Frankfurter Allgemeine Zeitung
29. April 2008

Schießt sie auf den Mond, diese Hussiten
Mangelnde Bodenhaftung, aber anklammern verboten: Janáceks "Ausflüge des Herrn Broucek" schweben in Frankfurt zwischen Schwejk und Qualtinger.

Was so ein paar dahingesagte Komponistensätze alles anrichten können – dann zumindest, wenn ihnen, wie es allzu oft geschieht, mehr Gehör geschenkt wird als der Musik selber, um die es doch eigentlich gehen müsste: Im Falle der satirischen Oper Die Ausflüge des Herrn Brouček auf den Mond und ins XV. Jahrhundert haben Leoš Janáčeks überlieferte Absichtserklärungen ein angemessenes Urteil geradezu verstellt. „Mein Wunsch war", hatte der Komponist über seinen Protagonisten nämlich einmal gesagt, „ihn abstoßend zu machen. Die Leute sollten ihn auf den ersten Blick vernichten und ersticken wollen – vor allem in sich selber." Musikwissenschaftler und Regisseure sind diesem Verdikt seither nachgelaufen wie eine brave Schafsherde.

Statt sich auf seine Besonderheiten einzulassen, ist man auf den armen Brouček losgegangen wie auf einen Schwerverbrecher. Ein Spießer sei er, er feiger Hund, ein ignoranter Würstelfresser, kurzum: ein klassischer Antiheld. Und wo man nicht mehr überhören konnte, dass die vielerorts mit grotesken Überzeichnungen und Parodien spielende Musik Janáčeks in seiner fünften Oper immer dort ganz zu sich kommt, wo sie ausgerechnet diesen missratenen Hausbesitzer charakterisiert, indem sie ihre schönsten und authentischsten Passagen an sein triviales Gemüt verschwendet, da beschloss man kurzerhand, dass dem Komponisten, der seinen Figuren gegenüber ein allzu weiches Herz gehabt habe, die Satire eben missglückt sei. Das Stück verschwand weitgehend in den Archiven.

An der Frankfurter Oper kann man nun erleben, wieviel Witz, Schärfe und Gesellschaftskritik tatsächlich in dieser, sich im Grenzgebiet von Surrealismus und Dada bewegenden, typisch Pragerischen Phantasterei nach gleichnamigen Erzählungen von Svatopluk Čech steckt. Eines macht die Inszenierung, die erste Arbeit des Spielleiters der Frankfurter Oper Axel Weidauer für das Große Haus, wohltuend klar: In den Geschichten von Herrn Brouček, der sich im Bierdunst aus seiner Stammkneipe höchst real erst auf den Mond und sodann ins Mittelalter der tschechischen Hussiten träumt, ist der auf dem Holzweg, der partout nach moralisch verwertbaren Botschaften sucht. Denn der subversive Witz des Stückes besteht, ebenso wie der des Protagonisten, im Grundgefühl einer fundamentalen Skepsis. Jeglichem Anklammerungsbedürfnis an einen Helden – und wäre es ein Antiheld – muss sich der höhere Nonsense verschließen.

Wo als Leitsatz der alte Kalauer gelten könnte, dass, was wir für Realität halten, nichts als eine durch zu wenig Alkoholgenuss hervorgerufene Illusion sei, dort erscheint ein Mensch wie Brouček als der wahre Durchblicker: ein Grantler, ein Raunzer, ein kindlich-naiver Bruder des Soldaten Schwejk oder des aggressiveren „Herrn Karl" von Helmut Qualtinger. Arnold Bezuyen verleiht ihm die entsprechende Bühnenstatur und ein charakteristisches Tenortimbre. Seiner bierseligen Stimmung und der hohen Halluzinationsbereitschaft nach ungezählten Krügen Bier hat Moritz Nitsche sein Bühnenbild nachgebildet: eine schwarze, wandelbare, sich nach hinten verjüngende Projektionsfläche, auf der ein Biertisch und eine bunte Lampengirlande Broučeks Heimat, die Kneipe Vikárka, andeuten.

