Besuch vom Todesengel MusiktheaterMei Hong Lin inszeniert die europäische Erstaufführung von Golijovs „Ainadamar" in Darmstadt Von Heinz Zietsch
Darmstadt. Zum Vorspiel mit dem Plätschern fließenden Wassers und Trappeln von Pferdehufen bleibt ein kleiner Schlitz des Vorhangs frei: Der Zuschauer sieht nur Füße, die rennen, dribbeln, zappeln und sich Schutz suchend umschlingen. So beginnt Mei Hong Lin ihre Inszenierung von Osvaldo Golijovs Oper „Ainadamar". Eine großartige Idee, dieses Musiktheaterstück, in dem der Flamenco mit seinem Cante jondo eine zentrale Rolle spielt, auf diese Weise zu eröffnen, schließlich ist der Flamenco auch ein Tanz. Und das Werk des in Argentinien aufgewachsenen und nunmehr in den USA (Boston) lebenden Komponisten, das am Samstag im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt seine europäische Erstaufführung erfuhr, handelt vom Tod des spanischen Dichters Federico García Lorca, der nach Francos Putsch gegen die Republik von seinen Anhängern, den rechts gerichteten Falangisten, 1936 ermordet wurde. Ein Bild, das die Unruhe einer beunruhigenden Zeit vermittelt, das Ängste heraufbeschwört, denen die Menschen zu entfliehen trachten. Denn darum geht es in dem Stück: um flüchten oder standhalten. Lorcas Lieblingsschauspielerin Margarita Xirgu, die den Mord an Lorca nicht erlebt hat, geht ins lateinamerikanische Exil und fühlt sich mitschuldig am Tod des Dichters, den sie hätte umstimmen sollen, mit nach Kuba zu gehen. Doch Lorca lehnt ab. Die Oper ist eine groß angelegte Klage der Margarita von etwa gut 80 Minuten. Schließlich ist der Flamenco oft auch ein Klagegesang, der Inneres nach außen kehrt. Die Schauspielerin probt 1969 in der uruguayischen Hauptstadt Montevideo Lorcas Stück „Mariana Pineda" und versucht dabei ihre Kenntnisse, die sie von Lorca gelernt hat, an ihre Schülerin Nuria weiterzugeben. Der Tod kann ihr nichts anhaben, denn ihre Ideen werden weiterleben, so wie Lorca in seinen Stücken weiterlebt. Der Titel der Oper „Ainadamar" ist eine Anspielung auf den Ort, in dessen Nähe Lorca umgebracht wurde. Das Wort kommt aus dem Arabischen und bedeutet „Brunnen der Tränen". Just mit der klagenden Ballade der Mädchen beginnt auch Lorcas „Mariana Pineda", worin der Dichter, so sieht es Margarita rückblickend, seinen Tod vorausgeahnt hat: „Ach, welch trauriger Tag in Granada, der die Steine zum Weinen brachte". Immer wieder greift Golijov diesen Gesang auf und beschließt damit auch seine Oper, deren Premiere in Darmstadt vom Publikum mit lang anhaltendem und begeisterten Beifall bedacht wurde. Golijov beherrscht die Kunst, von einem Stil in einen anderen reibungslos zu wechseln, beispielsweise vom Flamenco zur lateinamerikanischen Rumba oder zum Tango. Viel hat er von Astor Piazzollas Komponierweise gelernt, ein Stück, eine musikalische Geste immer wieder neu zu beleuchten und abzuwandeln. Vor allem, Golijov versteht es glänzend, Melodien zu schreiben und diese dramatisch-arienhaft umzusetzen. So zeigt der Falangist Ruiz Alonso im Cante jondo, dem „tiefinneren Gesang", sein wahres Gesicht: das eines Wolfes, der Menschen wie Lorca gnadenlos verfolgt. Manuel Ardilita von der Flamenco-Gruppe um Michio Woigardt, der mit seinem Ensemble im Orchestergraben sitzt, singt diese Partie mit durchdringender expressiver Stimme. Raffiniert ist die sich immer wieder