hr-online.de
6. Mai 2008

Oper Frankfurt, 17. Mai 2008
"L'Espace Dernier" von Matthias Pintscher

Matthias Pintscher gilt als einer der erfolgreichsten Komponisten unserer Zeit. "L’espace dernier" vereint Werke Pintschers, die dem Dichter Arthur Rimbaud gewidmet sind. 2004 in Paris uraufgeführt, wird es jetzt in Frankfurt als konzertante Vorstellung erstaufgeführt.

In Studiensetzte sich Pintscher mit den Werken von Giselher Klebe, Hans Werner Henze, Peter Eötvös, Helmut Lachenmann und Manfred Trojahn auseinander. Zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien würdigten und förderten sein Schaffen. Zudem kürten ihn bedeutende Institutionen zum „composer in residence", während namhafte Dirigenten seine Werke zur Aufführung brachten.

"L’espace dernier", entstanden 2002/03, ist groß angelegt; die Sängerbesetzung umfasst einen hochdramatischen Sopran, einen aus dem Charakterfach stammenden Bassbariton sowie einen hohen Spinto-Tenor. Hinzu treten 16 Vokalsolisten, aufgeteilt in acht Soprane und acht Mezzosoprane. Die Sprechpartien entstammen dem unmittelbaren Lebensumkreis des Dichters: „Die Frau" verkörpert zugleich die Schwestern Vitalie und Isabelle wie auch die Mutter, Rimbauds afrikanischer Diener und Begleiter Djami ist „Der Mann". Erinnerungen erscheinen: Rimbauds obsessive Manie des Aufbruchs, sein immerwährender Gestus des Verlassens, die Euphorie des vorübergehenden Daseins.

Der Titel L’espace dernier bedeutet für Pintscher nicht nur den letzten Raum, sondern auch den „unergründlichen Raum". Text und Musik sind autonome Schichten. Nicht der Text führt die Kommunikation herbei, einzig der musikalische Raum ist bestimmend. Das Werk setzt sich ausschließlich aus authentischen Texten zusammen. Dabei wird von Anfang an auf jede chronologische Schichtung und narrative Linie verzichtet. Kein „Lebenszusammenhang" im Sinne einer organischen Gesamtheit wird behauptet, ebenso wenig die gegenteilige Idee des Fragments als Entsprechung eines in Augenblicke aufgeteilten Lebens. Pintscher verfolgt keine Metaebene, sondern hält sich an die pure Phänomenologie der Worte, an die nackte Tatsache, dass sie einmal gesprochen wurden.

Unter der musikalischen Leitung von Frankfurts Generalmusikdirektor Paolo Carignani sind Gäste und Ensemblemitglieder der Oper Frankfurt besetzt. Angeführt werden sie von dem englischen Bassbariton Ashley Holland, dessen Verkörperung der Titelpartie von Detlev Glanerts Caligula 2006 noch in bester Erinnerung sein dürfte. Ergänzt werden sie durch die beiden renommierten Schauspieler Christoph Waltz (L’Homme) und Isabelle Menke (La Femme) sowie das SWR Vokalensemble (Einstudierung: Denis Comtet).

 

Frankfurter Rundschau
19.5.2008

oper
Bange machen gilt nicht
VON STEFAN SCHICKHAUS

Suchen Sie die Herausforderung? Reizt Sie der Blick über die Grenze? Wer jetzt eifrig nickt, sollte heute in die Alte Oper gehen und jene zuhause lassen, die unter "Oper" vor allem Mantel und Degen und hohes C verstehen. Denn heute kommt ein echter Prüfstein zur Aufführung, sicher das anspruchsvollste, ja auch sperrigste Projekt, das die Alte Oper in dieser Saison im Angebot hat.

Es handelt sich um ein Stück neues Musiktheater von Matthias Pintscher, "L'espace dernier", 2004 in Paris szenisch uraufgeführt, jetzt als konzertante Frankfurter Produktion unter der Leitung von Paolo Carignani zu erleben. Man kann es nicht schönreden, im klassischen Sinne:

Dieser Oper fehlt so ziemlich alles, was traditionell Opernfreunden zu Herzen geht. Sie hat keine Handlung, keinen mitverfolgbaren Text, niemand wird nach gut anderthalb Stunden eine Melodie auf den Lippen haben. Der französische Dichter Arthur Rimbaud spendete Textelemente und Grundsituation, doch selbst er ist schon tot, wenn die erste Musik erklingt.

