kleineren Geschwistern betrachtet, was Decker zum Tableau gefrieren lässt. Wenige Requisiten genügen: ein paar Stühle für den häuslichen Bereich, das Porträt der verstorbenen Mutter, die übermächtig über das Geschehen wacht und letztendlich mitverantwortlich für den Selbstmord Werthers ist, weil sie für Charlotte den Geschäftsmann Albert bestimmt hatte; dazu noch ein paar Modellhäuschen samt Kirche, die symbolhaft für die bürgerliche Enge stehen.

Die optische Geschlossenheit der Inszenierung fand am Premierenabend ihre musikalische Entsprechung in einer ungemein farbigen, facettenreichen Klangregie von Carlo Franci. Der Italiener, seit mehr als 30 Jahren mit dem Frankfurter Haus freundschaftlich verbunden, kehrte für diese Produktion an die Städtischen Bühnen zurück und schuf mit seiner präzis-umsichtigen Zeichengebung am Pult des bestens aufgelegten Museumsorchesters eine lyrisch empfindsame, meist elegisch getönte Atmosphäre. Die dramatischen Ausbrüche in ihrer veristischen Drastik wirkten deshalb umso stärker.

Auf der Bühne sorgten der polnische Tenor Piotr Beczala (Werther) und die amerikanische Sopranistin Kristine Jepson (Charlotte) vor allem in den intensiven Duetten für vokale Glanzlichter in diesem Drama, das am Weihnachtsabend auf so tragische Weise mit dem Freitod des Titelhelden endet: er mit einem leichten, auch in der Höhe belastbaren Tenor, in der Grunddisposition lyrisch, aber auch zu Emphase und expressivem Ausbruch fähig; sie mit warmem, fast mütterlichem, dazu biegsamem Timbre, leuchtend in den Spitzentönen. Den fröhlichen, fast kindlichen Gegenpart erfüllte Britta Stallmeister hinreißend in der Rolle der jüngeren Schwester Sophie, Nathaniel Webster gab den Geschäfts- und Ehemann Albert kalt, ja zynisch mit stimmlichem Format. Nobel grundierte Franz Mayer die Partie des Amtmanns, und Simon Bailey und Michael McCown agierten als Johann und Schmidt mit pantomimischer Finesse. Nicht zuletzt erfreute der von Apostolos Kallos einstudierte Kinderchor mit seinen Noëls.

Am Ende entlud sich die Anspannung im Publikum in großem Jubel, mit einhelligem Beifall für einen Abend, der einmal mehr die enorme Leistungsfähigkeit des Frankfurter Hauses demonstrierte.

 

OFFENBACH POST
13. Dezember 2005

Herz-Schmerz in empfindsamen Graden
Jules Massenets "Werther" an der Oper Frankfurt zwischen südlicher Sonne und Wetzlarer Kälte


Auf Werther (Piotr Beczala) scheinen schon die Totengräber zu warten.
Foto: Aumüller

Also ehrlich - Selbstmord wird keiner begehen, der diese Version von Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" gesehen und gehört hat. Dafür wird in Jules Massenets (1842-1912) lyrischem Drama, das jetzt seine überaus beifällig aufgenommene Premiere an der Oper Frankfurt erlebte, einfach zu schön gesungen und musiziert - noch bei Werthers immerhin einen Akt währenden Todeskampf. Denn Willy Deckers Originalproduktion für die Nederlandse Opera Amsterdam, in Frankfurt von seinem Assistenten Johannes Erath auf die Bühne gestellt, kanalisiert die Herz-Schmerz-Wellen dieser Oper in einprägsamer Szene, bringt sie so geziemend auf Distanz. Und Massenets Musik überstrahlt bei Carlo Franci und dem wieder einmal Bestform bezeugenden Frankfurter Museumsorchester eine derart freundliche südliche Sonne, dass alle Trivialität, alle Theatralik unmittelbar gebannt scheinen. Zudem wird auf erlesenem Niveau gesungen - allein der Werther des jungen polnischen Tenors Piotr Beczala hat ein Wiederhören verdient.

