Frankfurter Allgemeine Zeitung
25. Juni 2007 , Nr. 144 / Seite 33

Bieito inszeniert Puccini
In Stuttgart kommt Barbarella als Racheengel

Eine regelrechte Achtundsechziger-Ikone war Sergio Leones Italowestern „Spiel mir das Lied vom Tod". Die Motive hierfür waren heterogen: Gewalt und Gegengewalt, die Vitalisierung des Ur-Genres der Filmgeschichte, mit „The Great Train Robbery" (1903) am Anfang; und zum Star-Quartett Bronson-Fonda-Cardinale-Robards kamen als besondere Attraktionen episch-weiträumige Landschaftsbilder - und Ennio Morricones Soundtrack mit dem verfremdeten Mundharmonikaklang, süffig ausgreifendem Melos und dem gewaltig hymnischen audiovisuellen Chorfinale.

Solch Widerspiel von Mythischem und Neuem prägt seit vier Jahrhunderten die Oper. Dass die klassischen „Manon Lescaut"-Versionen das Paar in Louisiana verenden lassen, schlägt die Brücke zwischen Himmel und Hölle des Exotischen - zentrales Nebenthema Puccinis. Dessen „Fanciulla del West" hat in diesem Sinne als „Mädchen aus dem goldenen Westen" sogar politisch gezündet: Joachim Herz, einst Intendant der Komischen Oper, telegraphierte einem Puccini-Kenner: „Bin doch interessiert am Mädchen aus dem goldenen Westen" - worauf er prompt von der Stasi ob seiner Callgirl-Kontakte verhört wurde.

Zwischen Belcanto-Verismus und Colt-Kult-Kintopp

Der „Westen" bleibt Phantom - und zwitterhaft entsprechend Puccinis Mixtur aus Belcanto-Verismus und Colt-Kult-Kintopp. Wobei Mixtur musikalisch wörtlich zu nehmen ist: nicht nur in der Kombination unüblicher Mittel, sondern auch harmonisch-klanglich in schillernden, übers Exotisierende hinaus durchaus progressiven Amalgamen. Dass „La fanciulla" selten gespielt wird, hat auch musikalische Gründe im Fehlen von Ohrwürmern, und als Eifersuchts-Dreiecksdrama ist „Tosca" packender, zumal im Doppel-Todes-Schluss. Das Happy End war Puccinis Sache kaum, nicht zufällig blieb „Turandot" Torso.

Aber genau das Ineins von Melodram und Western-Kulisse reizt den Regisseur Calixto Bieito an dem Stück, führt ihn auf die richtige Fährte. Das Inszenierte selber zum Thema zu machen als Western-Show, Theater in der Revue - Treffpunkt quasi von Buffalo Bill und Bert Brecht. So wird die Goldgräber-Bar „Polka" zur Stadt, wie Brecht-Weills „Mahagonny", und das Rührstück zum Spiel, in dem Fiktion und Realität ineinander übergehen, à la „Bajazzo". Da wird im Westernstadt-Etablissement den Touristen einiges geboten: Schießereien, Indianer-Überfall, Pokerbetrug mit Gehenktwerden, und Minnie als sexy Entertainerin darf die Verrohten zur Gottgefälligkeit mahnen. Alle spielen ihre Rollen, der hereinstolpernde Dick Johnson erhält die des Banditen Ramerrez verpasst, an dem Minnie Gefallen findet, was wiederum die Eifersucht des Show-Sheriffs Rance weckt, der es auf den Star abgesehen hat: Gefälschtes wird Wirklichkeit, die Villa Kunterbunt zur Tragödie.

Bieito ist ein frappierendes Vexierbild gelungen

Bieitos Verfahren lässt vorteilhaft den melodramatischen Seelenpulverqualm der Vorlage schwinden. Zumal der erste Akt wird noch mehr als ohnehin zum Flickenteppich buntscheckig-disparater Genre-Szenen, analog zu Schillers „Wallensteins Lager"-Puzzle zur Vorwegnahme szenischer Collage-Ästhetik, Karikatur und Wirklichkeit verfließen. So etwa wenn der Wells-Fargo-Agent als Stelzen-Uncle-Sam mit der Messlatte als Ordnungsfaktor herumstolziert. Da kommt Sozialkritisches ins Spiel, während Bieito sonst fast antirealistisch das satirische Artefakt betont, besonders bei der Titelfigur: mal Zirkusprinzessin auf der Trapez-Schaukel, in der Liebesszene mondän-empfindsames Rita-Hayworth-Imitat voll bürgerlicher Zutraulichkeits-Sehnsucht, fast an Konwitschnys „Ebolis Traum"-Slapstick erinnernd.

Vollends zur Ikonen-Collage wird das Finale: Rance, sadistischer Mordgelüste voll, will den Rivalen nicht einfach hängen sehen, sondern den Tod langwierig mit dem Samuraischwert vollziehen. Da tut sich der Bühnen-Spiegelhintergrund auf, und Minnie erscheint als Engel der Geschichte im gelben Barbarella-Habit: Verschnitt zusätzlich aus Jeanne d'Arc, Nina Hagen und Gabriele Pauli - Powerfrau gegen Männerwelt. Im Showdown bezwingt und ersticht sie Rance, alles sinkt entseelt zu Boden - es folgt die Auferstehung der Scheintoten. Die wiederum ist so finster flackernd wie das Happy End fürs gerettete Paar. Es fällt schwer, nicht an die ratlose „Mahagonny"-Coda zu denken.

Bieito ist ein frappierendes Vexierbild gelungen: Obligate Drastik verbindet sich mit Spielcharakter, Fiktion bannt möglichen Kitsch. Es imponiert, wie es Bieito gelingt, das Ensemble offenkundig zur Identifikation mit seinen Ideen zu bringen, enorme Typenvielfalt zu zeigen. Die Hauptpartien sind entsprechend zielsicher besetzt. Natalia Ushakova präzisiert alle Varianten der Figur mit ihrem sehr präsenten Sopran, der nur bei wenigen Spitzentönen durch unnötigen Druck belastet wird. Ki-chun Park besitzt für den gehetzten Latino-Lover einen nicht eben großen, doch flexiblen Tenor. Tito Yous Rance leistet baritonal wie gestisch sinistre Kompaktheit. Dirigent Shao-Chia Lü setzt zu Beginn zu wenig auf den Quasi-Montagecharakter, hält das Stück insgesamt aber gut zusammen. Das Publikum war polarisiert.

GERHARD R. KOCH

 

DIE WELT
25. Juni 2007

Kill Buffalo Bill
Calixto Bieito inszeniert in Stuttgart Puccinis "Fanciulla" als Kolportage aus Pferdeoper und Tarantino-Showdown

Von Manuel Brug

Der katalanische Regisseur Calixto Bieito steht in Deutschland für Blut und Hoden, für Splatter-Verdi und Brutalo-Mozart. Dabei übersieht man gern, dass er - wie auch sein Bühnenbildner Alfons Flores - durchaus einen Hang zu Glamour und Glitz hat; möglichst in magisch leuchtenden Primärfarben. Bisher konnte man das nur im Porno-Schick von Bieitos "Traviata" in Hannover, aber auch auf der Raffinerie-Bühne seines "Wozzeck" in Barcelona genießen. Der erste Akt von Giacomo Puccinis Western-Ballade "La fanciulla del West", die Bieito und Flores jetzt so faszinierend wie bisweilen fragwürdig in Stuttgart herausgebracht haben, ist ebenfalls reine Augenlust.