Es gibt auch keinen, der frohgemut die Hemmschwelle einreißt. "Es ist ein ziemlich abstraktes Stück", sagt sogar der 37-jährige Komponist, und die Kritiker, die der Pariser Aufführung beiwohnten, sahen das ähnlich. "Er notiert mit einer Flaubertschen Ungerührtheit die Verwerfungen, denen Menschenseelen ausgeliefert sein können. Deshalb wird Pintscher auch wohl nie bei den Massen erfolgreich sein", hieß es 2004 über "L'espace dernier" in der Süddeutschen Zeitung. Und: "Es würde als Oratorium vermutlich überzeugender wirken" - was man heute nun überprüfen kann.

Wer also Klänge sucht, die die Massen verstören, durch Live-Elektronik mutiert und unter anderem vom sagenhaften SWR-Vokalensemble aus Stuttgart produziert, und wer einfach dabei sein will, wenn Grenzen der Konvention bewusst überschritten werden, der betrete heute Abend den "letzten Raum" - "L'espace dernier". Und am besten davor schon um 17 Uhr den Mozart-Saal zur (im Preis inbegriffenen) Filmvorführung des Pintscher-Porträts "Aufbruch ins Innere" und anschließend zur Einführungsveranstaltung (18.15 Uhr): Matthias Pintscher im Gespräch mit Norbert Abels.

L'espace dernier, 17.5., 19 Uhr,
Alte Oper, Frankfurt, Opernplatz

[ document info ]
Copyright © FR-online.de 2008
Dokument erstellt am 17.05.2008 um 00:16:01 Uhr
Erscheinungsdatum 17.05.2008 | Ausgabe: R2NO | Seite: 13

 

Frankfurter Rundschau
15.5.2008

interview
Erst einmal keine Oper mehr schreiben
Wie Musik gemacht wird - Ein Gespräch mit dem Komponisten Matthias Pintscher.


Matthias Pintscher ist noch nicht im letzten Raum angekommen,
dem er seine zweite Oper gewidmet hat. (Alte Oper)

Herr Pintscher, Sie treten in letzter Zeit, nach einer vergleichsweise dichten Reihe von Uraufführungen Ihrer Werke, häufiger als Dirigent in Erscheinung. Wechseln Sie die Branche?

Am liebsten würde ich das Dirigieren und Komponieren fünfzig zu fünfzig aufteilen. Ich habe in den letzten Jahren viel geschrieben und will mir jetzt erst einmal Zeit nehmen, das zu reflektieren. Es gibt inzwischen einen Bestand an Werken, der auch gespielt wird, so dass ich nicht immer etwas schreiben muss, um aufgeführt zu werden. Zum anderen spiele ich kein Instrument mehr, so dass mir die Qualität des Musikmachens vor allem über das Dirigieren zugänglich ist.

Die Erfahrung des Dirigierens hilft also beim Schreiben?

Ich begegne Orchestern, einzelnen Musikern, mache Erfahrungen mit der Akustik in verschiedenen Sälen - all das trainiert das innere Ohr und vermittelt Informationen darüber, wie eindeutig und effizient man als Komponist notieren muss, um Aufführungssituationen gerecht zu werden.

Ist das Dirigieren nicht auch ein vergleichsweise handwerklicher und geradezu politischer Prozess?

Genau. Im Vergleich dazu ist das Komponieren abstrakter und autonomer. Als Dirigent ist man auf Musiker angewiesen, man muss die Aufführungen mit ihnen erarbeiten und nicht gegen sie. Ich versuche immer auch, die individuellen Qualitäten der Musiker zu erkennen und daraus etwas zusammen zu binden. Das ist viel spannender, als ein archaisches Konzept über ein Orchester zu stülpen.