Die beiden Traumsphären, die Brouček aufreißt – eine in die räumliche, eine in die zeitliche Dimension – erscheinen einander so unähnlich nicht, wie gerne behauptet wird. Die skurrile Künstlerkolonie auf dem Mond, wo man sich nur vom Dichten und vom Blütenschnuppern ernährt, ist nicht minder vernagelt als die der Hussiten des Jahres 1420, am Morgen ihrer ersten Schlacht gegen die Kreuzritter des deutschen Kaisers Sigismund. Ideologische Verstiegenheit – das zeigt Weidauers Regie unmissverständlich, bisweilen sehr komisch, wenn auch insgesamt in der Stereotypisierung der Figuren vielleicht eine Spur zu schematisch – herrscht hier wie dort: Die vermeintlichen Künstler hängen einem sterilen Ästhetizismus an, die Männer der Tat einem menschenverachtenden Fanatismus. In ihren autoritären Strukturen stehen beide Gesellschaften einander in nichts nach.

Weidauers Regie bewegt sich nah an der Musik, wenn sie zu den stereotypen Walzermechaniken und Offenbach-Parodien der Mond-Episode die Muse Etherea als Puppe Olympia auftreten lässt. Auch in der multiplen Aufsplitterung von Figuren, deren personelle Varianten jeweils vom selben Sänger dargestellt werden, kann man eine Anspielung auf Hoffmanns Erzählungen sehen. Die tragenden weiblichen Partien erfüllt Juanita Lascarro mit prächtigem, geschliffen klarem Sopranklang und großer Verwandlungskunst, und auch die übrigen Partien sind, neben anderen mit Simon Bailey, Carsten Süß, Gregory Frank und Anna Ryberg, trefflich besetzt.

Die mangelnde Bodenhaftung und die stereotypisierte „Kunst“-Produktion der Monddichter fing Janáček in schrill fiepsenden Klangmischungen der höheren Holzbläser, durchdrehenden Walzerrepetitionen und irren Ostinati ein. Man bewegt sich in wahrhaft dünner Luft. Waffenklirrend, hochdissonant, legendenschwer und schicksalsschwanger klingt dagegen das Mittelalter, dessen dunkle Ausdruckswelt an Janáčeks Tondichtung Taras Bulba oder die später entstandene Sinfonietta erinnert. Johannes Debus, Kapellmeister des Hauses, animierte das Museumsorchester zu schwungvollem und gestenreichem Spiel. Nichts fiel auseinander, nichts wackelte. Ein wenig exzentrischer hätte das Klangbild an manchen Stellen schon sein dürfen. Doch auch so gelang ein überzeugendes Plädoyer für ein leider viel zu selten gespieltes Stück.

JULIA SPINOLA

 

Frankfurter Rundschau
30. April 2008

Oper Frankfurt mit "Broucek"
Kleinbürger auf Flügeln
VON HANS-KLAUS JUNGHEINRICH

Herbert von Karajan wurde dafür gerühmt - und er rühmte sich dessen -, dass er auch zwölftönige Werke der Schönbergschule zu angenehmem, quasi konsonantem Wohlklang zu bringen wusste. Mit einem umgekehrt alchimistischen Impetus richtete es Leos Janácek so ein, dass seine Tonsprache, eine nach wie vor an Tonarten gebundene und in ihren Tonverbindungen nicht gänzlich neuartige, dennoch kühn, spröde, hart, attackierend, unverbraucht und persönlich wirkte. Elemente seiner eigenwilligen Intonation sind vor allem eine antiromantisch-konturscharfe Klanggestaltung, eine Formgebung aus engmaschig zusammengesetzten Kleinmotiven und eine aus dem Sprechduktus heraus entwickelte Vokalmelodik.

Viel Zeit brauchte Janácek, um seinen besonderen Ausdrucksstil auszubilden, und dazu war nicht nur die intime Kenntnis etwa der Partituren Wagners, Puccinis und der unmittelbar zeitgenössischen Moderne vonnöten, sondern auch die eindringliche Erforschung des "Volksvermögens" seiner tschechischen (genauer: mährischen) Heimat. Kurz nach der vorletzten Jahrhundertwende war die Bauerntragödie "Jenufa" als erstes Meisterwerk entstanden. Mit ihren zum Teil großflächig-pathetischen und hymnischen Aufbäumungen war das gewissermaßen noch eine "richtige" Oper, nicht sehr weit vom Verismo entfernt. Die in schneller Folge entstandenen Spätwerke von "Katja Kabanova" bis "Aus einem Totenhaus" entwickelten dann eine Tendenz zum Komprimierten, Zusammengepressten, Erratischen. Moderne Sprachempfindlichkeit führte da zu äußerster Verdichtung, wenn man will: zur konsequenten Abkehr vom konventionell opernhaften Gestus.

