Frankfurter Allgemeine Zeitung
12. Juli 2007
Nr. 159 / Seite 35

Römer-Horror Picture Show
Günter Krämer und Adam Fischer vitalisieren in Schwetzingen Mozarts frühe Seria-Oper "Lucio Silla"

Das Mozart-Bild ist keineswegs so einhellig wie gerne behauptet. Alfred Brendel, gewiss alles andere als ein Mozart-Verächter, reagierte einmal auf Glenn Goulds Geringschätzung der "reifen" Phase mit dem kaum minder polemischen Gegenangriff, ausgerechnet der Götterliebling sei ein Spätentwickler gewesen. Wie der Schumannianer von der Frage nach dem Spätstil umgetrieben wird, so der Mozartianer von jener nach dem Frühwerk, etwa der Qualität der Oper "Lucio Silla".

Nach einiger "Lucio Silla"-Erfahrung via Bühne, Platte und Klavierauszug fuhr man nun zum neuen "Mannheimer Mozartsommer" nach Schwetzingen und wollte wissen, wie es heute um das Stück und die eigene Beziehung zu ihm stehe. Die Aufführung entließ einen fast euphorisiert und vielen Zweifeln entrückt. Die oft bestürzende Erfahrung, wie eminent dramatisch selbst Mozarts absolute Musik sei, fand sich durch die frühe Seria-Oper erneut bestätigt. Die Handlung ähnelt der des "Titus". Sie fädelt eine erotisch-politische Verschwörung gegen den Herrscher ein. Der lässt, von todesverachtend treuer Liebe gerührt, von der Rache ab und entsagt der Gewalt, wie in Schillers "Bürgschaft". In der Partitur steckt noch viel Seria-Konvention; manch gleichförmig ratternde Continuo-Achtel gemahnen ans Generalbasszeitalter. Doch in einigen Moll-Partien und Accompagnato-Rezitativen ahnt man den dynamischen Dramatiker.

Günter Krämer und Adam Fischer haben vitalisierend gewirkt, indem sie Gamerras steifes Libretto in eine mit Entsetzen Scherz treibende Sex-and-crime-Groteske verwandelten. Schwäche des Librettos ist der Pappcharakter der Titelfigur: Der Wüterich wird endlich gut; die Moral von der Geschicht' ist edel, aber fade. Als Zentrum der Haupt- und Staatsaktion wird der Diktator aufgewertet: Lucio Silla erscheint als Freak wie aus dem Satanismus-Kabinett, frisch der Rocky Horror Picture Show entsprungen - ein Sado-Monster, halb Alice Cooper, halb weiß geschminkter Monostatos. Mit wüstem Fummel drapiert, wirbelt er auf hohen Plateausohlen als Pop-Derwisch über die Bühne. Exhibitionistisch und gewaltversessen, ist der Typ wirklich gefährlich. Und seine Entourage aus Football-Brutalos ist es nicht minder.

Dass es nicht um antikisch edle Einfalt geht, verdeutlicht schon der Beginn der Aufführung, der die Vorgeschichte erzählt: Gaius Marius deklariert in holprigem Italienisch seine Läuterung und fällt sodann durch einen Schuss aus dem Hinterhalt. Wenn sein Todfeind Lucio Silla das Gleiche verkündet, knallt es ebenfalls: der Sekt fürs lieto fine. Cinna verharrt, grotesk gestikulierend, hinter dem Geläuterten und spielt mit dem goldenen Lorbeer. Der Machtkampf hört nicht auf, die Geschichte wiederholt sich als Satyrspiel nach der Tragödie. Gewalt lauert überall und wird permanent durch Burleskes konterkariert. Die Mikrophon-Choreographien, Luftgitarrenspiele der Rockszene werden allenthalben zitiert.

Die emotionalen Abgründe nimmt Krämer ernst, auch in den sowohl gattungstypischen als auch aktuellen androgynen Subtexten. Auf den Bewegungs-Horror vacui der Sechzehntelkoloraturen reagiert

er mit eminenter Agilität. Und höre da: Manch exerzitienhafte Tongirlande gewinnt plötzlich eine gestisch-affektive Dringlichkeit, die die Mechanik des Notenbildes transzendiert.