Puccini war 1910 bei dieser Auftragskomposition der New Yorker Metropolitan Opera seiner Zeit weit voraus: Er komponierte die Mythen des Hollywood-Western, noch bevor es diesen eigentlich gab. Seine Musik kennt kaum Arien, sie zitiert, ist montiert, überblendet; Techniken, die die Filmkomponisten später schamlos kopierten und zu ihren eigenen machten. Leider durchtränkt der Dirigent Shao-Chia Lü das in Stuttgart samt dem fett aufspielenden Staatsorchester mit zu viel Ahornsirup. Wo die Pferdeoper nervös tänzeln müsste, die Kolportage mechanisch rattern sollte, da suppt hier zu oft dickflüssig das Lied vom Italowestern-Operntod.

Robert Carsen in Antwerpen und David Pountney in Zürich haben "Das Girl aus dem Goldenen Westen" konsequent gleich im Filmstudio angesiedelt. Auch Calixto Bieito spielt mit schönen Lügen. Zunächst freilich noch zelulloidlos mit denen einer Wild-West-Show für Adiletten-Touristen in Schalensitzen. Diese dürfen sich - bitte stillhalten - auch fürs Erinnerungsfoto kurz hängen lassen. Stuttgarts famoser Chor schaut also zu, wie Vergnügungspark-Helden sich während der Studiotour in einer roh gezimmerten Westernstadt prügeln und beschießen, wie sie vom Pferd plumpsen und mit Karten foulen. Alles bunt, alles nur Fake, am Ende stehen Tote und Blessierte auf. Puccinis Frontiertown verschwimmt hier mit dem Retrozitat von Brecht/Weills Netzestadt Mahagonny, der anderen Cowboy-Opernmetropole.

Bieito weiß um den Patchwork-Charakter dieses ersten Aktes mit seinen vielen Einzelnümmerchen voll Lokalkolorit, die freilich im Musiktheater behäbiger rüberkommen als im Kino. Und ihm ist klar, dass die bibelfeste Minnie ein einziges Klischee ist. Ihre "Polka"-Saloon-Mannschaft hat sie fest im Griff, aber zwischen dem Sheriff Jack und dem Banditen Dick (der hier aus dem Zuschauerraum rekrutiert wird) schwankt sie emotional. Weil Dick Tenor singt, scheint ihre amouröse Entscheidung sowieso klar. Minnie spielt erst buchstäblich Poker um sein Leben, rettet ihn schließlich aus dem Schatten des Galgens. Am Ende des bühnenfüllend sich bisweilen verlierenden ersten Aktes mit Stars-and-Stripes-Girls, einem konfettiwerfenden Uncle Sam auf Stelzen, Schnulzen-Sänger und Pailletten-Poncho steigen alle Männer in eine Kiste, die nicht nur die nächste Goldlieferung, sondern - wie Pandoras Büchse - auch Minnies gute wie schlechte Träume birgt. Die nehmen im zweiten Akt, in einem stylish weißen, aber engen Kabuff, brutale Gestalt an. So surreal, dass sogar die grüne Götterspeise ohne Reue in die Mikrowelle geschoben werden kann.

Aus der Walküre in Marilyn-Korsage, die wie Nicole Kidman in "Moulin Rouge" auf dem Trapez einherschwebt, schält sich eine Femme fatale mit roter Mähne und Silberschlitzkleid. Natalia Ushakova kämpft zwar mit Ganzkörpereinsatz um und gegen die beiden Männer, doch treffen - anders als bei der scharf schießenden Minnie - ihre stahlgefrästen Spitzentöne nicht unbedingt korrekt ins Notenschwarze. Bei den Herren - beides Koreaner, was für zusätzliche Verfremdung sorgt - wird das Mittelmaß von Stuttgarts Besetzungspolitik ebenfalls evident: Ki-Chiun Park singt sich oftmals unter dem Dick durch; Tito You trumpft als Jack wohltönender auf, bleibt aber als Darsteller diffus.

Der schließlich doch blutige Tarantino-Showdown gehört natürlich Minnie. Die erscheint jetzt, zum überirdischen Idol durch Lichtspot und Spiegel verklärt, im gelbschwarzen Lederanzug und mit blonder Perücke als Mischung aus Jeanne d'Arc, Calamity Jane und Uma Thurman. Sie schwingt ein Samurai-Schwert und streckt Jack nieder. Der sombrerobewehrte Chor, der sich vorher ebenfalls in schönster Kill-Buffalo-Bill-Zeitlupen-Manier dahingemetzelt hat, kommentiert das kerlig sirenenhaft. Von Dick will Minnie nichts mehr wissen. Sie singen zwar gemeinsam ihr "Addio" aus verschiedenen Richtungen, doch das einsame Cowgirl schreitet als seine eigene Frau in den Scheinwerfer-Sonnenuntergang. Macht nichts, Dick, es gibt ja noch den Brokeback Mountain!

 

Stuttgarter Nachrichten
25.06.2007

Wenn der Kopf aber nun ein Loch hat
Fragwürdige Parodie: Calixto Bieito hat an der Stuttgarter Staatsoper Puccinis Western-Oper "La fanciulla del West" inszeniert

Was macht ein Intendant mit einer schlechten Oper? Er kann sie ignorieren. Entscheidet er sich dagegen, kann er entweder einen Regisseur verpflichten, der das Stück möglichst schlicht abbildet, oder er sucht sein Heil in der Parodie. Letzteres war jetzt bei Calixto Bieitos Inszenierung von Puccinis "La fanciulla del West" an der Staatsoper Stuttgart der Fall, und ein lautes Gegeneinander von Bravo- und Buhrufen nach der Premiere zeugte davon, dass man bei der Bewertung des Abends sehr unterschiedlicher Meinung sein kann.

VON SUSANNE BENDA

Ja, die Oper, die Puccini 1910 im Auftrag der Metropolitan Opera nach dem gleichnamigen Schauspiel David Belascos komponierte, ist schlecht - vor allem weil der Versuch, das Orchester zum ersten Träger von Gesang und Emotion zu machen, das Stück, das noch dazu an seinem trivialen Libretto krankt, in ein musikalisches Ungleichgewicht bringt. Da konnte sich Shao-Chia Lü am Pult des Staatsorchesters jetzt um eine dynamische Zurücknahme des übermächtigen Orchesterklanges mühen, wie er wollte, für die Sänger blieb "La fanciulla del West" auch in Stuttgart ein einziger Kampf: Die Instrumente klauen ihnen die schönsten Melodien, lassen vor allem Deklamatorisches übrig und decken, was an vokalen Schönheiten übrig bleibt, oft mit zäher, dichter Klangsoße zu.