Auf dem Wege dazu sind die "Ausflüge des Herrn Broucek", an denen Janácek in den ersten beiden Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts sehr lange arbeitete, ein Übergangswerk, nicht frei von Unsicherheiten und dramaturgischen Ungeschicklichkeiten. Zugleich gehört dieses Stück zu den frappierend extravagantesten Sujets, mit denen Janáceks Opern-Oeuvre sich in die Weltmusik einschrieb. Die Geschichte vom Prager Spießer und Hausbesitzer Matej Broucek, der sich im Suff auf Traumreisen zum Mond und ins hussitische Prag des frühen 15. Jahrhunderts aufmacht und dabei den (Anti-)Helden spielt, kann ohne Umstände mit den Abenteuern des Cervantes'schen Ritters von der traurigen Gestalt verglichen werden. Broucek, ein durchaus auch die ursprünglichen Absichten der Autoren überspringender Mythos: ein Kleinbürger, der Flügel bekommt und poetischen Ewigkeitsrang einnimmt.

Eine Reise in den Raum und eine in die Zeit: Mit diesem Abstraktionsrahmen wäre die Oper (sie hätte die exakte Kennzeichnung als "komisch-phantastisch" verdient, die Otto Nicolai seinen "Lustigen Weibern von Windsor" mitgab) ganz lapidar und nichtnaturalistisch aufschlüsselbar. Dem stehen allenfalls das "Atmosphärische" der Rahmenhandlung in der Prager Altstadt und ziemlich penible, für Nichttschechen kaum verständliche Geschichtsdetails aus den Hussitenkämpfen entgegen. Jedenfalls riskierte es der junge Hausregisseur Axel Weidauer nicht, die Bodenhaftung der utopischen Episoden ganz aufzugeben. Immerhin bevölkerte er die Mondszenen nicht mit neckisch-kindischem Ausstattungsplunder und hielt sich auch beim martialischen Prunk der Hussitenzeit zurück. Anläufe zu choreografisch ausziselierter Bewegungsregie verloren sich nach und nach, als hätte man ihrer Tragfähigkeit misstraut.

Sehr schlicht, aber recht praktikabel die Bildgestaltung von Moritz Nitzsche mit einem bühnenbreiten, raumtiefen Steg als Spielfläche. Zu den imaginären Reisestarts werden effektvoll die Tuchbedeckungen weggezogen. Das Mondterrain zeigt sich dann strahlend weiß, und der veritable Chor in Blau (Kostüme: Berit Mohr) agiert dann wie bei einer Eisrevue. Etwas weniger inspiriert gibt sich die Zeitreise, ebenfalls mit nur sparsamen Requisiten (Mondscheibe, Fahrrad, jetzt einer Kanonenkugel statt des anfänglichen Balls) und eher schwach akzentuierten Kostümen.

Broucek ist ja kein Historiker und kennt sich eben in der Optik der alten Zeiten nicht recht aus, und sowieso begegnet er dort wie auf dem Mond den Menschen aus dem Prager Alltag, etwa dem Liebespaar Mazal und Málinka (Carsten Süß, Juanita Lascarro), das an einer Stelle unisono einen betörend lyrischen Gesang anstimmt. Broucek, mit Behagen Sottisen gegen den Vegetarismus von sich gebend und einem ganz pragmatisch-duckmäuserischen Pazifismus huldigend, ist fast ständig auf der Bühne, ein molluskenhafter Mittelpunkt lustiger und lästiger Turbulenzen, die er wunsch- und alpträumend aus sich heraus spinnt. Der Charaktertenor Arnold Bezuyen füllte diese Figur mit Farbe und Leben.

War die Inszenierung immerhin ein Ansatz zum wünschenswerten interpretatorischen Durchbruch dieser liebenswerten Opernphantasmagorie, so erfüllte die musikalische Realisierung unter der liebevoll-aufmerksamen Leitung von Johannes Debus nahezu alle idiomatischen Ansprüche der schwierigen Partitur. Behutsamkeit verblieb nicht in Zaghaftigkeit; Wärme und Pointierung brachten die Musik zum Sprechen, zur sinnlichen Erscheinung jener die Realität überschießenden Ideen, die so leuchtend aus dem Rausch aufsteigen.

Oper Frankfurt: 1., 3., 8., 11., 16., 25. Mai. www.oper-frankfurt.de

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Dokument erstellt am 28.04.2008 um 16:32:01 Uhr
Letzte Änderung am 28.04.2008 um 18:44:11 Uhr
Erscheinungsdatum 29.04.2008

 

Frankfurter Neue Presse
29.04.2008

Im Zwischenreich der Träume
An der Frankfurter Oper feierte Janáceks „Die Ausflüge des Herrn Broucek" Premiere.