Es ist das bewährte Liebesdreieck mit tödlichem Ausgang: Werther entflammt heftig für Wetzlars Charlotte, die ihrer verstorbenen Mutter versprochen hat, den sie ebenfalls liebenden Albert zu heiraten. Regisseur Decker und sein Ausstatter Wolfgang Gussmann haben dafür einen tiefblauen Parallelogramm-artigen Bühnenbau erstellt, dessen eine verschiebbare Wand den Blick auf eine riesige orangenfarbene, helle Scheibe freigibt, die gefühlsenge bürgerliche Innenwelt mit einem großzügigen Außen konfrontierend, in dem Werther allerdings schon zum Vorspiel mit der Pistole hantiert, während Charlotte das Bild der Mutter nachdenklich betrachtet. Der Weihnachtslieder probende Kinderchor (Einstudierung: Apostolos Kallos) tobt dann mit Bauklötzen herum, die später in anderem Format Dorf und Kirche darstellen.

Werther verkörpert hier den stürmischen Latin Lover ebenso glaubwürdig wie er in seinem langen gelblichen Mantel als Lonesome Cowboy durchgeht. Dagegen ist Charlotte ganz Bürgerstochter der Massenet-Zeit, das bescheidene Glück per Familien-Tableau festhaltend. Die überlange Tafel mit Albert und Charlotte an den zwei Enden signalisiert auch innere Ferne der Eheleute. Wenn das Liebesdrama kulminiert, wird die in schwarz gekleidete Familie hier Platz nehmen, stumm angesichts des tragischen Geschehens. Dann rieselt der Schnee, die Außenwelt ist zu Eis erstarrt. Wie alkoholisierte Totengräber wirken die das Spiel an Nahtstellen antreibenden Brüder Johann (Simon Bailey) und Schmidt (Michael McCown) - mit teuflischer Lust und elastischen Stimmgaben.

Da bedarf es nur noch intensiver Personenregie, denn Massenets Musik setzt seelische Befindlichkeiten nahezu minuziös und mit hoher Empfindsamkeit um. Carlo Franci rückt sie in Puccini-Nähe, hält sie kammermusikalisch in Zaum, wie er auch überirdische Saiten anschlägt und selbst im langwierigsten Trauermarsch nie zu viel Sentiment vergießt. Und er ist ein ungemein sängerdienlicher Dirigent. Was Kristine Jepsons dunkel timbriertem expressiven Mezzo zugute kommt, die den psychischen Drahtseilakt von der mütterlichen Schwester über die gehorsame Gattin zur bekennenden Liebenden glaubwürdig rüberbringt. Aber auch den Werther des Pjotr Beczala stimmlich stärkt, ein zwischen Lyrischem und Dramatischen ungemein sicherer Tenor, der noch die Prachtarie "Pourquoi me reveiller" locker meistert. Als verliebtes Jungmädchen Sophie lässt Britta Stallmeisters feinstimmiger Sopran aufhorchen, den auf seine Rechte pochenden Albert gibt Bariton Nataniel Webster ebenso souverän wie Franz Meyer den verwitweten Vater.

Es muss nicht immer "La Traviata" sein: Auch den Frankfurter "Werther" sollte man nicht versäumen.

KLAUS ACKERMANN

 

WIESBADENER KURIER
13.12.2005

Wenn Männer zu sehr lieben
Willy Deckers Inszenierung von Jules Massenets "Werther" in Frankfurt

Von Volker Milch


Opfer der Zwänge: Charlotte (Kristine Jepson) und
Werther (Piotr Beczala) in der Oper Frankfurt.
Aumüller

FRANKFURT Goethes Original-Werther endet drastisch: "Über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben." Das wäre auf der Opernbühne für das Fin de si´Zcle wohl etwas zu viel Realismus gewesen. Die Librettisten von Jules Massenets "Werther" haben dem berühmten Briefroman denn auch ein ganz anderes, bittersüßes Finale verpasst: Charlotte, die als "Engel der Pflicht" zu ihrem langweiligen Verlobten Albert steht, vereint sich zumindest in einem Abschiedskuss mit dem unglücklichen Werther. So viel Zeit muss sein im "Drame lyrique", das nun in Frankfurts Oper unter der Musikalischen Leitung von Carlo Franci seine gefeierte Premiere hatte. Mit der Erfahrung eines Altmeisters trägt der 78jährige, in Frankfurt seit 30 Jahren geschätzte Gastdirigent Franci die Szene und lässt Massenets Klangfarbenspiel zu schönster Wirkung kommen - darunter auch den irritierend "modernen" Sound des Saxofons und jenes berühmte "Pourquoi me réveiller", ein Wunschkonzert-Bonbon für geschmeidige Tenöre. Vor allem im dritten und vierten Akt schwingt sich Massenets Melos immer wieder zu dramatisch fesselnder Intensität auf.