Dies freilich war auch das Verdienst Adam Fischers, der das Orchester des Nationaltheaters Mannheim zu dramatischem Drive und scharfem Klangprofil anhielt, doch auch den abgründigen Pianissimowegen nachging. Vor allem aber erlebte man ein Ensemble, das so enthusiasmiert sang wie agierte. Erneut bestätigte sich, dass szenische Anforderungen auch der musikalischen Energie zugutekommen können: Fulminant agierte der Countertenor Jacek Laszczkowski als Cinna mit endlosen Sechzehntelketten und reicher Facettierung des schillernden Militärs. Cornelia Ptassek ließ die Bravourkoloraturen der Giunia ebenso beredt werden wie ihre Pianissimoseufzer. Expressiv und klangschön sang Marie-Belle Sandis den Cecilio, Ana Maria Labin war eine attraktiv changierende Celia. Diesmal war man von "Lucio Silla" völlig überzeugt: Ein fabelhaftes, in jeder Hinsicht hochmotiviertes Ensemble und ein griffiges Konzept bewirken eben doch mehr als nur große Namen.

GERHARD R. KOCH

 

DIE WELT
14. Juli 2007

Türken und Sadisten beim Mannheimer Mozartsommer

Von Stephan Hoffmann

Unterschiedlicher hätten die Wege zu Mozart gar nicht sein können: Am Anfang des neuen Mannheimer Mozart-Sommers stand die aus Wien kommende Produktion "Saray - Mozart alla turca" - eine intelligente, bedenkenswerte und witzige Fassung der "Entführung aus dem Serail" aus türkischer Perspektive: mit sechs türkischen Instrumenten (der Pianist und Dirigent Serdar Yalcin hatte die Partitur eingerichtet und leitete die Aufführung) und vertauschten Rollen: Bassa Selim und Osmin werden zu Felix und Oskar, Konstanze und Belmonte verwandeln sich in Feraye und Süleyman. Das Stück ist eine Collage, in der auch türkische und internationale Popmusik vorkommt und in der es um jene Klischees und Vorurteile geht, von denen unser Denken über die Türken durchsetzt ist. Vielleicht kann ja Kunst wirklich dazu beitragen, das Denken in dümmlichen Klischees und fremdenfeindlichen Wahlslogans in manchen Köpfen zu verändern.

Tags darauf Mozart im Original: "Lucio Silla", die Opera seria des Sechzehnjährigen. Die Produktion im Schwetzinger Rokoko-Theater ist ein glühendes Plädoyer dafür. Regisseur Günter Krämer machte aus dem Stück einen Polit-Thriller voller Mord und Totschlag und aus dem Diktator Lucio Silla einen blutrünstigen Sadisten - eine Charakterisierung, die im Stück ja auch so angelegt ist.

Die Inszenierung war schlüssig und voller überraschender Details. Die überwältigende Hauptsache geht aber auf das Konto von Orchester und Sängern. Unter dem ehemaligen Mannheimer Generalmusikdirektor Adam Fischer war ein Differenzierungs- und Ausdrucksreichtum zu hören, der diese Oper zum packenden Seelendrama machte. Aus dem durchweg überzeugenden Sängerensemble müssen zwei Namen herausgehoben werden: einmal Marie-Belle Sandis, die Lucio Sillas Gegenspieler Cecilio mit anrührender Weichheit sang; auf eine ganz große Karriere steuert Cornelia Ptassek in der Rolle von Cecilios Geliebter Giunia zu; sie führte reichlich vorhandene Koloraturen nicht nur als Demonstration stimmtechnischer Perfektion vor; sie zeigte, wie viel überwältigend schöne, emotionale Musik in solchen Verzierungen stecken kann. Beide Sängerinnen sind Ensemble-Mitglieder des Mannheimer Theaters. Gängige Vorurteile gegen das viel zitierte Stadttheater-Niveau konnte man also getrost vergessen. Dies war ein ganz großer Opernabend.