Von Andreas Bomba

Die Oper „Die Ausflüge des Herrn Broucek" erzählt von einem Prager Kleinbürger und Hausbesitzer. Bedrängt von einem säumigen Mieter (dem Dichter Mazal), einer laschen Begierde nach Malinka, Tochter des Sakristans, und einer Schar lärmender Künstler. Benebelt vom wohligen Bierrausch, verfällt er nacheinander in zwei Träume.

Der eine führt ihn auf den Mond, der andere zurück in die Geschichte. Zwei utopische Räume und Zeiten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Mondmenschen sind blau behaarte und gewandete Ästheten, die Phrasen über platonische Liebe und allerlei poetischen Unsinn drechseln. In König Wenzels Schatzkammer rüsten sich die abtrünnigen Hussiten zum Kampf gegen Kaiser Siegmund; Broucek, der nicht ihre Sprache spricht, wird als Spion denunziert und entgeht dem Verbrennungstod nur durch rechtzeitiges Aufwachen aus dem Traum. Da ist er wieder, in der Vikárka, seinem mittlerweile leeren Stammlokal.

Was diese in Deutschland selten (und nun in tschechischer Sprache überhaupt erstmals) gespielte Oper so schwierig macht, ist ihr realer Hintergrund. Mit dem Mondbild greift Janácek ästhetische Debatten auf, die unter Titeln wie Dadaismus oder Futurismus in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg überall in Europa geführt wurden. Das 1420 verortete Geschichtsbild spiegelt hingegen die nationale Emphase bei der Gründung des Staates Tschechoslowakei 500 Jahre später, dem Jahr auch der Prager Uraufführung dieser Oper. Von Satire zu reden griffe jedoch zu kurz, weil der Komponist, angeregt durch zwei von ihm selbst auf Libretto-Format gebrachten Novellen, keine ironische Distanz wahrt, sondern durchaus ernsthaft in die anderen Welten eintaucht. Der Text ist absurd, die Figuren sind absurd, die Musik, wie immer bei Janácek, karg und streng an der Sprachmelodie orientiert. Sie übt sich hier in kühner, die Grenze zum Leeren streifender Avantgarde, dort in schneidigem Historismus hussitischer Choräle. Bereits die ersten Takte, samtene Streicherklänge mit gackernden Bläser-Staccati kontrastierend, umreißen diese Sphären. Johannes Debus und das Museumsorchester wahren die Breite des Ausdrucks den ganzen Abend über, bisweilen vordergründig laut, grell und aggressiv.

Axel Weidauer (Regie), Moritz Nitsche (Bühne) und Berit Mohr (Kostüme) versuchen gar nicht erst, klamottiges Potential aus diesem Stück zu schlagen oder, was ebenso billig wäre, sich über den bierseligen Spießer in Herrn Broucek zu amüsieren. Im Gegenteil: Das spitz-gleißende Timbre, in dem Arnold Bezuyen diese wohlgenährte Figur singt, rührt an Sympathie, wenn er auf dem Mond herzhaft in das letzte Würstchen beißt und die veganische Gesellschaft dadurch mit einem Schlag zum Verstummen bringt.

Gezeigt wird eine dunkle, sich stark nach hinten verengende Bühne, eine abstrakte, groteske Straßenperspektive, auf der ein paar Dinge herumliegen, die in einem Traum am Rande vorkommen oder auch Träume auslösen können. Broucek begegnet überall der gleichen Gesellschaft. Nur er bleibt er selbst, während die anderen archetypische Formen von Gesellschaft darstellen – hier nähert sich Janácek Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen" – und den Sängern damit gleich drei Rollen aufbürden.

Juanita Lascarro gibt jeweils selbstbewusst die etwas verlorene Frau (Malinka, Etherea, Kunka) in der Männergesellschaft, Carsten Süß – bis zu herrischer Hysterie überdrehend – den Künsler und Feldherren (Mazal und Parellelfiguren), Gregory Frank den resoluten Wirt Wölfl, daneben sind aus dem Ensemble auch Simon Bailey, Anna Ryberg, Peter Marsh und andere mit Blick auf scharfe Charakterzeichnungen gut besetzt. Ganz am Schluss noch ein Dreh ins Verrückte. Natürlich glaubt niemand den Geschichten des Herrn Broucek. Man hält ihn für etwas bekloppt. Plötzlich reißt der Schleier vor der Bühne – eine andere Wahrheit tritt jedoch nicht zutage. Der Vorhang fällt, man denkt lange nach über diesen nicht einfachen, jedoch kräftig applaudierten Abend.