Die Gattung hat natürlich, wenn man die 1892 in Wien uraufgeführte Oper mit Goethes "Die Leiden des jungen Werthers" vergleicht, ihre eigenen Gesetze: Dazu gehört auch, dass Charlotte von ihrer Unschuld verloren hat und als Mezzosopran doch einigermaßen sinnlich glüht. Und ihr Verlobter Albert ist keineswegs der "brave Mensch" der literarischen Vorlage, sondern trägt die Züge eines typisch baritonalen Opern-Bösewichts. Diese werden auch auf Frankfurts Opernbühne unterstrichen: Albert verleiht seine Pistole nicht ahnungslos als ein Instrument der Selbstverteidigung an Werther, sondern schickt sie ihm im vollen Bewusstsein der Folgen: Eine klare Aufforderung zur Selbsttötung.

Willy Deckers Inszenierung hatte bereits 1996 in Amsterdam Premiere und wurde nun - nach diversen Gastspielen dieser Produktion der Nederlandse Opera Amsterdam - in einer szenischen Neueinstudierung von Johannes Erath für Frankfurt wiederaufbereitet. Großen Anteil an der suggestiven Wirkung der Inszenierung hat Wolfgang Gussmanns Bühnenbild: Eine in kräftigen Werther-Farben wie Gelb und Blau stilisierte Seelen-Bühne. Auf ihr weitet sich die Begrenztheit von Charlottes bürgerlichem Wohnzimmers zu Werthers quasi kosmisch dimensioniertem Gefühlsraum: Im Hintergrund rundet sich die Spielfläche wie ein leerer Himmelskörper, auf dem Einsamkeit trefflich darstellbar ist. Warmes Gelb wandelt sich in die Tristesse einer Winterreise.

Die Zwänge, deren Opfer Charlotte und Werther werden, sind deutlich: Die Kirche ist, trotz ihres Spielzeug-Formats, von durchaus bedrohlicher Omnipräsenz, und das hochgeschlossene Bild der verstorbenen Mutter steht ebenfalls für die Disziplinierung der Leidenschaften. Sturm und Drang ist höchstens in Werthers originalgelber Kleidung angesagt, ansonsten trägt man hochgeschlossenes Schwarz und Zylinder des ausgehenden 19. Jahrhunderts (die Kostüme stammen ebenfalls von Wolfgang Gussmann). Mit der Besetzung der Titelpartie landete die Frankfurter Oper wieder einen Volltreffer: Piotr Beczala bringt neben einem wunderbar weichen, charakteristischen Timbre auch die notwendige Durchsetzungskraft für diesen Werther mit und spielt den Enthusiasmus des jungen Mannes nach Kräften aus. Nicht minder überzeugend die Charlotte der Kristine Jepson. Ihre reife, etwas matronenhafte Mütterlichkeit gibt der Geschichte eine ganz eigene, ödipale Note. Nathaniel Webster macht sich bestens als steifer Albert, der, mit Leib und Seele Konvention, einen Stock verschluckt zu haben scheint.

Das Publikum jubelt, und Massenet dürfte heute ähnlich erfreut sein wie 1895, als er an den Direktor des Frankfurter Stadttheaters schrieb: "Ihnen verdanke ich die Inszenierung unseres Werther in dem schönen Theater der Oper Frankfurt (...) sagen Sie bitte all meinen Mitstreitern, meinen Freunden im Orchester und auf der Szene, sagen Sie ihnen, wie ich mich voller Rührung und Anerkennung freue."

 

klassik.com
Frankfurt (Main), Städtische Bühnen 11.12.2005

Jules Massenets 'Werther' in Frankfurt
Stirbt man heute noch an unerfüllter Liebe?

Kritik von Midou Grossmann

Auch Goethe hätte sicherlich applaudiert, diese Premiere in der Frankfurter Oper dürfte ihm gefallen haben. Willy Deckers ‚Werther’-Inszenierung, eine Koproduktion mit der Oper Amsterdam, traf ins Schwarze. Unglaublich stimmig und intensiv wurde hier Massenets Werk in Szene gesetzt. Der romantische Geist des 18. Jahrhunderts ist plötzlich sehr präsent im Zuschauerraum und das Publikum verfolgt gebannt Werthers Leiden und Tod. Erstaunlich wenig ‚Huster’ waren im Publikum zu vermerken und am Schluss flossen zudem auch noch reichlich Tränen.