verändernde Rhythmik bei Golijov, der die Erschießungsszene musikalisch wie ein Fugato mit repetierenden Gewehrschüssen ausgestaltet. Klar, dass diese Rhythmik tänzerische Umsetzung herausfordert und das Moment der Klage einen expressiven Tanz. Hierfür hat Thomas Gruber im Bühnenbild eine optimale Lösung gefunden und eine Art Klagemauer mit Vorsprüngen errichtet, an der sich die Tänzer reiben, stoßen, entlang hangeln und auf- und abspringen. Rechts fließt Wasser in einem Brunnenbecken hinunter. In der Mitte ein Mosaik, wie man es in Parkanlagen und Plätzen Andalusiens vorfindet. Raffiniert und manchmal unaufdringlich folkloristisch sind die Kostüme von Andrea Kannapee. Großartig die Klagegesänge der Frauen, die Chordirektor André Weiss einstudiert hat. Mei Hong Lin, die Elemente des Tanztheaters und der Oper in ihre Inszenierung und Choreografie zusammenführt, zumal den Opernsängern jeweils ein Tanzpartner hinzugesellt wird, findet zunächst nicht die rechte Balance zwischen den Sparten. Allzu umtriebig, geradezu hyperaktiv und hektisch sind die Bewegungen der Tänzer, die sich mit ihren Ausdruckstänzen immer wieder an der Klagemauer reiben, als müssten sie mit dem Kopf durch die Wand. Man bewundert die Sprünge und Eleganz in den tänzerischen Bewegungen, doch das wirkt alles ein wenig zu zerfahren und unruhig, lenkt vor allem von der Musik ab. Erst nach dem Tod Lorcas beruhigt sich das Ganze. Faszinierend gestaltet Juan-Pablo Lastras diese Todesszene im Lichtkegel – wie überhaupt die Lichtregie in dieser Inszenierung vorzügliche Arbeit leistet. Raffiniert der Maskenchor am Brunnen, der die griechische Tragödie heraufbeschwört, die Erscheinung des Todesengels (Eran Grisin) im Gefieder eines Adlers und mit roten Stöckelschuhen, der Lorca und Margarita heimsucht. Am Ende wird ein schwarzer Tisch wie ein Sarg hereingetragen, auf dem Margarita entlangschreitet und wie in einer Apotheose herausgehoben erscheint, ihrer Schülerschar Haltung beibringt, die über den Tod hinausreicht: den aufrechten Gang jener Freiheit, die diese Oper verkündet. Katrin Gerstenberger gestaltet die Hauptpartie der Margarita mit rundum imposanter Stimme. Herausragend, wie sie die Nuancen setzt, wie sie immer neue Anläufe findet in ihrem klagenden Gesang, dem so viel Ausstrahlung innewohnt, sowohl in der Tiefe wie in der Höhe. Ihr dramatischer Sopran scheint jetzt seine Vollendung gefunden zu haben. Eine viel versprechende Stimme. Mit wunderbarer Tiefe ausgestattet ist der Mezzosopran von Sonja Borowski-Tudor, die der Person Lorca etwas Androgynes verleiht, was ja auch gut zu seinem Charakter gepasst haben dürfte. Margaret Rose Koenn versieht den Part der Nuria mit gewandter Stimme, geschickt wie sie den Tonfall ihrer Lehrerin Margarita aufgreift und weiterführt. In weiteren Rolle agieren Thomas Mehnert, Jeffrey Treganza und Wiktor Czerniawski als Sänger, Paula Santos, Salome Martins und Eszter Kozár als Solo-Tänzer. Erstaunlich, wie wendig und sicher sich Martin Lukas Meister durch die vielschichtige Partitur schlug und sich als vielseitiger Dirigent empfahl, musste er doch in letzter Zeit völlig unterschiedliche Stücke wie Debussys „Pelléas" und Mozarts frühe Opern musikalisch einstudieren. Golijovs Stück kam dabei noch eine sehr feinfühlig reagierende Tontechnik zu Hilfe, die raffiniert die Altflöten und Bass-Gitarre herausfilterte. Es lohnt sich, dieses neue Musiktheaterstück zu erleben, denn Golijov hat eine packende, unterhaltsame wie unmittelbar ansprechende Oper vorgelegt. Wem gelingt das heutzutage schon? |