Nun haben Sie als Komponist und Dirigent das Glück, in einer Zeit zu arbeiten, in der es Ensembles gibt, die mit zeitgenössischer Musik umzugehen wissen, und dieses Wissen ragt inzwischen weit hinein in die etablierte Orchesterlandschaft.

Es gibt auch immer mehr große Dirigenten, die sehr gut zeitgenössische Musik spielen können. Das ist eine Entwicklung der letzten zwanzig Jahre. Davor gab es nur auf der einen Seite diese trockenen, un-auratischen Dirigenten, die sich mit zeitgenössischer Musik beschäftigten, und die großen Interpreten, die einer zeitgenössischen Partitur total hilflos gegenüber standen.

Gibt es Dirigenten, mit deren Interpretationen Ihrer eigenen Musik Sie zufrieden sind?

Ich bin mit keinem der Dirigenten, die wissen, wie meine Musik gespielt wird, unzufrieden gewesen, und ich habe es auch noch nie erlebt, dass ich über eine Interpretation entsetzt gewesen wäre. Das hat aber auch damit zu tun, dass ich sehr akribisch, fast obsessiv präzise notiere. Man kann gar nicht so extrem dagegen spielen.

Fühlen Sie sich von Kritikern verstanden?

Selten. Ich fühle mich nicht unverstanden, aber man merkt zum Beispiel, dass gerade Musikologen mit meiner Musik schwer umgehen können. Es gibt nicht dieses Gitter des Vertrauten oder Kategorischen, an dem man sich festhalten könnte. Meine Stücke entstehen nicht aus einem Konzept heraus, sondern es gibt immer zuerst einen Zustand oder eine Atmosphäre oder eine Geschichte. Das ist für manche nicht griffig genug.

Sie folgen keinen kompositorischen Prinzipien und haben keine über Bord geworfen: Ist das das Problem?

Ich fühle mich der ganzen Musikgeschichte verbunden, bis zurück zu Monteverdi und zur französischen Renaissance-Musik, ich nähre mich aus all dem. Was mir im Moment am meisten Freude bereitet, ist das Studieren von Partituren. Ich habe durch Partiturstudium zu begreifen begonnen, wie Musikgeschichte zusammenhängt. Man versteht plötzlich, was der späte Schubert mit dem frühen Bruckner zu tun hat, was die Zweite Wiener Schule wirklich bedeutet in Bezug auf Brahms. Natürlich wusste ich das schon lange, aber aus Partituren erfahre ich viel mehr darüber. Das geht einerseits in meine Arbeit als Dirigent ein; andererseits frage ich mich auch, woher meine Klangvorstellungen, meine Präferenzen kommen.

Also ist Partiturstudium auch Selbststudium.

Man muss viel lesen und vieles auf sich zukommen lassen.

So dass Sie als Dirigent ein Vertreter der historisch informierten Aufführungspraxis wären?

Ja. Idealerweise möchte ich die Musik jeweils so spielen, wie der Komponist sie sich gedacht hat.

Wie genau wissen Sie das, wenn Sie als Dirigent eigene Werke aufführen?

Ich habe da keine rechte Antwort. Dahinter steckt ja auch die Frage, ob ich mich für den besten Interpreten meiner eigenen Musik halte - ich weiß es nicht. Es ist nicht mein Wunsch, und ich möchte keinesfalls nur meine eigene Musik spielen. Ich finde es spannender, programmatisch zu denken, also beispielsweise meine Musik in Kontexte zu stellen. Es ist mir auch schon passiert, dass ich von einer Aufnahme hinterher ganz überrascht war, weil ich im Konzert vieles ganz anders wahrgenommen hatte. Man ist im Konzert mit so vielen Dingen vernetzt, dass man nicht unbedingt in jedem Moment den Überblick hat, wie das Ganze sich gerade verhält. Ich möchte deswegen eigentlich auch nie eine eigene Uraufführung dirigieren.

Ist eine fertige Partitur etwas wie ein Organismus?