Nur erstklassige Solisten können unter diesen Umständen bestehen. Tito You als Sheriff Jack Rance ist der Einzige, dem dies durchgehend gelingt, und folglich bekommt er am Ende als Einziger nicht den Unmut von Teilen des Publikums zu hören. Der richtet sich anschließend vor allem gegen Ki-Chun Parks angestrengte, von Unsicherheiten und Verfärbungen getrübte Verkörperung Dick Johnsons. Auch Primadonna Natalia Ushakova verschonten die Buhrufer nicht. Zu Recht, denn bei ihr klingt zwar manches Leise weich und sanft, zumal in der Mittellage, doch ihr Singen in der Höhe ist oft durch Ungenauigkeit und Schärfe gefährdet, und, noch gravierender, ihr gelingen keine wirklich tragenden Linien und Bögen, ihr Singen bleibt eine Aneinanderreihung vokaler Einzelereignisse.

Die zahlreichen mittleren und kleinen Partien des Stücks sind gut besetzt, und gemeinsam mit dem maskulinen Teil des Staatsopernchores, den Michael Alber wieder ganz exzellent einstudierte, erzielen die Herren Hofmann, Henriks, Kim, Kastãn, Kittelmann, Kwon, Takada, Ledesma, Sökler, Spehar, Meierhöfer und Munkittrick oft jenen prächtig-erdenschweren Vollklang, den man bei Männerchören lieben muss.

Aber die Inszenierung. Im ersten Akt ist sie lustig. Man sieht, gleichsam als Theater auf dem Theater, eine Westernshow mit Cowboys, Indianern, Spiel, Kampf, vielen Löchern in vielen Köpfen, einem Halb- und viel Farbbeutelblut. Calixto Bieito bedient mit Lust und Ideen möglichst viele jener Klischees, die uns Nachgeborenen Puccinis heute aus Westernfilmen bekannt sind - und weiß dabei die Musik auf seiner Seite, die hier wirklich kaum eine Plattheit auslässt. Man amüsiert sich in diesem ersten Akt tatsächlich so sehr, dass man weder dessen eigentlich sehr lange Dauer wahrnimmt noch zu beurteilen vermag, ob dem Anspruch von Show und Unterhaltung, den die Darbietung hier erhebt, nicht hier und da noch ein Feilen am präzisen Timing und an der Perfektion der Illusion gut getan hätte.

Klar, dass die Genre-Parodie so nicht weitergehen kann. Ein Stück nur zu inszenieren, um zu zeigen, dass es dafür eigentlich viel zu blöde ist - dafür ist Bieito denn doch viel zu schlau. Folgerichtig gibt es einen Bruch im zweiten Akt. Minnie, die zuvor als perfekte Illusion und in engem Einvernehmen mit einem emphatischen Ausbruch der Musik auf einem Trapez vom Bühnenhimmel hinab mitten in die Männershow hineinschwebte, wohnt jetzt in einem engen Mietshäuschen (Bühne: Alfons Flores). Dort spalten sich Spiel und Wirklichkeit voneinander ab: Minnie liebt Dick, sie liebt ihn nicht, sie liebt nur sich selbst, sie stellt dar, dass sie liebt und dass sie nicht liebt - wir sehen ein Vexierspiel zwischen Täuschung und Wahrhaftigkeit (oder von dem, was wir dafür halten?), und im dunstigen Breitwand-Gegenlicht-Tableau des letzten Aktes - das Bühnen-"Publikum" ist jetzt ganz in das Geschehen integriert - treibt das fatale Geschehen als Show ohne Zuschauer auf sein merkwürdig aufgesetztes Happy End zu, an das keiner glauben kann. Ach Bieito nicht. Deshalb trennen sich zum Schluss die liebend Vereinten: Die Frau verschwindet auf der Bühne, und der Mann geht zurück ins Publikum.

Calixto Bieito glaubt weder an das Stück noch an seine Parodie, findet aber auch keinen logischen Weg, um zwischen beiden Möglichkeiten zu vermitteln. Schade. Stuttgarts Opernintendant Albrecht Puhlmann hätte sich angesichts der vielen Lücken im italienischen Repertoire seines Hauses lieber für ein Werk entscheiden sollen, zu dem er und sein Regisseur hätten stehen können. Und, meine weißen und roten Brüder, ich sage euch: Solange Calixto Bieito durch die Rocky Mountains des Musiktheaters reitet, wird er nur dort wirklich gut sein, wo er im Kampf mit wahren und großen Gefühlen ein echter Mann sein darf. How, ich habe gesprochen.

 

Stuttgarter Zeitung
25.06.2007

Ballern, bis die Pferde äppeln
Calixto Bieito inszeniert Puccinis "Fanciulla" in Stuttgart

Von Götz Thieme

1935 kam der Marx-Brothers-Film "A Night at the Opera" heraus, in dem Groucho, Chico und Harpo eine Opernvorstellung an der New Yorker Met schrotten. Einmal so hinreißend anarchisch parodiert Verdis "Trovatore" auf der Bühne zu sehen, gehört zu den Träumen eines gelassenen Melomanen - Opernland heißt ja oft Absurdistan. Blöde Texte, abseitige Geschichten, blökende Götter, schreiende Weiber. Weit weggerückt von unserer Lebenswirklichkeit das alles: da bleibt nur die Veranschaulichung durch Übertreibung. Ein Weg, der so schwer zu nehmen ist wie die respektvolle Annährung an ein Werk, bei dem man Musik und Text genau liest. Calixto Bieito hat an der Staatsoper Stuttgart bei Giacomo Puccinis "Fanciulla del West" den Weg der Parodie gewählt, Parodie im Sinne von Überschreibung, aber eben auch Übertreibung. Zu viel Cowboy-Schweiß und Pulverdampf im italienischen Libretto - da setze man noch einen drauf, dachte sich der unberechenbare Katalane.

"La fanciulla del West", das einträgliche Auftragswerk der New Yorker Met, 1910 uraufgeführt mit Enrico Caruso, Emmy Destinn, Pasquale Amato und Arturo Toscanini am Pult, leitet Puccinis Spätwerk ein und erfreut sich entweder enthusiastischer Liebhaber oder vehementer Verächter. Ein falscher Stoff zur falschen Zeit im unmöglichen Medium. Der Komponist, ein verkannter Moderner unter der Meloshaut, ein Meister der Orchestrierung, war mal wieder zu früh dran, als er die Genreschmonzette von David Belascos Schauspiel "The Girl of the Golden West" vertonte. Denn der Western ist später im Kino erlöst worden.

Pferdegetrappel und Goldgräberstimmung auf der Opernbühne sind so spannend wie Winnetou-Freiluftspiele in Bad Segeberg. Kein Wechsel des Mediums bleibt ungestraft. Puccini scheint es geahnt zu haben und hat eigentlich keine Handlung mehr, dagegen Szenen und Situationen, Peripetie und Katharsis komponiert. Psychologie, Herkunft, Zeichnung der drei Hauptfiguren interessieren ihn kaum: Minnie, ungeküsste Volksschullehrerin, die Whisky an Goldgräber ausschenkt und Bibelstunden abhält, Jack Rance, der Sheriff, der sie heiraten will, der dazwischenfunkende Herzens-und-Taschen-Dieb Dick Johnson, der von Minnie vorm Galgen gerettet wird und sich mit ihr zu einem besseren Leben aufmacht - im Grunde Pappkameraden, die erst singend Fleisch ansetzen.