Reichlich Rhythmen Von Axel Zibulski ![]() Starke Bilder: Szene aus "Ainadamar". Aumüller DARMSTADT. Ermordet wurde der Schriftsteller Federico Garciá Lorca am 19. August 1936 in der Nähe von Granada, zu Beginn des spanischen Bürgerkriegs und unmittelbar nach seiner Verhaftung durch die Faschisten um den späteren Diktator Franco. Die Hinrichtung fand nahe eines Brunnens statt, dessen arabischer Name "Ainadamar" in etwa "Quelle der Tränen" bedeutet. "Ainadamar": So hat der 1960 geborene argentinische Komponist Osvaldo Golijov seine 2003 in Tanglewood uraufgeführte Oper in drei Bildern genannt, die jetzt am Staatstheater Darmstadt ihre stark gefeierte europäische Erstaufführung erlebte. Hauptfigur des Stücks ist die Schauspielerin Margarita Xirgu, die einst eng mit Lorca zusammengearbeitet hatte. Jahrzehnte nach dessen gewaltsamem Tod erinnert sie sich an ihn, vor der Aufführung eines seiner Stücke in Uruguays Hauptstadt Montevideo, wo sie selbst geschwächt sterben wird. So bilden in Darmstadt einige Foyer-Sessel am Bühnenrand den Rahmen dieses Stücks, in dem es einen Erzählstrang nicht gibt, dafür aber immer wieder Rückblenden und einen musikalischen Stil-Mix mit reichlich pulsierenden, südamerikanischen Rhythmen. Es ist also durchaus schlüssig, dass die ganz von den Reflexionen Margarita Xirgus geprägte äußere Handlung um eine bildstarke choreografische Komponente erweitert wird: Darmstadts Tanztheater-Chefin Mei Hong Lin hat die Hauptfiguren jeweils doppelt mit Sängern und Tänzern besetzt. Dabei spart der Bühnenraum von Thomas Gruber nicht an überdeutlicher Bildhaftigkeit, vor allem, weil auf der rechten Bühnenseite permanent fließendes Wasser diese "Quelle der Tränen" markiert. Aber auch starke, unter die Haut fahrende Szenen gibt es, beispielsweise wenn die Flamenco-Sängern Ardillita als faschistischer Dämon Ruiz Alonso von der Seitenmauer aus ihre Hass-Tiraden verbreitet. Ansonsten ist die vokale Seite von der alle überragenden Katrin Gerstenberger geprägt, die als Margarita Xirgu starke Diva und gebrochene Person zugleich ist. Aber auch Sonja Borowski-Tudor als feminin besetzter Lorca sowie Margaret Rose Koenn als Xirgus Schülerin Nuria gestalten ihre Partien in dieser spanisch gesungenen Oper zuverlässig. An eine gewisse kompositorische Unbekümmertheit, in der sogar die tödlichen Schüsse in bewegende Rhythmik übergehen, mag man sich gewöhnen müssen; Darmstadts Orchester, der Damenchor und Kapellmeister Martin Lukas Meister grundieren diese anderthalb Stunden lange Erstaufführung jedenfalls musikalisch hoch bewegend. |
Unwägbar ist das Schicksal Am Staatstheater Darmstadt hatte Osvaldo Golijovs Oper „Ainadamar" Premiere. Von Andreas Bomba Bekannt geworden in Europa ist Osvaldo Golijov, als im Jahre 2000 seine „Passion nach dem Evangelisten Markus", ein Auftrag der Internationalen Bachakademie, in Stuttgart uraufgeführt wurde. Heiß ging es her auf der Bühne, mit Tanz, Action und einer vielfältig verwurzelten Musik, inspiriert durch Bräuche und die Rhythmen Lateinamerikas sowie durch die jüdischen Herkunft des Komponisten. Genauso ist es nun wieder, in der Oper „Ainadamar", die 2003 