 

DER TAGESSPIEGEL
13.07.2007

MANNHEIMER MOZARTSOMMER
Politik ist Show
Von Joachim Lange

Anders als seine Geburtsstadt Salzburg müsste sich Mannheim nicht unbedingt in einer vermeintlichen Wiedergutmachungspflicht gegenüber dem zu Lebzeiten verkannten und missachteten Genie Mozart sehen. Der lernte hier nämlich nicht nur die Schwestern Weber und damit seine spätere Frau Constanze kennen, sondern empfing von der Mannheimer Komponistenschule und der damals europaweit gerühmten Hofkapelle wichtige Impulse für seine stilistische Entwicklung. So waren es mehr die gelassene Affinität des Mannheimer Ex-GMD Adam Fischer und ein Gespür für historisch-regional belegbares Theatermarketing, die erst zur Mozartwoche und neuerlich zum Mannheimer Mozartsommer führten.

Den wird es künftig im Wechsel mit den Internationalen Schillertagen des Nationaltheaters geben. Mit einer inhaltlichen Konzentration auf das Frühwerk. Im nahen Schwetzinger Rokokotheater lassen sich jetzt Adam Fischer und das Mannheimer Orchester vom Genius Loci zu einem historisch geschulten Furor inspirieren, der Mozarts 1772 unter ziemlichem Zeitdruck für Mailand komponierte Opera Seria „Lucio Silla" nicht als Schaustück eines 16-jährigen Junggenies vorführt, sondern sie als dramatischen Prolog eines Gesamtwerks mit eigener souveräner Substanz ernst nimmt.

Dass sich Regisseur Günter Krämer dabei so lustvoll auf den komödiantischen Gehalt der Musik und sein Bühnenbildner Jürgen Bäckmann auf die Möglichkeiten der Schwetzinger Bühne einlassen, wird zum theatralischen Glücksfall, weil sie obendrein ein Sängerensemble zur Verfügung haben, das durchweg mit schauspielerischen Gaben gesegnet ist. So kann sich die Haupt- und Staatsaktion aus dem von Intrigen und Machtkämpfen geschüttelten antiken Rom zu einem subtilen Kammerspiel über die Folgen von Machtstreben für die Psyche des Einzelnen weiten. Bei Krämer natürlich als modernes Lehrstück über Politik, ihre Regeln und Folgen.

Er fügt dem Personaltableau von Giovanni de Gamerra den ermordeten Vorgänger Lucio Sillas, Marius, als Sprechrolle hinzu, lässt ihn anfangs vor dem heute üblichen Wald aus Mikrofonen mit großer, an Duce und Berlusconi geschulter rhetorischer Geste zu seinen Römern und Freunden davon faseln, dass er jetzt ihresgleichen sein will. Bis der tödliche Schuss des Attentates fällt, der ihn niederstreckt und das politische Rache-Räderwerk in Gang setzt, das die Beteiligten zumindest psychisch fast ruiniert.

Diese Standardrede wird noch mehrmals gehalten. Silla greift nämlich bei der erzwungenen Heirat mit der Tochter seines ermordeten Vorgängers Giunia darauf zurück. Und ganz am Ende kann man diese Worte auch von Cinnas Lippen ablesen, wenn er nach dem fadenscheinigen Happy End hinter Sillas Rücken seinen eigenen Machtambitionen freien Lauf lässt.

Was immer Mozart hier an Konvention und Zeitgeschmack auch mit bedienen mag, die Da-capo-Arien und das obligate lieto fine, das entgegen aller Disposition der Figuren und ihrer ausgefochtenen Kämpfe bei höfischen Auftragswerken 1772 unumgänglich war, werden bei Krämer jedenfalls nicht zum szenischen Problem. Im Gegenteil. Hier wird jede Wiederholung des Gesungenen zur Vorlage für ein feines, kleines, manchmal auch voll aufgedrehtes Dramolett des subtilen Verdeutlichens, Hinterfragens und Konterkarierens. Mit ihrem gekonnten Ausspielen des Ironisch-Grotesken in der hochtragischen Haupt- und Staatsaktion legen Krämer und seine Akteure das Publikum stets an die kurze Leine einer komödiantischen Fallhöhe mit sozusagen umgekehrten Vorzeichen.

Wenn im letzten Drittel die Opponenten gegen Sillas politische und persönlich psychologische Tyrannei schon mit der Schlinge um den Hals unterm Galgen stehen, ist zwar Schluss mit Lustig, aber nicht mit der bitter enthüllenden Ironie, die alle Politik als Show entlarvt. Selbst die Güte des Herrschers, der Todesurteile zu Heiratsbefehlen umwandelt, ist hier Ausdruck von persönlicher Willkür.