Abseitiges Genre und konventionelle Dreieckskonstellation: das geniert die Opernmacher. Calixto Bieito greift tief in die Ablenkungskiste, konstruiert sich einen Bilderreigen - und mutiert unversehens vom Kopulierarrangeur zum Kitschier. Der Saloon Polka zu Goldgräberzeiten im ersten Akt wird umgemodelt zu den "Cinemastudios - jeden Tag offen", wo eine Horde Kerle im globalen Touristendress, T-Shirt, Shorts, die Kamera im Anschlag, eine Wildwestführung und die volle Schau zur vollen Stunde bekommt, mit Snoopey, dem Hund, zwei Pferden, gut gebauten Cowboys und schlecht gelüfteten Indianern, Schlägereien und Stunts, auf Köpfen zerbröselnden Flaschen und berstenden Tischen. Bis schließlich Minnie auf dem Trapez im roten Moulin-Rouge-Schein von der Scheinwerfergalerie herabschwebt. Nur Nicole Kidman zeigte mehr Bein. Bei all der "Äktschen" stört meist die Musik. Nur wenn Jack Wallace sein sentimentales Lied anstimmt, passt der Hollywoodzauber; Motti Kastãn gibt den Goldgräber mit Heimweh als schwulen Cowboy, weiß vom Hut über das Fransenwestchen bis zu den Flokatichaps: Zuckersüß säuselt er "La mia mamma" ins Mikrofon.

Ansonsten ist das alles so stinklangweilig wie der Desperado Dick Johnson, zu dessen Darstellung man einen koreanischen Zuschauer aus dem Parkett auf die Bühne bittet. Der hat wie der lispelnde Sänger Ki-Chun Park das Flair eines Schalterbeamten: das nennt man punktgenaue Rollenbesetzung. Nun bietet Bieito in den Filmkulissen (atmosphärisch leuchtet und gleißt Alfons Flores" Westernkulissenbühne im ingeniös eingerichteten Licht von Reinhard Traub) die volle Biegetechnik des Regietheaters auf: Das Personal verschwindet in Minnies Schatzkiste, um als Traumfiguren in den folgenden Akten aufzutauchen. Damit das keiner vergisst, faucht die Nebelmaschine in Abständen wehen Schwaden auf die Szene.

Diese Biegetechnik ist sehr praktisch, denn nun reiht der Regisseur in freier Assoziation Bilder aneinander, die gespeist sind aus dem unendlichen Vorrat der Kinogeschichte. Es sind an die Panzerkette der Imagination gefesselte Abziehbilder: als Mafiaheinis mit gekräuselten Lippen, gegelten Haaren wie bei Scorsese oder Wong Kar-Wei suchen Rance und seine Männer in Minnies Hütte nach Johnson. Die haben eben noch wie Tom Ewell und Marilyn Monroe im "Verflixten siebten Jahr" den Biedermann und die Busenbombe gegeben.

Vollends zum willkürlichen postmodernen Zitatespiel wird der dritte Akt. Während der Schalterbeamte die Abschiedsarie "Ch"ella mi creda" knödelt (laut kann er), erschießen sich alle gegenseitig in Zeitlupe, und das Blut spritzt meterweit im Gegenlicht. Schön. Das nennt man Kontrapunkt. Dass Minnie ihn vor dem Erhängungstod durch den Appell an die Herzen der harten Kerle rettet ("Ich gab euch die besten Jahre meiner Jugend"), ist zwar starker LibrettoTobak, aber Bieitos stilisiertes Schwerterduell mit ihr im ledernen, gelb-schwarzen Ganzkörperanzug und dem grimmig schnaufenden Rance scheint nicht minder abseitig. Der kundige Filmbuff erkennt Quentin Tarantinos "Kill Bill", der unkundige Abonnent hat aber auch nichts verpasst.

Calixto Bieitos parodierender, umlenkender Regiehebel ist grundsätzlich kein falscher: Man kann Puccinis Stück kaum eins zu eins inszenieren. Im Detail genau geprobt, mit Sinn für Effekte, zerstäubt dieser Abend weniger an den Momenten von Musicalshow und Blutrausch oder an dem am Schluss im falschen Schein der Lichteffekte zerfasernden Plot, sondern zuerst und zuletzt im Nichts der musikalischen Realisation. Lange ist es her, dass das freundlich-faire Stuttgarter Publikum zwei Hauptrollensänger und einen Dirigenten so in die Buhzange genommen hat wie Natalia Ushakova, Ki-Chun Park und Chao-Chia Lü.

Die Helden der Premiere sind dagegen rasch benannt. Der von Michael Alber einstudierte Herrenchor hat die raue "Hello"- Wucht der Touristen-Goldgräber ebenso drauf wie die ersten Tenöre mit Eleganz und Schmelz die hohen Bs und Hs nehmen, wenn es lyrisch wird. Tito You als Jack Rance singt nicht nur mit einem gut geführten und attraktiven, wenn auch für die Rolle etwas zu schlanken Bariton, in vielen Momenten zieht You aus dem Text musikalischen Affekt, findet Klangfarben und dynamische Schattierungen. Grandios fehlbesetzt ist dagegen Natalia Ushakova als Minnie, die weder singen noch schauspielern kann. Aber beides tut sie mit Vehemenz. Ihre untere Oktave: ein Hauch, ihre obere: schrill. Töne, meist von unten angesteuert, werden gesucht und nicht gefunden, Brust- und Kopfregister bleiben unverbunden, die Intonation ein Dauerkampf. Das Selbstbewusstsein dieses Schauersingens gipfelt grotesk am Schluss des zweiten Aktes in einem von Puccini und den Zuhörern nicht gewollten interpolierten Ton, der ein hohes Es sein soll. Ein Anschlag auf die Partitur, den der Sängerin aus Usbekistan weder der Dirigent noch jemand mit Nerven am Haus ausgeredet hat. In einem Interview vor der Premiere meinte die attraktive Ushakova, nach der "Fanciulla" könne sie "alles machen, auch ,Walküre"". Ja, vielleicht Helmwige.

Musikalisch ein Fall für die Provinz ist auch Ki-Chun Parks Johnson, dessen tenorale Gleichgültigkeit, einen musikalischen Charakter zu formen, nur von seiner szenischen Ungelenkigkeit übertroffen wurde. Man darf wenig gespannt sein auf ihn als Troia-Zerstörer Aeneas in Berlioz" "Trojanern" zu Beginn der kommenden Spielzeit.

Dass das Stuttgarter Staatsorchester Albrecht Puhlmanns einstigen Favoriten Shao-Chia Lü nicht als Generalmusikdirektor in Erwägung gezogen hat, bedarf keiner weiteren Kommentierung - außer der an diesem Abend ohrenfälligen: Ohne Valeurs, oft zu laut, schleppend, mit schwachem Puls, im Mikrobereich meist nicht zusammen, unplastisch und kühl pflügte Lü durch Puccinis Partitur - öd und leer das Orchestermeer. Tapfer und mit einiger Restdisziplin folgten die Musiker seinem zeremonialen Schlag. Ein Fest der großen Selbstlüge. Wir wollen ehrlich betrogen sein.