in Tanglewood und nun am Staatstheater Darmstadt herauskam. Es geht um das Schicksal des Dichters García Lorca, der 1936 während des Spanischen Bürgerkrieges hingerichtet wurde, weil er für die unterlegene republikanische Sache arbeitete. Hauptfigur der Oper ist Margarita Xirgu, eine mit Lorca eng verbundene Schauspielerin, die vergeblich versucht hatte, ihn nach Südamerika zu holen und so sein Leben zu retten. Margarita blickt nun, anläßlich einer Aufführung von Lorcas Stück „Marina Pineda", zurück auf mehrere Begegnungen mit dem Dichter, bevor sie selbst stirbt, bekleidet mit einem schwarzen Flamencokleid, auf einem schwarzen Tisch stehend, an dem schwarze Gestalten sitzen, stehen, klagen, Menschenleiber übereinander türmen. Am Anfang der Oper vernehmen Margerita und das von starken Lichtwirkungen beeindruckte Publikum die Eröffnungsballade von Lorcas Stück; tief hinten auf der Bühne, die links von einer Art Gefängnismauer und rechts von dem „Ainadamar" genannten Brunnen in Granada gesäumt wird, von Sängerinnen im (noch) unschuldigen Erstkommunionskleid gesungen. Brunnen, Wasser, Fluss der Geschichte, die Unwägbarkeit menschlicher Schicksale – eher solche Imaginationen als eine Handlung prägen Golijovs Oper. Sie blendet zurück, stark symbolistisch, in drei Bildern. Erste Hauptsache ist die Musik, durch Gitarren und Schlagzeug, Flamenco- und kubanische Rhythmen getränkt, vibrierende Aktivität, der merkwürdig unbewegliche, sanfte Harmonien und archaisch motivierte Melodien gegenüberstehen. Wenn Ruiz Alonso (markerschütternd: Ardillita) auf dem Wachtturm erscheint und das Volk aufhetzt, klingt es muezzinhaft arabisch. Zweite Hauptsache ist der Tanz. Durch das Ensemble des Tanztheaters Darmstadt kommen die Emotionen ins Spiel: Hier findet der Krieg statt, Trauer, Aufruhr, auch Hoffnung, auch Entsetzen. Choreografin Mei Hong Lin hat den Abend sinnvollerweise ganz aus dieser Bewegungsperspektive inszeniert. Martin Lukas Meister und das Staatsorchester, der Chor, Katrin Gerstenberger (Margarita), Sonja Borowksi-Tudor (Lorca) und andere Solisten fühlen sich erstaunlich gut in das spezielle Idiom des Werks ein, das als eine Art Musical bezeichnet werden könnte, wenn der Stoff nicht so anspruchs- und fantasievioll wäre. Respekt auch vor John Dew, der dieses potente und attraktive Werk für Darmstadt gewonnen hat! |
Zwei Seiten des Ausdruckstanzes an einem Abend "Ainadamar" ist der ursprünglich arabische Name eines Brunnens in Granada und bedeutet "Quelle der Tränen". An diesem Brunnen sollen unbestätigten Gerüchten zufolge Anhänger General Francos den Dichter Federico Garcia Lorca zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges im Jahr 1936 ermordet haben. Die Schauspielerin Margarita Xirgu, etwa zehn Jahre älter als Lorca, war seine enge Vertraute und Interpretin der weiblichen Hauptrollen in seinen Stücken, so in "Mariana Pineda", in dem die Heldin den geliebten Mann und Revolutionär nicht verrät und deshalb sterben muss. Zur Zeit von Lorcas Tod befand sich Margarita Xirgu mit eben diesem Stück auf einer Amerika-Tournee und erhielt während der Reise die Mitteilung von Lorcas Ermordung. Sie, die den Jüngeren zu überreden versucht hatte, mit ihr das Land zu verlassen, machte sich deswegen Vorwürfe und litt bis an ihr Lebensende unter den Gewissensbissen und dem Verlust des Freundes.