Silla hat seinen Spaß am Experimentieren mit Menschen. Schon sein erster Auftritt wird zum Coup, wenn er mit dem Cäsarenlorbeer in der Faust einen schwarzen Papiervorhang durchtrennt, um wie ein Caligula aus der Rocky Horror Show (Kostüme: Falk Bauer) aufzukreuzen. Bei dem erstklassigen Sänger und Mimen Lothar Odinius ist das ein Triumph der Lust am Bösen. Ebenso grandios der Sopranist Jacek Laszczkowski, der hinter seinem uniformierten Cinna einen Stippenzieher mit Hang zur Flasche und zur gekonnten Intrige verbirgt – und immer mal auch rauslässt. Oder Cornelia Ptassek als bestechend klare Giunia und Marie-Belle Sandis, die als Tyrannenwiderständler Cecilio die Last des drangsalierten positiven Helden mit kraftvollen Piani in höchster Qualität beglaubigt. Oder auch Ana Maria Labin, die als Celia zum Dank für ihren Einsatz auf der Seite der Bedrängten am Ende den von ihr begehrten Cinna bekommt.

So spannend und lustvoll wie in Schwetzingen war „Lucio Silla" lange nicht zu hören noch zu sehen. Nicht in der klugen Amsterdamer Inszenierung von Jossi Wieler, die auch schon Adam Fischer musikalisch geleitet hat, und schon gar nicht in Jürgen Flimms Salzburger Version. Eine Produktion, die auch ohne den Medienhype eines Starevents zum glänzenden Abschluss der Opernsaison geriet.

 

Mannheimer Morgen
12. Juli 2007

MANNHEIMER MOZARTSOMMER: Durch Günter Krämers packenden "Lucio Silla" erreichen die Festspiele internationales Niveau
Mit Marilyn Manson im Rokokotheater

Von unserem Redaktionsmitglied Stefan M. Dettlinger

Gleich sein erster Auftritt ist ein tosender Tornado erregter Emotion: Ratsch! Weiten Schrittes kommt der Diktator Lucio Silla durch die schwarze Papierwand hereingekracht, sieht aus wie der Schockrocker Marilyn Manson und verhält sich wie eine Kreuzung aus Hitler, Harlekin und Triebtäter. Wahn, nichts als Wahn! Er singt von Krieg, Mut und anderen Herrlichkeiten. Er grapscht an Giunia herum, dem Objekt seiner Begierde, schleift die Schöne über den Boden, schändet sie über dem Orchestergraben und singt feist-festlich im scheinheiligsten D-Dur dieser Opernwelt: "Il desio di vendetta e di morte" - der Wunsch nach Rache und Tod.

Es ist noch früh. Es ist erst die zweite Szene von Mozarts Jugendoper "Lucio Silla" von 1772, wie sie Günter Krämer jetzt im Schwetzinger Rokokotheater zeigt. Doch bereits hier, es sind vielleicht gerade einmal 15 Minuten vorüber, ahnen wir, dass wir einen ganz großen Abend erleben werden, ganz groß in jeder Hinsicht. Musikalisch. Sängerisch. Szenisch. Emotional.

Es ist wie so oft, wenn sich Regisseur und Bühnenbildner dafür entscheiden, wenig an Staffagen zu denken, dafür an alles andere: Es entsteht ein Mehrwert an Wesentlichkeit, an Psychologie, Personenführung und aus Handlung und Musik resultierender Dramatik. Für die Musik zeichnet Mannheims Ex-GMD Adam Fischer verantwortlich. Er bewegt das Nationaltheater-Orchester samt Chor zu einer farben-, kontrast- und affektreichen Gestaltung. Und die Story hat politischen wie erotischen Thrill: Als Silla vom Krieg mit Mitridate VI. zurückkehrt, wird er von der Verlobten seines geächteten Feindes Cecilio, Giunia, aufgenommen. Silla verfolgt Giunia mit Liebesbekunden. Der totgeglaubte Cecilio kommt zurück. Er und sein Verbündeter Lucio Cinna wollen Silla töten. Dies misslingt. Die Feinde sollen hingerichtet werden. Doch Silla begnadigt sie und verzichtet plötzlich auf alle Ansprüche, in der Liebe wie in der Machtpolitik. Ein aufklärerisches, aber auch seltsames Finale.

