Frankfurter Neue Presse
26.08.2006

Der Kaiser ersteht von den Toten auf
Die Frankfurter Oper startete mit Händels „Agrippina" kurzweilig in die neue Saison.

Die Geschichte aus dem alten Rom, von Regisseur David McVicar behutsam in das mittlere Management der neuzeitlichen Bankenwelt übertragen, beendete die zurückliegende und eröffnete die neue Spielzeit zugleich. Händels „Agrippina" verbindet über dreieinhalb Stunden herrliche Musik mit dramatischer Handlung. Denn spätestens, wenn totgeglaubte Kaiser wieder von den Toten auferstehen und eine mit allen Intrigen gewürzte Suche nach dem Nachfolger ins Stocken gerät, ist Spannung angesagt.

Kaiser Claudius ist in der Frankfurter „Agrippina"-Inszenierung zu einem Geldbaron mit Straßenanzug mutiert. Und seine Gemahlin Agrippina sieht wirklich aus wie eine durchtriebene First Lady. Wen wundert’s, dass bei derart starken und erdrückenden Persönlichkeiten ein Sohn vom Format eines Nero herauskommt – eine charakterliche Melange aus Minderwertigkeitsgefühl und Selbsthass, ein von epileptischen Anfällen gequälter Kokser, der die hohe, goldene Treppe zur Macht hinaufstolpert. Man hielt bei dieser ersten Wiederaufnahme an den bewährten Kräften der Premiere im Juni fest: Die herzige Juanita Lascarro war fast etwas zu lieblich für die Titelrolle, so dass man sich immer wieder scheute, ihr die ganzen Intrigen abzunehmen. Malena Ernman gefiel in der Rolle des Nero; wirklich ein verweichlichter Schönling. Anna Ryberg als Poppea und Simon Bailey waren nicht zuletzt aufgrund ihrer ausdrucksstarken Stimmen die richtigen Besetzungen für diesen genialen Wurf des erst 24 Jahre alten Händel.

Dass letztendlich das Publikum trotz der langen Spieldauer seine Kurzweil hatte, lag aber auch an den witzigen Regieeinfällen, wenngleich der Szene mit der verruchten Hotelbar und dem klimpernden Cembalo ein bisschen weniger sexistische Andeutungen nicht schlecht bekommen wären. Hervorragend in Spiellaune war auch das um einige Barockspezialisten ergänzte Museumsorchester unter der Leitung von Felice Venanzoni, einem Meister seines Fachs. (Ge)

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung
26.08.2006

"Agrippina" wieder in der Oper
Provinzialität und Weltklasse

Die Frankfurter „Agrippina"-Inszenierung von David McVicar hatte unmittelbar vor der Sommerpause Premiere. Der aktuellen Saisoneröffnung mit dieser Oper von Georg Friedrich Händel eignet so weniger der Charakter einer Wiederaufnahme denn einer Fortsetzung. Unverändert bleibt das Bühnenpersonal, da die als Nerone vorgesehene Kristina Hammerström erkrankt ist und vom Premieren-Original Malena Ernman vertreten wird.

Routine hat sich beim - im Besetzungszettel nicht aufgeführten - Frankfurter Museumsorchester über den Sommer nicht eingestellt. Unter der Leitung von Felice Venanzoni bleibt die Leistung deutlich hinter den Erwartungen zurück. Dem Orchestergraben entströmt rechtschaffene Barockmusik, den Sängern allzuoft bloß dicht auf den Versen, hilflos hintendran beim ironisch-heiteren Spiel mit barocken Verzierungen und Melismen.

Jetztzeitigkeit prallt auf das Barockwerk

Nicht zuletzt das Liebesduett von Poppea und Ottone, intimer Gegenpol im bunten Treiben, hat hierunter zu leiden. Schwer vorstellbar, daß man sich in den umliegenden kleineren Staatstheatern derartige Konzentrationsschwächen leisten könnte. Diese partielle Provinzialität trifft in durchaus erhellender Weise auf eine Weltklasse-Inszenierung mit teilweise überragenden Darstellern. Anstatt platt zu aktualisieren, läßt McVicar in Weiterentwicklung seines Brüsseler Konzepts kompakt etablierte Jetztzeitigkeit auf ein Barockwerk prallen, dessen Eigenwert selbst in Momenten aberwitziger Exaltation wundersam unangetastet bleibt.

Anna Ryberg als Poppea und Simon Bailey als Claudio singen sinnlich, wenn auch nicht durchweg ganz rein. Da zieht Juanita Lascarro in der Titelrolle ganz andere Saiten auf. Mit souveräner Professionalität instrumentalisiert sie alle erreichbaren Männer, modifiziert dabei ihre Strategie von Phall zu Phall mit stupender Flexibilität. Lascarros Sopran paßt sich jeder Situation biegsam an, strahlt voluminös und klar, weiß mit raffiniert verschattetem Vibrato aber auch eine Nähe zu suggerieren, die sich dann umgehend als Chimäre erweist.

Ungeachtet später Einsicht kann sich das amüsant rivalisierende Duo Pallante (Soon-Won Kang) und Narciso (Christopher Robson) nicht aus dem Netz der machtbesessenen Verführerin befreien. Eine stimmlich überragende Leistung bietet der von der Brüsseler Produktion übernommene Lawrence Zazzo. Sein Countertenor sichert der naiven Aufrichtigkeit des Ottone eine Authentizität, die im allgemeinen Falschspiel der Gefühle einen unentbehrlichen Kontrapunkt bildet. Alles überragend ist schließlich der Auftritt der Sopranistin Malena Ernman. Mit kaum faßbarer Körperbeherrschung und Bühnenpräsenz, Humor, blitzender Intelligenz und außerordentlicher stimmlicher Begabung vollführt sie auf dem zwischen Barock und Moderne aufgespannten Hochseil einen entfesselten Tanz, in dem die Inszenierung ihre Vollendung findet.

BENEDIKT STEGEMANN