Der argentinische Komponist Osvaldo Golijov, selbst jüdisch-multikultureller Herkunft - rumänische Mutter und russischer Vater -, musste mit seinen Eltern vor den Nazis aus Osteuropa fliehen und lernte in Buenos Aires die südamerikanische Musik kennen. Der Tango Argentino, der Flamenco, die jüdische Klezmermusik und die europäische Klassik fanden sich bei ihm zu einem besonderen musikalischen Amalgam zusammen, das seine Arbeiten unverwechselbar kennzeichnet. Golijov wählte die historischen Ereignisse um Lorca und Xirgu als Grundlage für seine Komposition "Ainadamar" und nahm den Tod der mittlerweile über achtzigjährigen Mimin zum Anlass für Rückblenden auf die Ereignisse im Jahr 1936. Das Staatstheater Darmstadt hatte sich vor anderen Bewerbern die Uraufführungsrechte gesichert. Schon Golijovs Komposition lässt sich schwer in die Begriffskategorien des Kulturbetriebs einordnen. Die Tango- und Flamenco-Elemente wollen nicht recht zum Opernbegriff passen, während der Begriff "Musical" eine für dieses Werk nicht zutreffende Oberflächlichkeit suggeriert. Das mag an der musikalischen Talfahrt liegen, die diese Musikgattung im letzten Jahrzehnt durchgemacht hat, lässt sich jedoch nicht ableugnen. Als ob diese Schwierigkeiten der Einordnung nicht schon genug seien, hat Mei Hong Lin, die Leiterin des Darmstädter Tanztheaters, noch eins "draugesetzt": sie sah spontan die Möglichkeiten des Tanztheaters bei der Visualisierung des Stoffes und nahm sich des Stoffes im Sinne einer eigenständigen Inszenierung und Choreografie an. Man könnte also guten Gewissens behaupten, dass es sich bei "Ainadamar" um eine Tanztheater-Oper im Grenzgebiet zwischen E- und U-Musik handelt, die jedoch letzterer das Stigma des Seichten nimmt. Während selbst die sogenannten ernsthaften Musicals - "Les Misérables" - immer noch eine nicht vernachlässigbare populistische Anbiederung an den musikalischen Breitengeschmack beinhalten, werden die volkstümlichen Rhythmen in "Ainadamar" wie durch Zauberhand zu ernster Musik.