Krämer und sein Bühnenbildner Jürgen Bäckmann setzen das in drei Räume. Die anfängliche Grabstätte ist ein modernes transparentes Mahnmal mit unzähligen Namen von Toten, wie es in Mannheim auf den Planken an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Dann gibt es den Papierdurchbruch in den offenen Bühnenraum und schließlich am Ende, wenn Vernunft herrscht und Liebe sich vereint, den offenen, wenn man so will, freien Raum für freie Gedanken und freie Liebe. Die Kostüme von Falk Bauer sind zeitlich nur heterogen verortbar. Offenbar trägt jeder das, was am besten zu seiner Seele passt, gewissermaßen sein Handlungsbegreifen unterstützend.

Toll an Krämers Regie ist, wie die Figuren im Laufe des Abends eine Entwicklung durchmachen, wie aus der anfangs nur trauernden Giunia nach und nach ein Mensch wird, dessen Psyche so kaputt ist, dass auch beim erlösenden Ende kein Funken Hoffnung aufkeimt, und so, wie Cornelia Ptassek sie verkörpert und verklanglicht, weiß man: Diese Frau wird nie wieder glücklich! Ganz große Momente hatte die Ptassek, ihr Piano scheint aus dem Universum zu kommen, ihr Messa di voce fließt wie Honig, und wenn sie leidenschaftlich aufdreht, vibrieren die Mauern des Schwetzinger Rokokotheaters.

Ungeheuer plastisch und komplex gerät dem polnischen Counter-Sopran Jacek Laszczkowski der Lucio Cinna. Er ist der typisch glatte US-Soldat, wie ihn der Hollywoodfilm über die Leinwand jagt. Menschliche Regung scheint ihm fern, und wenn er einmal Emotion zeigt und etwa Giunia zart befingert, so nur, um sie zum Mord an Silla anzustiften. Grandios ist er aber auch, weil er immer noch eine Schicht mehr zu bieten hat: Er ist ein Bühnenschelm, zwinkert dem Publikum zu und bricht seinen eigenen Panzer damit genauso auf wie das gedankliche Korsett der (ernsten) Opera seria, die auch Regisseur Krämer immer wieder mit (komischen) Buffo-Elementen subversiv konterkariert. Ist das Ganze doch nur ein Spaß?

Krämer arbeitet mit allen Mitteln zeitgenössischen Theaters. Er zitiert das Musical genauso wie mit der so genannten Luftgitarre die Erlebnisgesellschaft des Pop, nie rutscht der Abend aber ins Bunte, Belanglose ab. Im Gegenteil: Es herrscht Intensität, Spannung und Dynamik. Eine der eindrücklichsten Szenen: Giunia und Cecilio, wie sie sich am Galgen stehend mit verbundenen Augen Adieu sagen. Einsame Töne des Cembalos schwirren wie Sternschnuppen durch den Äther. Leere. Trauer. Einsamkeit des Todes. Marie Belle-Sandis (Cecilio) erlebt einen großartigen Abend. Ihre "Pupile amate" (geliebte Augen), von Fischer schier aus dem Nichts heraus und sehr langsam dirigiert, ist an Kultur, Stimmführung und Beseeltheit nicht zu übertreffen. Schließlich der Silla von Lothar Odinius. Er hat alle Schattierungen abrufbar und einen dynamischen Zug zum Dramatischen. Eine große Überraschung auch die Celia von Ana Maria Labin, die mit ihren Weiblichkeitsgebärden darstellerisch genauso überzeugt wie musikalisch mit ihrer außerordentlich schönen und gut geführten Stimme.

Wahrlich: Hier ist Großes entstanden. Und mit den Strichen der Dramaturgie, mit dem Einfügen der berlusconiesken Figur des ermordeten Marius (Angelo Truisi) und dieser perfekten szenischen und musikalischen Umsetzung hat der Mozartsommer ein internationales Format erreicht.