 

Frankfurter Rundschau
26. Juni 2007

Western-Show mit Nebenwirkungen
Sheriff im Gegenlicht
Western-Show mit Nebenwirkungen: Calixto Bieito inszeniert Puccinis "La Fanciulla del West" in Stuttgart.

VON JOACHIM LANGE

Sie heißt nicht Mimi und stirbt nicht an Schwindsucht. Sie heißt Minnie und weiß, wie man durchkommt. Am Ende kriegt sie sogar den Mann, den sie will, und entschwindet mit ihm in ein mögliches Glück. Giacomo Puccinis ambitionierte Oper vom "Mädchen aus dem goldenen Westen" spielt nicht im Bohème-Milieu des alten Europa, sondern in der Neuen Welt, als die noch neu war, mit ihren aufs gerade eroberte Land gezimmerten Saloons, ihrer Hängt-den-Pferdedieb-Justiz, mit Goldgräbern und rauchenden Colts.

Von heute aus gesehen klingt dieser Nach-Bohème Puccini über sich hinaus weisend, gar wie der Versuch des Abhebens in eine diffuse Moderne. Calixto Bieito denkt die große, gefühlsausbreitende Wildwestoper mit dem emotionsgeladenen cineastischen Konkurrenzmedium zusammen und nimmt sie als Filmschnitt-Belcanto szenisch beim Wort. Über der von Alfons Flores gezimmerten Bühne steht "Hollywood-Texas". Und genau das ist auch drin: Eine Goldgräber-Westernstadt, jeden Tag geöffnet. Geboten werden Liebes- und Sehnsuchtsschmachtfetzen, Südstaatenfahnen und Soldaten, Gangster und Sheriff und die Schöne, die alle anhimmeln, wenn sie aus dem Schnürboden in dieses Getümmel aus Menschen, Tieren (zwei schwäbische Pferde) und wirkungsvollen Stunts herab schwebt.

zwischentitel

Unten angekommen, verliebt sie sich ausgerechnet in einen Besucher, der die Rolle des gesuchten Banditen übernehmen muss. Weil der Sheriff hinter ihm genauso her ist wie hinter Minnie, wechselt Bieitos Perspektive ins Privatleben, in den Zwei-Zimmer-Wohncontainer der Schauspielerin, wo ein spannendes Eifersuchtskammerspiel wartet.

Minnie bekennt sich zu ihrer Liebe, auch als sie von seiner Banditen-Identität erfährt. Der Lynch-Mob verfällt in einen Blutrausch und bringt sich in Slow Motion selbst um, und Minnie taucht ganz im hautengen, quietschgelben Lack im Gegenlicht auf, um mit dem Sheriff final die Klinge zu kreuzen und ihren Geliebten und ihren Traum von einem Happyend zu retten. Hier holt Bieito die Ambivalenz, die schon vorher in der großen Belcanto-Geste zwischen dem Spiel mit dem Spiel und jenem zwischen den Darstellern durchschien, nicht zurück auf den Boden seiner Ausgangssituation. Was man inkonsequent nennen könnte. Dafür aber überhebt er die Szene ins traumhaft Surreale, und treibt folgerichtig am Ende alle Beteiligten auseinander. Sie fallen, wenn sie jeder in eine andere Richtung die verdämmernde Bühne verlassen, erst aus der Darstellung und dann ganz aus der Welt.

Shao-Chia Lü lieferte im Graben den großen Puccini-Ton in aller, mitunter auch selbstironischen Farbigkeit und ohne falsche Zurückhaltung. Die attraktive Natalie Ushakova als Minnie warf sich auch in die stimmlichen Herausforderungen der Partie mit allem Risiko. Die Männerriege glänzte in Zuverlässigkeit - sowohl Ki-Chun Park als Dick Johnson als auch Tito You als Sheriff Jack Rance beeindrucken mit ihrem Belcanto-Standvermögen an der Spitze eines spielfreudigen Ensembles.

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Copyright © FR-online.de 2007
Dokument erstellt am 25.06.2007 um 16:12:01 Uhr
Letzte Änderung am 25.06.2007 um 16:37:00 Uhr
Erscheinungsdatum 26.06.2007

 

Pforzheimer Zeitung
25.06.2007

Dreiecksgeschichte im Western-Look
Puccinis Oper „ La Fanciulla del West" hatte in der Staatsoper in Stuttgart Premiere


Ein Trio, das in einem Gewaltstrudel versinkt: Natalia Ushakova in der Rolle der Minnie, Tito You (Mitte) als Jack Rance und Ki-Chun Park als reitender Dick Johnson in der Oper „Das Mädchen aus dem Goldenen Westen" von Giacomo Puccini.

STUTTGART. Er ist ein Geschichtenerzähler par excellence: Vorm prasselnden Kaminfeuer sitzend, lässig in den Sessel zurückgelehnt, die weite Jeans bequem unter den Bauchansatz geschoben, manchmal mit der Hand träge über die Glatze streichend würde er uns stundenlang fesseln können. Mit Geschichten aus dem Wilden Westen. Wie er nie war. Denn ganz so einfach macht es uns Calixto Bieito nicht. Wenn der Katalane erzählt, dann sind die Geschichten voller Nebenlinien und Seitenstränge, dann ist nichts, wie es auf Anhieb scheint. Dann hält er uns mit seinem Vexierspiel in Atem. Und so sind die Cowboys und Indianer Mitglieder einer schmierigen Wildwest-Show; der Sheriff und der Bandit Koreaner, ist die dem Otto Preminger-Film „Fluss ohne Wiederkehr" entsprungene Marylin aus Usbekistan.

Da hat die ehrenwerte Gesellschaft aus Schurken und Banditen Mafia-Züge und da darf Emma Peel zum Schluss um ihren Liebsten mit dem Samuraischwert kämpfen. Dazwischen tummeln sich noch Gäule und Gaukler, Heimwehkranke und Lynchjustizler, da rieselt der Schnee und da spritzt das Blut, da wirbelt das Konfetti und da klatscht das Publikum – im Walzertakt. Denn all die Gestalten und Geschichten entspringen zwar Bieitos Fantasie, aber er bringt sie real auf die Bühne, findet sie in einem Stück, das als Schauspiel zu den unbedeutenden der Weltliteratur zählt.