Zu Beginn steht die alternde Margarita im Jahr 1969 vor einer Aufführung der "Mariana Pineda" und erinnert sich vor ihrem Auftritt an ähnliche Augenblicke zu Lorcas Lebzeiten. Diese Erinnerung setzt eine ganze Welle von Assoziationen an die Zeit mit Lorca frei, und so erzählt sie ihrer Schülerin Nuria von Lorca, der Entstehung des Stückes und den Parallelen zwischen Marianas und Lorcas Schicksal. Beide mussten sterben, weil sie die Freiheit verteidigten. Geradezu zwanghaft taucht dabei der Aufruf des Faschisten Ruiz Alonso an das Volk von Granada wieder auf, Federico Garcia Lorca an die Behörden auszuliefern. Im zweiten Bild verdichten sich Margaritas Erinnerungen zu einer geradezu zwanghaften Vorstellung über Lorcas letzte Stunden. Sie hört wiederum den schreienden Ruiz Alonso, in der Darmstädter Inszenierung dargestellt durch den Flamenco-Sänger Ardillita, sie sieht die Verhaftung Lorcas und seiner beiden Mithäftlinge - ein Torero und ein Lehrer - vor sich und erspart sich nicht den Gedanken an die Erschießung der drei. Selbst der Geistliche, der den drei Todeskandidaten vorher die - unnötige - Beichte abnimmt, fehlt in ihrer inneren Schau nicht. Das unmittelbar anschließende Bild zeigt dann Margaritas Tod, der aufgrund ihres Alters und der sie überwältigenden Erinnerungen eintritt, bevor sie die Bühne zu ihrem Auftritt betreten kann. Aus dem Dunkel der Bühne tritt noch einmal Lorca zusammen mit dem Todesengel auf und holt Margarita zu sich. Osvaldo Golijov verbindet in seiner Komposition auf so kunstvolle wie selbstverständliche Weise die verschiedenen Musikstile seiner Kulturkreise. Der Flamenco - der "Cante Jondo" - kommt bei ihm tief aus dem Inneren des Menschen und hat nichts gemein mit dem Folklore-Flamenco des Tourismus. Ähnlich dem argentinischen Tango, der auch bei Golijov immer wieder aufblitzt, betrauert dieser Flamenco tief melancholisch den Zustand der Welt. Die lateinamerikanischen Rhythmen vermischt Golijov immer wieder mit europäischen und jüdischen Klangfarben. Zu einem sinfonischen Streicherklang hört man die Flamenco-Gitarren und andere für die lateinamerikanische typischen Musikinstrumente, ohne dass dies auch nur einen Moment lang aufgesetzt oder konstruiert wirkt. Harmonisch und homogen gehen beide Musikstile ineinander auf und über und zeigen damit die Möglichkeit der Koexistenz so verschiedener musikalischer Ansätze. Um diesen Gesamteindruck zu erzielen, haben sich die Musiker des "Michio Flamenco Projekts" zu den Orchestermusikern in den Graben gesetzt und zusammen geprobt. Zur Premiere trat diese Gruppierung dann als homogener Klangkörper auf, der auf das Publikum den Eindruck machte, als habe er schon immer in dieser Konstellation bestanden.
Auf der Bühne legt Mei Hong Lin naturgemäß den Schwerpunkt auf das Tänzerische. Das liegt natürlich auch daran, dass die eigentliche Handlung auf die Erinnerungen und Zwangsvorstellungen der Margarita reduziert ist. Um die aus der Handlungsarmut entstehenden Längen zu vermeiden, lässt sie ihre Tanztruppe die Emotionen und Erinnerungen auf der Bühne darstellen. Dabei verzichtet sie bewusst auf eine vordergründige Abbildung eventueller Ereignisse, sondern konzentriert sich auf die Gefühlswelt der Protagonistin und ihrer Umwelt. Das Bühnenbild unterstützt diesen Ansatz durch einen echten(!) Wasserlauf, der vom Bühnenhintergrund zur Rampe verläuft und den Ainadamar-Brunnen symbolisiert, die Quelle der Tränen. Auf der anderen Seite erhebt sich eine harte Betonmauer, die an die Jerusalemer