 

Frankfurter Rundschau
13. Juli 2007

Sillas Coup
Günter Krämer und Adam Fischer triumphieren in Schwetzingen mit Mozarts Jugendoper

VON JOACHIM LANGE

Den Veranstaltern des Mannheimer Mozartsommers geht es nicht nur um den exklusiven Glanz noch eines Festivals. Es sind die umgewandelten Mozartwochen, die der frühere Mannheimer GMD Adam Fischer einst jeweils um den Todestag Mozarts im Dezember herum installiert hat. Jetzt im Sommer profitiert die Reihe unter anderem vom Rokokoambiente des Schwetzinger Schlosses. Künftig soll sie im Wechsel mit den Schillertagen alle zwei Jahre stattfinden.

Wie man Exklusivität mit der Suche nach Brisanz und Gegenwärtigkeit in Mozarts Werk verbinden kann, das wurde jetzt unter anderem mit der Jugendoper "Lucio Silla" belegt. Ausgerechnet mit dieser 1772 abgelieferten Opera Seria sorgten Adam Fischer, Regisseur Günter Krämer und ein exzellentes Ensemble für einen wirklichen Mozart-Glücksfall.

Als Wurf eines Sechzehnjährigen ist "Lucio Silla" allemal bestaunenswert. Doch wenn man ihn heute auf die Bühne bringt, müssen eben auch die Tücken eines barocken Intrigengewirrs samt endloser da- capo-Schleifen und eines aufgesetzten "lieto fine" umschifft werden. Krämer sucht hier aber keine Umleitung, sondern hält voll drauf. Setzt auf jeden musikalischen Hüftschwung einen szenischen. Lässt seine Akteure das Gesungene nicht nur lustvoll illustrieren, sondern gelegentlich auch kommentieren oder entlarven.

Offene Theaterrückwand

Dabei lässt Bühnenbildner Jürgen Bäckmann die Wirklichkeit im wahrsten Sinne des Wortes auf die Schwetzinger Rokokobühne, indem er diese zweimal bis zum Fenster in der Theaterrückwand hin weitet, um Dämmerung und dann Finsternis aus dem Schlossgarten hinein zu lassen.

Nach dem Attentat auf den gerade zeitlose Politikerphrasen dreschenden, von Krämer hinzugefügten Silla-Vorgänger Marius stürmt ein martialischer Kampftrupp auf die Bühne. Er sichert die neue Macht Sillas, zu dessen Selbstdarstellung offenbar auch eine riesige Wand mit unzähligen Namen gehört.

Der Auftritt Sillas (lustbetont: Lothar Odinius) wird zum Coup - mit dem Cäsaren-Lorbeer in der Hand durchschlägt er den schwarzen Zwischenvorhang aus Papier, nachdem er aufgetakelt wie ein perverser Wüstling der Macht die Bühne betreten hat.

Die an sich nicht allzu profilierte Figur wird hier zum Politstar, auf den sich die anderen so oder so beziehen: indem sie mäßigend auf ihn einreden wie seine Schwester Celia (Ann Maria Labin) oder erfolglos den Tyrannenmord anpeilen wie Cecilio (Marie-Belle Sandis) und Lucio Cinna (mit komödiantischer und Sopranistenvirtuosität: Jacek Laszczkowski); oder indem sie sich seiner Annäherungsattacken und Heiratsabsichten erwehren wie Marius' Tochter Giunia (Cornelia Ptassek). Am Ende haben alle Silla-Gegner die Hinrichtungsbinde vor den Augen und eine Schlinge um den Hals. Selbst hier verhöhnt er sie allesamt - Scheinhinrichtungsangst als Diktatoren-Dessert.

Nach dem letzten Ton der Musik übt Cinna hinter Sillas Rücken die Phrasenrede an die "Römer und Freunde" schon mal stumm ein. Denn eins ist klar: Dieses Treiben geht weiter, und dass es diesmal keine Toten gab, ist reiner Zufall. Das ist nicht nur auf der Bühne ein ausgesprochen spannendes, komödiantisch ausgelotetes Spiel, sondern unter Fischers Leitung auch ein auf die Sinnlichkeit historischer Spielweise zielender Klang. Ohne falsche Zurückhaltung packt er zu, lässt aber auch dem durchweg höchst überzeugenden Ensemble jeden Raum für Arienbravour und berührende Leidens-Piani. Ungeteilter Jubel in Schwetzingen für einen Höhepunkt der zu Ende gegangenen Opernsaison.

