Darmstaedter Echo
16.10.2006

Aus einem anderem Blickwinkel
Ausblick: Matinee zu Puccinis Oper „Tosca" im Foyer des Staatstheaters Darmstadt – Der Regisseur Philipp Kochheim sieht Parallelen zu Pinochets Diktatur in Chile

Von Albrecht Schmidt

DARMSTADT. Dass die Musik bei einer Oper die Hauptsache ist, scheint unbestritten. Das ist bei Puccinis „Tosca", die diesen Freitag (20.) im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt Premiere hat, nicht anders. Die Musik spielte allerdings bei der Gesprächsrunde „Tosca – Ein Gewaltakt" am gestrigen Sonntagvormittag im Theaterfoyer keine Rolle. Die Inszenierungs-Idee des Darmstädter Oberspielleiters Philipp Kochheim, Puccinis „Tosca" mit der chilenischen Juntazeit nach dem Putsch vom 11. September 1973 in Verbindung zu bringen, war Anlass, Chile-Experten für eine politisch interessante, aber dramaturgisch wenig erhellende Diskussion zu gewinnen.

Immerhin: Kochheim hat ein nachvollziehbares, durch eine frühere Augsburger Produktion bereits erprobtes Regiekonzept erarbeitet – die Verfolgung politischer Gegner und Gräueltaten bis hin zu brutalen Folterszenen im zweiten „Tosca"-Akt liefert die Parallele der Puccini-Oper zu Verhältnissen während der Militärdiktatur in Chile. Puccinis realistische Handlung im Rom des Jahres 1800 gäbe, so Kochheim, einem Regisseur wenig Freiraum. So möchte er das Werk nicht zerstören, aber aus einem „leicht veränderten Winkel" betrachten. Das Publikum solle kein „Wunschkonzert" über sich ergehen lassen, denn Oper solle auch packendes Theater sein, und ein alter Stoff könne, obwohl akkurat erzählt, politisch aufgeladen sein und auf andere Epochen übertragen werden.

So wird in der Darmstädter Inszenierung im ersten Akt nicht das Innere der Kirche „Andrea della valle" zu sehen sein, sondern ein Treppenhaus in Santiago di Chile, wo sich der Fotograf Mario Cavaradossi wegen gefährlicher Fotos Repressalien ausgesetzt sieht. Durch Kochheims Inszenierung solle im Zuschauer die Erinnerung an das Chile der Pinochet-Zeit geweckt werden.

Authentisch berichtete der Gitarrist und Sänger Sergio Vesely, der mit ausdrucksstarken Liedern (darunter ein Beitrag des unmittelbar nach dem Putsch 1973 gefolterten und ermordeten Victor Jara) die Gesprächsrunde musikalisch umrahmte, von grausamen Folterungen mit Elektroschocks während seiner fast zweijährigen Haft in Konzentrationslagern, Verhörzentren und Gefängnissen der chilenischen Militärdiktatur. Reinhard Marx, Frankfurter Jurist, Publizist und Menschenrechtler, erläuterte die Situation des heutigen Chile, geprägt von wirtschaftlicher Schieflage und der weltweit größten Einkommensungleichheit, wies auf Zusammenhänge mit der US-Regierung hin und verdeutlichte die hohe Aktualität, die völkerrechtliche Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen bis heute besitzen.

Moderiert wurde die von etwa 70 interessierten Zuhörern besuchte Veranstaltung von Werner Balsen, dem Leiter der Wirtschaftsredaktion der „Frankfurter Rundschau". Ob sich bei Puccinis „Tosca" der Transfer von Rom nach Santiago di Chile als „Gewaltakt" oder eine tragfähige, akzeptable Inszenierungs-Variante erweist, muss die Premiere zeigen.

 

Darmstaedter Echo
18.10.2006

Seele und Geist sind gefordert
Konzept von Augsburg nach Darmstadt übernommen

Von Heinz Zietsch


DER SCHWEIZER Martin Lukas Meister ist neuer Erster Kapellmeister im Staatstheater Darmstadt. (Foto: Günther Jockel)

DARMSTADT. Seit dieser Spielzeit ist Martin Lukas Meister Erster Kapellmeister und Stellvertreter des Generalmusikdirektors (GMD) am Staatstheater Darmstadt.

Er hat hier zwar bereits Vorstellungen der beiden Gluck-Opern „Iphigenie in Aulis" und „Iphigenie auf Tauris" dirigiert, aber Puccinis „Tosca", wie die beiden „Iphigenien" ebenfalls eine Inszenierung von Philipp Kochheim, ist seine erste musikalische Einstudierung in Darmstadt. Diesen Freitag (20.) ist die Premiere im Großen Haus.

Vor seiner Darmstädter Position war Meister bereits ab 2001 koordinierter Erster Kapellmeister in Ulm und ging 2004 als Erster Kapellmeister und Stellvertreter des GMD an das Pfalztheater Kaiserslautern.