Klagemauer erinnert. Zwischen Brunnen und Klagemauer treten Chor und Tänzer in verschiedenen Rollen als das geschundene Volk auf, doch eher allegorisch denn individuell identifizierbar. Trauer, Schmerz, Folter, Vergewaltigung und Todesangst spiegeln sich in den Bewegungen der Tänzer ebenso wieder wie Sehnsucht nach Frieden und Nächstenliebe. Die Mauer wird dabei nicht nur zum Ort der Klage sondern auch zum unüberwindbaren Fluchthindernis. Unfreiheit ist an sich schon eine Folter, so die Aussage, und die kalt abwehrende Mauer wird somit zwangsläufig zum Ort der An-Klage. Neben dem Bühnenbild spielt auch die Beleuchtung eine wesentliche Rolle. Mit den Bildern ändern sich auch Farbgebung und Intensität des Lichtes. Begleitet in der ersten Szene noch ein weiches Weiß die Szene, ist sie im zweiten Bild in ein rotes, zunehmend sich verdunkelndes Licht getaucht. Die tödlichen Schüsse aus dem "Off" gehen unmerklich in entsprechende Klangbilder aus dem Orchestergraben über und führen zum dritten Bild, das eine weitgehend schwarze Bühne kalt ausleuchtet. In dieses Todesambiente schreiten aus dem schwarzen Hintergrund Federico Garcioa Lorca und der Todesengel - ein wenig pathetisch und fast kitschig mit Flügeln und roten Damenschuhen. Über den Brunnen steigt eine leicht laszive Flamencotänzerin, die zusammen mit dem Todesengel den Todestanz für Margarita tanzt. Diese besteigt einen schwarzen Tisch, um den schwarze gestalten sitzen, und erwartet stehend den Übergang ins Nichts. Diese letzte Todesszene ist einerseits von hoher Eindringlichkeit, andererseits von hohem Pathos, das die Grenzen des ungestraft Darstellbaren auslotet. Nicht, dass dieses Todespathos unmittelbar lächerlich wirkt, doch zu lange ausgehaltenes Pathos unterliegt immer der Gefahr, den beim Zuschauer angestrebten Betroffenheitseffekt nicht beliebig lange aufrecht erhalten zu können. In dieser Inszenierung, die insgesamt nur achtzig Minuten dauerte, war die letzte Szene zwar nicht bis zur Peinlichkeit lang, sie hätte aber auch keine Sekunde länger sein dürfen, ohne ihre Wirkung zu verlieren. Katrin Gerstenberger überzeugte als Margarita wieder einmal durch die Präsenz und Gestaltungsfähigkeit ihrer Stimme. Es ist immer wieder ein Genuss, ihr bei der Interpretation dramatischer Partien zuzuhören und zuzusehen. Als Gast intonierte die Mezzosopranistin Sonja Borowski-Tudor die Rolle des Federico Garcia Lorca mit einem fülligen, warmen Timbre und einer - der Rollensituation angemessenen - jenseitig-distanzierten Darstellung. Margaret Rose Koenn spielte Margaritas Schülerin Nuria als schüchtern-biedere Assistentin, Thomas Mehnert, Wiktor Czerniawski und Jeffrey Treganza gaben dem Beichtvater Tripaldi sowie den Erschießungsopfern Maestro und Torero Kontur. Aus dem Tanzensemble des Staatstheaters traten Paula Santos (Margarita Xirgu), Juan-Pablo Lastras (Federico Garcia Lorca), Salomé Martins (Nuria), Eran Girsin (Engel) und Eszter Kozár (Mariana Pineda) in herausgehobenen Einzelrollen auf. Das Publikum zeigte sich von dieser spartenübergreifenden Inszenierung geradezu begeistert und spendete langen Beifall mit "Bravo"-Rufen und Füßetrampeln. Mit dieser Uraufführung hat das Staatstheater Darmstadt offensichtlich ins "Schwarze" getroffen. Die nächsten Aufführungen finden am 30.11. sowie am 14. und 21.12. statt. Frank Raudszus |