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Dokument erstellt am 12.07.2007 um 17:20:02 Uhr
Erscheinungsdatum 13.07.2007

 

WIESBADENER KURIER
13.07.2007

Eine Rocky Horror Barock Show
Günter Krämer inszeniert in Schwetzingen Mozarts "Lucio Silla"

Von Gerd Döring

SCHWETZINGEN. "Ich bin nicht mehr Diktator, ich bin euresgleichen. Ich gebe dem Vaterland die Freiheit zurück." Diese markigen Worte schleudert der Römer Marius ins Auditorium, um gleich darauf einem Attentat zum Opfer zu fallen. Mit dem Blick auf den von Mikrophonen umstellten Redner lässt Günter Krämer seinen "Lucio Silla" beginnen. Klug verzichtet er in seiner Inszenierung auf Opulenz.

Die frühe Oper Mozarts, die jetzt im Schwetzinger Rokoko-Theater Premiere hatte, soll der erste Baustein des Repertoires künftiger Mannheimer Mozartsommer sein. Der "Silla" übrigens hat eine Geschichte in Mannheim: Schon 1774 gab es hier eine erste Aufführung, gegeben wurde allerdings nicht die Mozart-Oper, sondern die Vertonung durch den Bachsohn Johann Christian. Auch der hat Giovanni de Gamerras Libretto um den römischen Patrizier Lucio Silla genutzt.

Bei Krämer allerdings wird nicht nur das Happy End in Frage gestellt. Düster rahmt ein schwarzer Pappvorhang die Bühne (Jürgen Bäckmann) - "hergestellt" durch eine uniformierte Schlägertruppe gleich im ersten Akt, die mit martialischem Getöse eine schwarze Pappwand zerfetzt. Soweit auch historisch korrekt: Der machtgierige Diktator Lucio Silla regiert auf den Schultern seiner Soldaten. Sein Gegenspieler ist der junge Cecilio, der auf der Suche nach seiner Verlobten Giunia aus dem Exil nach Rom zurückkehrt und erfährt, dass Silla diese selbst zu heiraten gedenkt. Giunia droht dem Diktator, sich selbst zu töten, Cecilio wird nach einem missglückten Mordanschlag auf den Diktator verhaftet. Beiden droht die Todesstrafe, aber unvermittelt wendet sich alles zum Guten: Silla schenkt Cecilio die Freiheit und führt die Liebenden zusammen.

Krämer weckt nicht nur Assoziationen an Sillas Nachfahren Mussolini, sondern auch an die bleierne Zeit der McCarthy-Ära. Auf der Bühne tummeln sich wispernden Verschwörer und steife Militärs. Den Silla verkörpert als frivoler Kraftprotz Lothar Odinius, die beiden Liebenden Giunia (Cornelia Ptassek) und Cecilio (Marie-Belle Sandis) überzeugen klanglich wie darstellerisch.

Mozarts Musik weist mit ihrer Differenziertheit und ihrem Melos weit über die Oper Seria des Barock hinaus. Und die animiert den Orchestergraben zu Höchstleistungen - auch da, wo Krämer sich bei Comedy bedient: der Diktator als Reinkarnation des Frank N. Furter aus der Rocky Horror Picture Show, die laszive Celia mit avanciertem Strip.

 

DIE WELT
14. Juli 2007

Türken und Sadisten beim Mannheimer Mozartsommer

Von Stephan Hoffmann

Unterschiedlicher hätten die Wege zu Mozart gar nicht sein können: Am Anfang des neuen Mannheimer Mozart-Sommers stand die aus Wien kommende Produktion "Saray - Mozart alla turca" - eine intelligente, bedenkenswerte und witzige Fassung der "Entführung aus dem Serail" aus türkischer Perspektive: mit sechs türkischen Instrumenten (der Pianist und Dirigent Serdar Yalcin hatte die Partitur eingerichtet und leitete die Aufführung) und vertauschten Rollen: Bassa Selim und Osmin werden zu Felix und Oskar, Konstanze und Belmonte verwandeln sich in Feraye und Süleyman. Das Stück ist eine Collage, in der auch türkische und internationale Popmusik vorkommt und in der es um jene Klischees und Vorurteile geht, von denen unser Denken über die Türken durchsetzt ist. Vielleicht kann ja Kunst wirklich dazu beitragen, das Denken in dümmlichen Klischees und fremdenfeindlichen Wahlslogans in manchen Köpfen zu verändern.