Dass der in Zürich aufgewachsene Meister (Jahrgang 1973) einmal Dirigent werden würde, zeichnete sich relativ bald ab. Im Alter von 17 Jahren gründete er, der Klavier und Geige spielte, ein eigenes Ensemble, das zunächst von der Kammermusik ausging und bereits nach fünf Jahren zu einem stattlichen Jugendorchester mit rund 80 Instrumentalisten angewachsen war.

Zehn Jahre hat er es dirigiert, und dieses Züricher „Sinfonie-Orchester Notabene" besteht heute noch. In seiner Heimatstadt Zürich studierte Meister dann Klavier, Dirigieren, Musikethnologie, Musikwissenschaft, aber auch Ethik im Fachbereich Philosophie. In der Musikwissenschaft reizte ihn vor allem die Analyse von Partituren, zumal die von Richard Strauss. 1999 beendete er sein Kapellmeister-Studium mit einem Diplom.

Was gefällt ihm am Dirigenten-Beruf? Prompt kommt die Antwort: Man sei selten zu alt dafür, vor allem aber sei es eine Tätigkeit, in der „Seele und Geist gleichermaßen gefordert und gefördert werden".

Fasziniert ist er vom Engagement und der hohen Bereitschaft des Staatstheater-Orchesters, neue Erfahrungen zu sammeln. Und er scheint daran seine Freude zu haben: „Für mich ist es wichtig, dass ich hier glücklich bin." Er hat zwar viele Konzerte dirigiert, und er wird in Darmstadt auch Jugendkonzerte leiten, aber „so richtig heiß bin ich eher auf die Oper als auf Sinfoniekonzerte."

Jetzt kann er zu seinem Einstand sogar Puccinis „Tosca" dirigieren. Denn sie sei die erste Oper, die er „so richtig wahrgenommen habe", erklärt der Kapellmeister. Er bewundert die Eleganz der Opernsprache Puccinis, die fein nuancierte Harmonik dieses Komponisten, dessen Stück er vor unseren Ohren gewissermaßen neu entstehen lassen möchte, indem er stets danach fragt: „Was wollte Puccini wirklich".

Schließlich hätte der italienische Musiker noch lange nach der Uraufführung (in Rom 1900) an dieser Oper gefeilt und Veränderungen vorgenommen. Vor allem sei es unerlässlich für einen Dirigenten, in diesem Stück nie den Gesamtzusammenhang aus den Augen und Ohren zu verlieren.

Meister spricht auch lieber vom Musiktheater als nur von der Oper. Denn Musik, Regie und Dramaturgie bilden für ihn eine Einheit. „Wenn ein Regisseur mich mit seinem Konzept als Ganzes überzeugt, dann bin ich zu jeder Schandtat bereit", erklärt Meister. Er sieht im Musiktheater außerdem die große Chance: „das Verständnis des Publikums für moderne Klänge zu fördern", mehr als das in reinen Konzerten möglich sei.

Die „Tosca", die jetzt in Darmstadt zu sehen sein wird, hat der Regisseur und Oberspielleiter des Staatstheaters Philipp Kochheim allerdings schon einmal inszeniert: am 1. Oktober vor einem Jahr in Augsburg.

Dort stieß die Produktion, die das Werk in die Zeit der chilenischen Militärdiktatur des Jahres 1973 unter General Pinochet verlegt hatte, teilweise auf heftige Ablehnung. Wie schon in Augsburg wird auch in Darmstadt Zurab Zurabishvili die Partie des Cavaradossi singen.

Meister hat für sich und seiner Familie im Reinheimer Ortsteil Zeilhard eine Wohnung mit Garten gefunden. Denn für ihn ist es wichtig, in der Natur zu sein. Deshalb kommt er auch gerne mit dem Rad ins Theater, gelegentlich auch mit dem Motorrad.

Für den leidenschaftlichen Bergsteiger sind allerdings die Berge hier nicht mehr so nah wie früher in Zürich. Ansonsten liest er gerne, vor allem greift er immer wieder zum „Doktor Faustus" von Thomas Mann, das ja schon fast Philosophie über Musik sei.

 

Darmstaedter Echo
21.10.2006

Tod am Elektrozaun

DARMSTADT. Bereits nach dem ersten Akt war bei der Premiere von Puccinis Oper „Tosca" am Freitag im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt leichter Unmut beim Publikum spürbar. Am Ende der mit zwei Pausen zwei Stunden und vierzig Minuten dauernden Aufführung musste der Regisseur Philipp Kochheim Buhs hinnehmen. Er hatte die Handlung nach Chile verlegt, in die Zeit der Pinochet-Diktatur. Tosca stürzt nicht von der Engelsburg, sondern stirbt am Elektrozaun. Großartig waren die drei Hauptpartien besetzt: mit Anja Vincken in der Titelrolle, Tito You als Scarpia und Zurab Zurabishvili als Cavaradossi. Martin Lukas Meister schärfte die Modernität von Puccinis Partitur. hz