Willy Decker hatte die szenische Einstudierung in Frankfurt seinem Assistenten Johannes Erath anvertraut. Das Resultat ist von großer Eindringlichkeit, jede Geste und jeder Blick der Protagonisten steht im Einklang mit der Musik. Da gibt es keine überflüssigen Bewegungen, alles wirkt wie maßgeschneidert. Das minimalistische Bühnenbild von Wolfgang Gussmann bildet einen idealen Rahmen für die stark emotionale Handlung. Klare Farben, blau und gelb am Anfang, bestimmen das Bühnenbild. Das Gelb einer großen runden Scheibe gibt ein Gefühl von Sommer, Sonne und Leichtigkeit. Davor, als starker Kontrast, die dunkelblau gehaltene Wohnung Charlottes. Eine gewisse Strenge und Leere prägen den Raum, spürbar noch die Trauer um die verstorbene Mutter. Verschiebbare Wände erlauben eine Öffnung hinaus zum Leben und zur Natur, die Werther so schwärmerisch besingt. Die Schlussszene wird allerdings dominiert von Kälte und Schnee. Wie so oft bei Willy Deckers Arbeiten, wiederholen sich die Farben des Bühnenbilds in den Kostümen. Wolfgang Gussmann, hat für die Familie dunkelblaue strenge Kleider entworfen, nur Werther darf helle, leichte Kleidung tragen. Die Kostüme sind der Entstehungszeit des Werks nachempfunden.

Jules Massenets hat mit seiner enorm farbenreichen und vielschichtigen Komposition eine perfekte musikalische Basis für ein sehr lyrisches Libretto geschaffen, das wunderbar die romantischen Seelenzustände des 18. Jahrhunderts beschreibt. Werther ist von einer großen Sehnsucht nach Licht und Liebe geprägt, die er in der Realität des Alltags nicht finden kann. Er sucht seine Erlösung in der Liebe zu Charlotte, die ihn aber nicht erhören kann. In der Hinwendung zu außerirdischen Sphären erhofft er dann die ersehnte Perfektion zu finden. So stirbt er langsam, weltabgewandt und fast glücklich, dass man durchaus verstehen kann, welch große Aufregung Goethe damals mit seinem Roman bei seinen Zeitgenossen erregte. Hatte er damit nicht indirekt den Selbstmord idealisiert?

Der musikalische Teil der Frankfurter Produktion darf durchaus als herausragend bezeichnet werden und das Dirigat von Carlo Franci als eine Sternstunde. Die zarte seelenvolle Musik Massenets hatte Raum zu fließen und zu blühen. Es schien, als ob der große ‚Altmeister’ aus Italien das Frankfurter Museumsorchester verzauberte. Der Maestro dirigierte das Werk auswendig und man spürte sofort, dass er jede Note verinnerlicht hatte, nur ein Blick, nur eine kleine Geste und schon reagierte der Klangkörper. Auch eine große Einheit zwischen Orchester und Sänger ist spürbar, der berühmte Funke war sicherlich gesprungen. Franci dirigiert seit über 30 Jahren in der Frankfurter Oper und wird von dem Orchester sehr verehrt. Ein großes Lob gebührt auch der musikalischen Einstudierung sowie dem Sprachcoach, die französische Gesangslinie und Aussprache können nur als bemerkenswert authentisch bezeichnet werden.

Nun zu den Sängern. Auch hier zeigt das Frankfurter Haus wieder Weltklasseniveau. Der polnische Tenor Piotr Beczala ist sicherlich zurzeit einer der besten Vertreter seines Fachs. Eine gut sitzende Stimme mit schönem Timbre und großer Flexibilität sowie Ausdruckskraft zeichnet ihn aus, auch beherrscht er perfekt die notwendige musikalische Phrasierung für diese delikate Partie. Ihm zur Seite die Mezzosopranistin Kristine Jepson als Charlotte, stimmlich sehr überzeugend, mit einer warmen Mittellage und einer mühelos aufblühenden Höhe, schönen Piani und sehr nuanciertem Gesang. Britta Stallmeisters meisterte die Partie der Sophie problemlos, sehr eindrucksvoll auch ihre schauspielerischen Fähigkeiten. Nathaniel Webster hatte die undankbare Aufgabe einen etwas steifen Albert darzustellen, der eigentlich immer im falschen Moment auftreten musste, doch sein schöner gleichmäßig geführter Bariton entschädigte für diese Störungen. Auch Franz Mayer als La Bailli, Simon Bailey und Michael McCown alias Johann und Schmidt ergänzten die hochkarätige Sängerriege ebenbürtig. So aufgeführt wie in Frankfurt, beweist sich Massenets Werther als wahrer Publikumsmagnet und zeigt wieder einmal, dass große Gefühle auch heute noch sehr en vogue sind.