David Belasco hat es 1905 geschrieben, doch Giacomo Puccini 1910 als „La Fanciulla del West" vertont und Calixto Bieito erweckt es nun in Stuttgart zu neuem Leben. Denn der Regisseur erzählt in der Staatsoper die Geschichte des „Mädchens aus dem goldenen Westen" auf seine eigene Weise: Minnie ist der Star der „Texas-Hollywood"-Show, den Sheriff Rance mit Haut und Haaren vereinnahmen will. Doch dann kommt ihm der unscheinbare Dick Johnson zuvor, der – als Tourist in die Show integriert – bei Minnie die „unendliche Liebe" weckt. Doch Johnson entpuppt sich als Dieb, Rance als mordlüsterner Pate und Minnie als Retterin – der gefallenen Cowboy-Seelen und der Haut ihres Geliebten. Augenzwinkernd spielt Bieito dabei mit dem Genre, mit dem Text und mit der Musik: Da lässt er genüsslich die Sänger die Belcanto-Partien zelebrieren, wohl wissend, dass Puccini bei dieser späten Oper sich eigentlich aus der Verdi-Nachfolge befreien wollte. Da lässt er das Publikum um den scheinbar sterbenden Johnson trauern, gibt es doch in dieser Oper ausnahmsweise mal keine tote Heldin zu beweinen. Und da lässt es Shao-Chia Lü aus dem Graben manchmal wie bei Wagner brausen. „Hit it, Maestro", fordert das Animiergirl zu Beginn den Dirigenten auf – und Lü hält sich daran. Puccini mit Schmackes, das macht den Sängern das Leben nicht immer leicht. Zumal wenn es so anspruchsvolle Partien wie die der drei Protagonisten sind. Eindrucksvoll, wenn auch mit kleineren Problemen in der Höhe, gibt Natalia Ushakova die Minnie, freundlich und zurückhaltend singt Ki-Chun Park den Dick Johnson, mit enormer Präsenz Tito You den Bösewicht Rance. Stimmgewaltig die Männer des Staatsopernchors. Mit enormem Stimmenpotenzial ausgestattet auch die wenigen Buh-Rufer am Ende der Inszenierung, die aber schnell niedergeklatscht werden. Mit Bieitos Geschichten kann sich nicht jeder identifizieren.

 

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Stuttgart, 23. Juni 2007

Nicht von dieser Bühnenwelt
Calixto Bieito inszeniert
Puccinis "La Fanciulla del West" in Stuttgart


Natalia Ushakova und Tito You Foto: Sebastian Hoppe / Staatsoper Stuttgart

Keine heutige amerikanische Western-Show in Texas könnte wüster, wilder und bunter sein als das, was Calixto Bieito für den ersten Akt von Giacomo Puccinis "La Fanciulla del West" in Stuttgart als Szenerie in einem Filmstudio auf die Beine stellt. Unter Scheinwerferbatterien für wechselndes, exzellentes Licht traben auf Sand zwischen Holzhäusern, die dank einer Spiegelwand einen Straßenzug imaginieren (Bühne: Alfons Flores) echte Pferde, die ein Hund ankläfft; schwingen Indianer Tomahawks und ballern Cowboys effektvoll durch die Gegend; ein herrlich schmieriger Schnulzensänger (Motti Kastón) ganz in weiß sehnt sich durchs Mikro schluchzend zu Muttern. Dazu eine Horde (männlicher) Touristen, die sich auf einer Tribüne bereitwillig animieren lassen, Feuerzeuge und sonstige selbstleuchtende Fanartikel zu schwenken. Diese Meute grölt schon los, wenn ihr nur ein bisschen (weibliche) Haut versprochen wird.

Wie eine Dea ex Machina schwebt sie endlich aus dem Bühnenhimmel: die Vollblut-Russin Natalia Ushakova im kessen, schrägen Mieder (Kostüme: Mercé Paloma) als Minnie, unablässig aufreizend und variantenreich posierend wie Marilyn; dabei mit Verve und vor allem einer satten, erotisch flutenden Mittellage singend, die für eine Handvoll Toscas reichen würde. Nur schade, dass ihr in Gestalt von Ki-Chun Park als Dick Johnson buchstäblich ein Tenor an der Seite steht, dessen leichtes Lispeln man noch goutieren würde, sänge er denn ein bisschen strahlender und schöner und spielte er nicht wie im Schultheater.

Sein Rivale Tito You als Sheriff Jack Rance ist da schon ein anderes Kaliber, strotzend vor virilem Baritonschmelz und mit großer Bühnenpräsenz. Da macht es nichts, dass ihm das schwache Libretto weder Begierde noch Verführungskraft zubilligt, wie überhaupt das Destillat aus David Belascos "The girl of the golden west" eine kaum erzählenswerte Handlung und lauter Pappkameraden hervorgebracht hat. Die allerdings werden von einem Dutzend Ensemblemitgliedern der Stuttgarter Staatoper mit viel jungenhafter Lust am Westernklischee zu plastischen Männern, angeführt von einer Frau: Tajana Raj als Wowkle.

Kein Wunder, dass Bieito den zweiten Akt, die Idylle Minnies mit Johnson in den Bergen, aufpeppen will und ein enges, zweistöckiges Motel-Apartment auf die Bühne stellt, in dem fortwährend sich umgekleidet, leitergeklettert, Wackelpudding gegessen, schließlich der mutmassliche Bandit Johnson gestellt, aber von Minnie beschützt wird. Doch selbst das Kartenspiel, zu dem sie den Sheriff herausfordert und das sie gewinnt, kann Johnson nicht retten.

Wie schon bei Puccini ist auch bei Bieito der kurze, karge dritte Akt der prägnanteste und schlüssigste: leer geräumt die nur von Scheinwerfern im Gegenlicht beleuchtete Bühne, fulminant die sich bis in den Zuschauerraum erstreckende Jagd nach Johnson per roten Seilen - mit vermeintlichem, sich schließlich einmal mehr als Showdown entpuppendem blutigen Ausgang. Am Ende kann Minnie die wiederauferstandenen Männer voller Theaterblut überzeugen, Johnson zu begnadigen. Doch das zart verdämmernde "Addio" der beiden zusammen mit dem ganzen Ensemble in einem Happy End, das für das amerikanische Uraufführungspublikum notwendig schien, klingt wie ein Abschied von dieser (Bühnen-)Welt. Die verlässt das eigentümliche Liebespaar denn auch getrennt - sie zur Brandmauer hin, er durch den Zuschauerraum.

Shao-Chia Lü produziert mit dem Staatsorchester den perfekten Hollywood-Sound, unverhohlen pathetisch, aber nie zu dick und immer in der rechten klanglichen Balance. Zu einer Ehrenrettung des Stücks hat es freilich nicht gereicht, auch weil Puccini selten die musikalische Charakterisierungskunst seiner vorangegangenen Opern "Tosca" und "Butterfly" erreichte, von der wirklich schwachen Story ganz abgesehen. Vor ihr musste auch ein Calixto Bieito letztlich kapitulieren.

Klaus Kalchschmid

 

Deutschland Radio
24.06.2007

Italo-Western als Oper
Giacomo Puccinis "Das Mädchen aus dem goldenen Westen" an der Staatsoper Stuttgart

Giacomo Puccini leistete mit seiner Oper "Das Mädchen aus dem Goldenen Westen" aus dem Jahr 1910 Pionierarbeit, denn niemals zuvor war dem Wilden Westen Opernglück beschieden. Jetzt hat der Regisseur Calixto Bieito die Oper in Stuttgart inszeniert. Mangelndes Gespür für Publikumswirksamkeit kann man dem Stuttgarter Opernintendanten Albrecht Puhlmann nicht nachsagen. Er ahnte, dass der Bieito der Richtige sein müsste für die wichtigsten Wildwestmotive: Showdown und Abrechnung.