Tags darauf Mozart im Original: "Lucio Silla", die Opera seria des Sechzehnjährigen. Die Produktion im Schwetzinger Rokoko-Theater ist ein glühendes Plädoyer dafür. Regisseur Günter Krämer machte aus dem Stück einen Polit-Thriller voller Mord und Totschlag und aus dem Diktator Lucio Silla einen blutrünstigen Sadisten - eine Charakterisierung, die im Stück ja auch so angelegt ist.

Die Inszenierung war schlüssig und voller überraschender Details. Die überwältigende Hauptsache geht aber auf das Konto von Orchester und Sängern. Unter dem ehemaligen Mannheimer Generalmusikdirektor Adam Fischer war ein Differenzierungs- und Ausdrucksreichtum zu hören, der diese Oper zum packenden Seelendrama machte. Aus dem durchweg überzeugenden Sängerensemble müssen zwei Namen herausgehoben werden: einmal Marie-Belle Sandis, die Lucio Sillas Gegenspieler Cecilio mit anrührender Weichheit sang; auf eine ganz große Karriere steuert Cornelia Ptassek in der Rolle von Cecilios Geliebter Giunia zu; sie führte reichlich vorhandene Koloraturen nicht nur als Demonstration stimmtechnischer Perfektion vor; sie zeigte, wie viel überwältigend schöne, emotionale Musik in solchen Verzierungen stecken kann. Beide Sängerinnen sind Ensemble-Mitglieder des Mannheimer Theaters. Gängige Vorurteile gegen das viel zitierte Stadttheater-Niveau konnte man also getrost vergessen. Dies war ein ganz großer Opernabend.

 

Il giornale della musica
15 luglio 2007

Lucio Silla e il gioco del potere

Alla Mannheimer Mozartsommer debutta con successo l'opera giovanile di Mozart nella realizzazione di Günter Krämer, fra tragedia politica e intrecci amorosi. Un successo che si deve in gran parte all'eccezionale quintetto dei protagonisti. Dirige con competenza e dedizione Adam Fischer.

Lothar Odinius nei panni di Lucio Silla (foto Hans Joerg Michel)Al panorama dei festival musicali che arricchiscono l'estate musicale tedesca si aggiunge quest'anno un nuovo appuntamento: la Mannheimer Mozartsommer. Organizzata dal Nationaltheater di Mannheim nella splendida cornice del castello di Schwetzingen, l'Estate Mozartiana propone un'intensa settimana di concerti, recital e spettacoli teatrali fra i giardini e le sale del settecentesco edificio. Il teatrino rococó ospita l'unica produzione operistica: "Lucio Silla", composto nel 1772 per Milano, in un nuovo allestimento di Günter Krämer, di nuovo alle prese con un Mozart giovanile dopo il notevole "Mitridate" al Festival di Salisburgo nel 2005. Krämer con Michel Cook rivede anche in parte il libretto, accentuandone il carattere politico attraverso l'aggiunta di un prologo in cui l'antagonista Mario è assassinato mentre arringa il popolo e l'anticipazione del finale del primo atto interpolato fra secondo e terzo tempo della sinfonia. Scelte nette, così come decisa è la caratterizzazione a tutto tondo dei personaggi a cominciare da Silla tiranno allucinato fra il Malcolm McDowell di "Arancia Meccanica" e abissi dark di Marilyn Manson. Lo spettacolo diverte e funziona soprattutto per l'impegno e la bravura dell'eccezionale quintetto di interpreti: Lothar Odinius temperamentoso e sicuro Silla, Cornelia Ptassek espressiva Giunia, Marie-Belle Sandis musicalissimo Cecilio, Jacek Laszczkowski soprendente Cinna e Ana Maria Labin spigliatissima Celia. Difficile immaginare compagnia di canto più omogenea e convincente. Sul podio Adam Fischer dirige con grande autorevolezza e e vivace ricchezza espressiva la partitura con una dedizione degna del Mozart più maturo. Ottima le prova dell'agile Nationaltheater-Orchester (perfetti gli ottoni naturali) e puntuali gli interventi del coro.

Stefano Nardelli