 

OFFENBACH POST
30. Avril 2008

Ein Schwejk in Zivil säuft und träumt sich nach Absurdistan
Oper Frankfurt hat Janaceks "Die Ausflüge des Herrn Broucek" wiederbelebt


Szene mit Arnold Bezuyen als Herr Broucek und Juanita Lascarro in der Janacek-Inszenierung
Foto: Monika Rittershaus

Eigentlich will er nur in Ruhe sein Bier trinken, der Prager Bürger des Jahres 1888. Doch von einer Künstlerhorde aus der Stammkneipe geschmissen, von Frauen und säumigen Mietzahlern bedrängt, säuft und träumt er sich nach Absurdistan - und erlebt manch blaues Wunder. Leos Janaceks "Die Ausflüge des Herrn Broucek auf den Mond und ins 15. Jahrhundert" hat Regisseur Axel Weidauer für die Oper Frankfurt wiederentdeckt. Sein grotesker Bilderbogen zwischen beißender Satire und unverblümtem Nationalpathos fesselte zur Premiere drei Stunden lang. Am Ende gab es Beifall für alle, besonders für den Titelhelden, den Arnold Bezuyen in die Nähe des braven Soldaten Schwejk rückte.

In Janaceks dichten, affektvollen Stimmcollagen findet sich neben romantischem Melos und impressionistischen Klangsamt eine schrill-schräge Linie, vom Museumsorchester lustvoll gelockt, ein Fest fürs akkurate Holz und Blech. Weil Kapellmeister Johannes Debus das expressive Sprachmelos rhythmisch energisch ausstellte und dynamisch auf die Spitze trieb, war das groteske Aha-Erlebnis programmiert, Klammer unterschiedlicher Stationen zwischen Himmel und Erde.

Auf schräger Bühne gibt manches Accessoire Rätsel auf - weniger der mal helle, mal dunkelrote Vollmond, der Mini-Vorhang, das schiefe Gebäude oder die bunten Lämpchen der Kneipe, zur Zeitreise ins Mittelalter allmählich verlöschend, als das ordentlich abgestellte Fahrrad, die durchsichtigen Fenster und Rahmen, bald Ruinen, oder der bunte Ballon an der Rampe, zur grauen Kanonenkugel mutierend. Da scheint Bühnenbildner Moritz Nitsche von Ingmar Bergmans Traumsymbolen ebenso inspiriert, wie die fantasievolle Kostümausstatterin Berit Mohr mit tiefblauen Gewändern und Anzügen einer mondsüchtigen Künstlergesellschaft galaktisch abhebt.

Im leeren Rahmen platziert sich der Chor der Dichter und Maler wie eine verunglückte Rembrandt-Nachtwache. Von Alessandro Zuppardo zuverlässig einstudiert, girren und gurren die Mitglieder in edler Inbrunst. Es setzt Seitenhiebe auf die Prager Kunstgemeinde bis hin zum postwagnerschen "Ho Ho" im Walzerdrall. Ernsthafter der Hussitenchor, wenn er nach gewonnener Schlacht gegen die Kreuzritter vor dem Antichrist warnt.

Mittler zwischen den Welten ist Broucek, den Tenor Bezuyen als Zivilisten gibt, der noch in seinen Träumen geschunden wird - angewidert von der Kunst-Mischpoke, Vegetarier, die ihm sogar sein Würstchen übelnehmen, und als Verräter von militanten Andersgläubigen verurteilt, die er selbst mit der Bemerkung, dass er erst geboren werden müsse, nicht besänftigen kann. Der Niederländer drückt stimmlich mit stabiler Spitze und eindringlichen leisen Tönen Abscheu vor der schnöden Welt aus.

Auf allen Ebenen setzt ihm Juanita Lascarros wandlungsfähiger Sopran zu - wie viele in Mehrfach-Rollen, aber vorwiegend einem Charakter verpflichtet. Am eindringlichsten als nymphenhafte Muse, die den biederen Broucek auf dem Schaukelpferd Pegasus aufs Kreuz zu legen trachtet. Auch stimmlich seine stärksten Szenen hat als Dichter Tenor Carsten Süß auf dem Mond, wo sich in der Künstlerclique Simon Bailey und Mäzen Gregory Frank profilieren. Aus dem Ensemble ragt Frank van Aken, ein stimmgewaltiger Cech, von Janacek positionierter Miturheber des Textbuchs.