Trauer um Lorca Von Frieder Reininghaus Kurz und heftig war das Künstlerleben des spanischen Lyrikers, Dramatikers und Theatermachers Federico García Lorca. An das Andenken García Lorcas heftete sich ein Libretto von David Henry Hwang und eine Komposition des 1960 geborenen argentinischen Komponisten Osvaldo Golijov. Jetzt hat das Staatstheater Darmstadt "Ainadamar" als Europäische Erstaufführung ins Programm genommen. Gattungsspezifisch gesehen mag es sich bei "Ainadamar" um so etwas wie die Anknüpfung an die Kunstform Opéra-ballet des späten 17. Jahrhunderts handeln - um eine Verknüpfung von Tragédie lyrique mit Gesang und Tanz, die sich in einen thematisch lockeren Rahmen fügte. Osvaldo Golijovs Kreation befasst sich in eben einem solchen Passepartout zugleich mit zwei Künstler-Biographien: Zum einen, so der Plot von David Henry Hwang, erinnert sich eine katalanische Schauspielerin 1969 an ihre Mitwirkung bei der Uraufführung von Federico Garciá Lorcas Schauspiel Mariana Pineda 42 Jahre zuvor in Barcelona, bei der sie die Titelrolle bestritt. Schier überwältigen sie die Erinnerungen an die schöne Zeit mit dem jungen García Lorca. Und auch dem heutigen Theaterpublikum werden schemenhaft einige Erinnerungen an den Dichter und Theatermacher präsentiert - angekurbelt von einem gelegentlich an Carl Orffs Rhythmik erinnernden Impuls und übergossen mit einer nostalgischen Musik-Sauce, die nach dem fettig-klebrigsten Rezept reetablierter Tonalität angerührt wurde. Dieser Menü riecht nicht nur ein bisschen angebrannt. In Anlehnung an provinzielles Kunstgewerbe der 60er Jahre schuf der Bühnenbildner Thomas Gruber einen Vorhang, auf dem Auge und Verstrickung, Hand und Stierhorn auf das historische Andalusien und die Mystifizierung einiger seiner Motive durch Künstler der Moderne anspielen. Indem der Vorhang sich einen Spalt breit hebt, zeigt Mei Hong Lin ein ansprechendes Prélude der Beine. Doch indem sie dann des weiteren Handlungs-Ballett-Episoden anbietet, deren Gestik und Motorik aus Resten des klassischen "Ausdruckstanzes" und des volkschinesischen "Roten Frauenbataillons" genommen wurde, zeigen sich heftige, zackige Begehrensgesten und sportive Drehungen zu Lande, in der Luft und am Wasserlauf. Der hört nicht auf zu rinnen: In Erinnerung an die vielen Tränen, die der Tod an dem Brunnquell Ainadamar zum Fließen brachte. Und zu den Schüssen, die wohl dem Dichter gegolten haben mochten, wird lustig gehüpft. Konsequent wird von der neuen Produktion in Darmstadt der grässliche Mord beschönigt und begütigt, die Täter und ihre Hintermänner nicht beim Namen genannt (offensichtlich unterstellen die Hersteller, dass das Publikum schon irgendwie Bescheid wisse oder sich mit dem Begleitheft sachkundig mache). Doch weniger die möglicherweise strafrechtlich relevante Verherrlichung von falangistischen Greueltaten erscheint mir das Problem, sondern die theaterpolitische Problematik: dass ein Hessisches Staatstheater ein solches Produkt subventioniert und pusht. Es besteht ja weder Notwendigkeit noch gar der Zwang, die Zweitverwertung der Ausflüsse nordamerikanischer Kunstlimonadehersteller hierzulande zu organisieren. Gerade bei der Ausbeutung auratischer und heroischer Künstlerbiographien müsste es wenigstens ein Mäßigungsgebot geben, das sich auf die Hemmungslosigkeit bei der Ausdehnung der Kitschzone bezieht. |
An der Quelle der Tränen "Cante jondo", tief innerlich empfundener Gesang, wird der gehobene Flamenco genannt. Er liefert ein wichtiges musikalisches Grundmaterial für "Ainadamar", die Erfolgs-Oper von Osvaldo Golijov, die jetzt im Großen Haus des Staatstheaters Darmstadt ihre europäische Erstaufführung erlebte. |