Von Frieder Reininghaus

Das Happy Ende fand am Vorabend statt: Vor der Stuttgarter "Fanciulla"-Premiere wurden Heftchen ausgegeben. 5,4 mal 10 Zentimeter. Christian Moser hat ein Daumenkino gezeichnet: Vorbei am Kaktus reitet ein Caballero durch trockenes Niemandsland. Er strauchelt - und fällt einer Prinzessin in die Arme. Die Vorstellung selbst kommt dann so gut wie ganz ohne finale Glücksmomente aus. Die Inszenierung von Calixto Bieito hat sie nach besten Kräften entfernt und durch Bilder von mehr oder minder heldischem Tod und Auferstehung ersetzt. Brutalität und Kitsch lagen und liegen beim launigen katalanischen Jung-Star-Dirigenten ja ohnedies stets nah beieinander.

Anders als die Inkas und Azteken, die mit der "Indian Queen" von John Dreyden und Henry Purcell bereits Ende des 17. Jahrhundert die Musiktheaterbühnen zu erobern begannen, war dem Wilden Westen lange kein Opernglück beschieden. Giacomo Puccini konnte da Anfang des 20. Jahrhunderts noch Pionierarbeit leisten: Der Plot seines "Mädchens aus dem Goldenen Westen" hätte auch einem der frühen Stummfilme als Vorlage dienen können. Es handelt sich um die Rivalität des Sheriffs Jack Rance in den Cloudy Mountains und eines etwas obskuren Mister Johnson aus Sacramento (in Wahrheit ist er der Bandenchef Ramerrez) um die so schöne wie fromme Minnie. Unversehens verliebt sich die Salon-Inhaberin in den Fremden - sie, die in einem Goldgräber-Lager harte Männer bewirtet, missioniert und zum Schwärmen bringt, sich aber bislang gegenüber aller Avancen als resistent erwies. Und er Johnson/ Ramerrez, obzwar in den fürsorglichen Händen einer Dame von zweifelhaftem Rufe, entflammt nicht minder für Minnie.

Calixto Bieito versetzte die Dreiecks-Geschichte aus dem Musical- oder Stummfilm-Westen in ein Freiluftmuseum: Texas Hollywood - open every day prangt in großen Lettern über der Bühnenpforte. Rechts ist diese mit einem Aufgang zum Galgen vernagelt. Links mit den schussdurchlöcherten Brettern des Firmensitzes von "Mellon Gold Mining Co." Und dazwischen tummeln sich vor raffiniert funktionierenden Spiegeln in einer klassischen Westernstraße Akrobaten zu Fuß und zu Pferde, Rothäute und Falschspieler, Regierungssoldaten und anderes zwielichtiges Volk - vor der Tribüne, auf der die Schaulistigen von heute Platz nehmen. Schleppend lahm dazu das, was das Stuttgarter Staatsorchester unter Leitung von Shao-Chia Lü bietet. Ein ganzes Rudel Asiaten auf der Bühne beleben das Aroma eines indianisch-mexikanischen Milieus womöglich effektiver als geschminkte Bleichgesichter. Allerdings bleibt die wahrscheinlich wegen des Körperbaus ausgesuchte Hauptdarstellerin Natalia Ushakova in den tieferen Regionen ihrer Partie allzu viel schuldig - und oben herum erscheint sie über Gebühr schrill.

Aber Action! Mit dem zweiten Akt, einer ganz in weiß getauchten Neubauwohnung in zwei Etagen, rückt die Erzählweise dann aber doch unmittelbar in die Geschichte ein - ohne die Brechung der Folklore-Vorführung. Das Zweisame Essen wird als Ritual und wirksamstes Mittel zur Beziehungsanbahnung vorgeführt: Minnie macht für Johnson den Wackelpudding in der Mikrowelle heiß (von Verführung möchte man da nicht sprechen). Immer sind Paparazzi dabei - auch beim Mordanschlag des Sheriffs auf den Nebenbuhler. Nachdem dieser im Versteck aufgespürt wurde, Minnie sich und ihm durch gewagten Poker die Freiheit erspielte, wird Ramerrez dann doch der Selbstjustiz in der harten Männergesellschaft ausgeliefert - Calixto Bieito überzieht das Motiv des Sexualneids, das in dieser Form der Rechtsprechung steckt, nach Leibeskräften. Am Ende aber, nach Gemetzel und opernhafter Auferstehung, verspricht die Stuttgarter Minnie, dass sie (wieder) für alle da sein will und werde. Erhebung im Rahmen der Musik. Im Namen Gottes. Danke, Brüder! Das ich das erleben durfte!

 

DPA
24. Juni 2007

Von Buffalo Bill zu "Kill Bill"


Natalia Ushakova in der Rolle der Minnie und Tito You als Jack Rance.

Stuttgart (dpa). Das Westernmärchen beginnt als Hollywood-Spektakel: Die staubige Straße eines kalifornischen Goldgräberdorfs ist nur Kulisse für eine Show à la Buffalo Bill. Eine pralle Texasblondine scheucht neugierige Touristen auf ihre Plastikstühle am Rand des Sets. Kameras klicken, als ein auf einem echten Schimmel reitender Cowboy den ersten Indianer fängt und von dannen schleift.

Der katalanische Regisseur Calixto Bieito inszenierte die Premiere von Puccinis Oper "La Fanciulla del West" am Samstag im Stuttgarter Opernhaus zunächst als große Glamourshow. Die Geschichte der schönen Wirtin Minnie und einer Horde in sie vernarrter Goldgräber spielt im amerikanischen Westen um das Jahr 1850. Giacomo Puccini schrieb sie für die Metropolitan Opera in New York, wo sie 1910 uraufgeführt wurde und dem anwesenden Komponisten einen triumphalen Erfolg einbrachte.

In Bieitos moderner Fassung beginnt das "Scherzo" unter den Puccini-Opern als Bühnenklamauk zur Unterhaltung verwöhnter Touristen. Während Minnie von Liebe und Erlösung singt, wedelt das "Publikum" ergriffen mit bunten Leuchtstangen und der aufgeknöpfte Bandit trinkt Coke und wippt am Galgen fröhlich mit den Füßen.

Die originelle Persiflage auf den historischen Goldrausch und modernen Konsumwahn lässt zwei Klischees aufeinander prallen: Harte Cowboys werden vor einer schönen Frau zu frommen Lämmern, während dümmliche US-Touristen sensationsgierig die Kameras schwenken. Richtig skurril wird es, als für die Rolle des Räuberhauptmanns Ramerrez ein asiatischer Geschäftsmann aus den "Zuschauerreihen" rekrutiert wird. Der bindet sich einen Waffengürtel neben die Videokamera an der Hüfte und himmelt vernarrt die vollbusige Wirtin an. Irgendwie verliebt sich Minnie in den Business-Banditen und der Vorhang fällt zur Pause.