Am Ende erlöst der Wirt Broucek aus seiner sargähnlichen Kiste, der stolz berichtet, dass er Prag befreit habe. Er soll das nicht weitererzählen; letzte Worte, die das Orchester zum steilen Schlussakkord animieren. In einer Rarität, die das Repertoire beflügelt, wie Satire-Schachzug und angelegentliche Operetten-Ansicht prächtig unterhalten.

KLAUS ACKERMANN

 

Mannheimer Morgen
30. April 2008

Musiktheater: "Die Ausflüge des Herrn Broucek" in Frankfurt
Ein Leben zwischen Schweinswürsteln und Bier

Von unserer Mitarbeiterin Britta Richter

Einen ersten Hinweis liefert das Orchestervorspiel: dreimal, zuerst im Fagott, dann von Klarinette und Horn wiederholt, erklingt eine kurze Melodie. Über Herrn Broucek (Arnold Bezuyen, Bild) , die kleinbürgerliche Hauptfigur in Leo Janáceks fünfter Oper, die sich binnen drei Stunden Spieldauer nicht ferner als zum Mond und hernach in den Hussitenaufstand am Veitsberg gegen den Habsburgkaiser Sigismund des Jahres 1420 träumt, verrät sie viel.

"Widerwärtig zum Erwürgen"

Janáceks selbstüberzeugter Patriot, dessen Heimat bei Fertigstellung der Oper 1918 kurz vor der Staatsgründung zur Tschechoslowakei stand, wollte in dem Spießgesellen Matej Broucek den Kriegsdienst verweigernden Bürger anprangern. "Widerwärtig zum Erwürgen" solle er dem Zuhörer werden, forderte der Komponist einmal. Doch die Musik, die Johannes Debus in ihrer Farbigkeit nuanciert heraus spielen ließ, lässt zumindest im ersten Akt Gnade walten über diesen Musterschnitt des kleinen Mannes, dessen Leben sich in seinem Stammlokal, in dem Bühnenbild von Moritz Nitsche ein Biergarten mit Lampionbeleuchtung, zwischen Schweinswürsteln und Bier abspielt. Sie zeichnet ihn als naiven Kleinbürger, dessen Sehnsüchte Regisseur Axel Weidauer ernst nimmt.

Broucek will der Welt entfliehen und erträumt sich die Utopie eines unbeschwerten Daseins auf dem Mond. Dort trifft er auf eine Künstlerenklave - die in ihren blauen Einheitsanzügen von Berit Mohr wie geklont wirken - und deren Kunstschaffen unter dem Diktat der totalen Ästhetisierung längst erstickt ist. Am Ende seiner zweiten Traumreise ins 15. Jahrhundert lässt Weidauer bei Broucek so etwas wie eine Ahnung aufblitzen, dass der ihm zugewiesene Platz in der Welt nicht der schlechteste ist.

Neben einem konzeptionell überzeugenden Regiekonzept lag die besondere Stärke des Abends in dem hohen musikalischen Niveau des Ensembles. Dirigent Johannes Debus war ein allseits aufmerksamer Kommentator des Bühnengeschehens. Bruchlos führte er das Museumsorchester durch die schnell wechselnden Klänge der Partitur. Das Sängerensemble überzeugte ausnahmslos mit einem erfreulich hohen Niveau. Der Tenor Arnold Bezuyen gab einen schauspielerisch und sängerisch überwältigenden Titelhelden, der durch seine grandiose Deklamationskraft überzeugte.

 

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30. April 2008</P>
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Mitreißende Premiere von Die Ausflüge des Herrn Brouček gestern Abend in der Oper
Er träumt sich im Vollrausch auf den Mond

(...) Die Bühne, schwarz und leer, bevölkert sich mit irren Fantasiegestalten. Regisseur Axel Weidauer lässt die Einfälle nur so purzeln Mit einem Überangebot an Bildern schmeichelt er den erklärungshungrigen Augen.

Mondmenschen tragen alle blaue Einheitsuniform. Die Königin des Mondes Etherea (Juanita Lascarro) verknallt sich in den nörgelnden Langweiler im faden braunen Anzug. Der interessiert sich aber nur für Bier und Würste.

Arnold Bezuyen ist ein wunderbarer bierbeduselt Träumender, voll wachem Misstrauen und schützendem Selbsterhaltungstrieb, dumpf selig überlebend. (...)

JOSEF BECKER