Wäre dies das Ende, man wäre enttäuscht über so viel Harmlosigkeit. Bieito ist wegen seiner blutrünstigen Bühnenszenen bekannt und umstritten. So folgte denn auch am Samstag dem buntem Westernklamauk im zweiten Akt eine dramatische Eskalation: Aus den Goldgräbern werden mexikanische Agenten, deren eifersüchtiger Anführer Rance Minnies Maisonette-Wohnung verwüstet. Fürs grausame Finale bringen sich die Agenten gegenseitig um, eine blutüberströmte Braut schwenkt fanatisch lachend ihren Revolver und Minnie ermordet im gelben Latex-Anzug den von ihr besessenen Rance. Von Buffalo Bill zu "Kill Bill": Bieito, der sein Publikum stets mit der "Poesie der Gewalt" berühren will, blieb seinen Vorsätzen treu und ließ viel weinrote Farbe auf der Bühne verspritzen.

Die Zuschauer nahmen es ihm kaum übel. Einige verließen vorzeitig den Saal, doch die wenigen Buh-Rufe schienen den Applaus nach der Vorstellung nur anzuspornen. Die beiden Hauptdarsteller Natalia Ushakova (Minnie) und Ki-Chun Park (Ramerrez) ernteten mehr Antipathie: Ihre Gesangsleistung ging an einigen Stellen im allgemeinen Tohuwabohu fast unter. Einen Applaus verdient hätten allerdings die beiden Pferde von einem Schwarzwälder Gestüt: Die ließen sich vom Platzpatronenhagel und den zerberstenden Whiskey-Flaschen am wenigsten beeindrucken.

 

Bloomberg
June 26, 2007

Blood Pours as Puccini Gets Tarantino Treatment in Stuttgart

by Shirley Apthorp

Blood flows in spurts across the stage as Puccini turns into ``Pulp Fiction'' in Stuttgart. The heroine of "La Fanciulla del West" ("The Girl of the Golden West") was originally a sweet barmaid called Minnie. Now she is transformed into Uma Thurman's characters from the films of Quentin Tarantino, ending in a yellow jumpsuit and samurai sword lifted straight from "Kill Bill". For this jumbled and noisy staging at the Stuttgart State Opera, director Calixto Bieito has conceived a stage-within-a- stage, presenting the 1910 tale of cowboys, gold diggers, and the soft-hearted tough girl in their midst as ``Texas Hollywood Wild West,'' a swashbuckling film-park show. There are circus girls on real horses and whooping Indians with headdresses. The Wells Fargo character of Ashby becomes a ringmaster, with top hat and stilts. The minstrel Jack Wallace is transformed into a matinee idol in glittering white, and Minnie makes her grand entrance on a trapeze, in nothing but a sequined leotard. The dust flies, a dog barks, whiskey flows and the stage smoke wraps the action in a glamorous haze. This is fast-paced, toe-tapping, sing-along entertainment, with a laugh a minute.

Slinky and Serious

Bieito gets serious after the intermission. Minnie changes her wig from platinum blond to glossy brunette and slips into slinky silver: Marilyn Monroe meets Jessica Rabbit. In her snow-white condominium, under the watchful gaze of attendant voyeurs, she spoon-feeds him green jelly. Then Jack Rance, the jealous sheriff, comes to bust the place up. Farce slips into brutality, and dreamlike incoherence sets in. For the third act, Bieito abandons all pretence of narrative, and busies himself with multiple murder, blood and an orgy of film quotations. Minnie's Indian servant Wowkle appears in a blood- spattered wedding-dress, ravaged by Rance for no apparent reason, and the chorus, in Mafia suits and hats, shoot each other dead, only to rise again for the final chorus.

This is a Spaghetti Western gone wrong, a labored comment on Puccini's knack for kitsch. The images are slick, the whole is meticulously executed, and like much of Bieito's work, the final curtain draws storms of boos and leaves an aftertaste of bile. Beneath a constant overlay of extraneous noise (scuffling feet, the hysterical laughter of traumatized women, amplified commentators, humming lights and more), the orchestra of the Stuttgart State Opera can dimly be heard.

Curves and Dash

Shao-Chia Lu, provocatively billed by the company as a Puccini expert, takes a brusque and business-like approach to the score, but fails to keep his forces together or coax a warm sound from the strings.

As Minnie, Natalia Ushakova cuts an imposing figure in her skimpy costumes, all curves and dash, and sings with accuracy and a grating edge in the upper register. Ki-Chun Park negotiates the heights and depths of the bandit Dick Johnson's vocal lines with apparent ease but without memorable musical impact.

Tito You's brutish Rance packs more of a bunch, with focused baritonal force. The chorus is not at its best; the smaller roles are well sung. Bieito's cast is highly motivated, and his theatrical skills are indisputable. But the music comes a poor second. And that never makes for a great night at the opera.

Shirley Apthorp is a critic for Bloomberg News. The opinions expressed are her own.

 

Il giornale della musica
24 giugno 2007

Da Buffalo Bill a Kill Bill

L'enfant terrible Calixto Bieito colpisce ancora: a Stoccarda mette in scena una "Fanciulla del West" estrema e coerente, che gioca con l'immaginario cinematografico. La sua radicale lettura, fra volgarità e violenza, spacca il pubblico, diviso fra accesi entusiasmi e rumorosi dissensi. Nella debole compagine vocale, si distingue soltanto Tito You grazie alla sua ottima prova come Jack Rance.

Come mettere in scena oggi un'opera kitsch come "La fanciulla del West"? Calixto Bieito ha pochi dubbi: costruisce un rutilante ed eccessivo spettacolo fatto dei segni dell'americanità accumulati nel nostro immaginario di spettatori in quasi un secolo di vita di quest'opera. Dall'iniziale coloratissimo circo di cowboys con cavalli veri e incursioni di pellerossa, nella seconda parte è il cinema con un omaggio alla divina Hayworth e bagno di sangue finale alla Tarantino, fra "Reservoir Dogs" e "Kill Bill". Criticabile per certe facili gratuità e le frequenti grossolanità, Bieito coadiuvato dallo scenografo Alfons Flores e dal geniale light disegner Reinhard Traub opera una scelta estetica estrema, con rimandi fra pop art e Jeff Koons, che tuttavia ha il pregio della coerenza.

Sul piano vocale, non tutto funziona. Convince pienamente solo il Jack Rance di Tito You, vocalista raffinato e credibile scenicamente. Meno apprezzabile il Dick Johnson di Ki-Chun Park: le note ci sono tutte, ma manca un'idea di personaggio. E disuguale è anche la pallida prova della protagonista Natalia Ushakova: perfetta incarnazione dei sogni di Bieto ma inadeguata ad affrontare le asperità del ruolo di Minnie. Ciò detto, difficile comunque fare di più davanti ai frequenti eccessi sonori della direzione musicale di Shao-Chia Lü, avarissima tanto di sentimentalismi quanto di colori, a dispetto della qualità degli strumentisti della Staatstorchester Stuttgart. Ottima la prova del coro della Staatstoper.

A conclusione dello spettacolo, pubblico diviso con vivaci contestazioni alla protagonista e al direttore Lü. Anche Bieito, il vero protagonista, una volta di più riesce a spaccare il pubblico fra accesi entusiasmi e rumorosi dissensi. Ma non è questo un segno di vitalità del teatro?

Stefano Nardelli