Das ist sie wohl. Aber jetzt frage ich Sie mal: Wie kommt es, dass Stücke, die schon häufiger gespielt worden sind, eine Aufführungsgeschichte bekommen, die auch so funktioniert, dass ein Orchester, das dieses Stück noch nie gespielt hat, damit schon in den ersten Proben relativ gut klar kommt, besser als mit einem seltener gespielten Stück?

Da gibt es mehrere mögliche Antworten, durchaus auch mystische. Erstens kann der Grund, warum ein Stück häufiger gespielt wird, in dem Stück liegen, dann wäre die leichtere Verdaulichkeit ein Aspekt dieses Stücks selbst. Es kann aber auch daran liegen, dass Musiker einfach gut vorbereitet in die Probe kommen und die Chancen dazu besser sind, wenn ein Stück schon eine Aufführungsgeschichte hat und eventuell Einspielungen, also auch Hörerfahrungen vorhanden sind. Dann wären die Orchestermusiker und ihr Verhältnis zur Musik der Grund dafür.

Das stimmt. Wir haben gerade in den USA erlebt, wie sich Orchester vorbereiten. Ich hatte von meinem Stück, das Boulez dort aufgeführt hat, zehn Exemplare der Partitur an den Bibliothekar geschickt, der weitere 30 Exemplare gemacht hat. Die waren alle von den Musikern mitgenommen worden. Sie haben sich also nicht nur für ihre jeweilige Stimme interessiert, sondern für die Partitur - 40 Leute in einem einzigen Orchester, erstaunlich. Überhaupt bin ich von der Probenkultur in Amerika sehr angetan. Es gibt viel weniger Probenzeit, deswegen ist die Vorbereitung der Musiker auf die Proben ganz anders. In Deutschland kann man es erleben, dass man eine Woche Probenzeit hat und die ersten zwei Tage mit banalen Dingen verbringt, so dass man den Musikern lieber am Montag und Dienstag frei geben würde, damit sie am Mittwoch gut vorbereitet in die Probe kommen. Was ich auch sehr gut fand: Die Musiker merken sich alles, was man in den Proben sagt. Besonders bei französischen Orchestern habe ich häufig die Erfahrung gemacht, dass sie von einer Probe zur nächsten alles wieder vergessen. Dafür haben sie viel mehr Spaß am Musikmachen. In deutschen Orchestern muss man häufig richtig arbeiten.

Was für eine Arbeit haben Sie beim Heidelberger Frühling gemacht?

Es war ein kleines Festival im Festival. Es wurden dort nicht nur Konzerte produziert, sondern wir haben den kompletten Prozess des Erarbeitens öffentlich zugänglich gemacht. Es war ein sehr umfassendes Miteinander. Wir haben sechs ganz junge Komponisten ausgewählt, Beat Furrer und Michael Jarrell waren als Gäste da, und im Zentrum steht eben nicht nur das Endprodukt, sondern die ganze Entstehung der Konzerte.

Ist das auch ein Versuch, das soziale Setting der Konzertsituation zu verändern?

Ich habe darüber schon öfter nachgedacht und möchte zu bedenken geben: All diese Anachronismen, mit denen der Konzertbetrieb ausgestattet ist, haben auch eine große Qualität. Sie besteht darin, dass Menschen an einem bestimmten Ort zusammenkommen, um dort gemeinsam etwas Besonderes zu erleben. Wir sollten daran arbeiten, dass diese Chance weiterhin bleibt, durchaus stilisiert, und natürlich, dass die Qualität außergewöhnlich sein sollte. Wenn man Konzerte veranstaltet, wo alle in Jeans kommen, erreicht man damit doch kein neues Publikum. Es geht doch nicht darum, dass Leute Angst hätten, ins Konzert zu gehen, weil da Männer Fräcke tragen. Eine Aufführung sollte etwas bleiben, was es nur an diesem Ort und nur einmal geben kann. Das dürfen wir nicht verlieren.

Die Gefahr des Verschwindens besteht eher für die Tonträgerindustrie als für Konzerte.

Auch die Oper könnte es in Zukunft etwas schwerer haben.

Nun haben Sie ja auch bereits zwei Opern geschrieben, die zweite ist bald in Frankfurt konzertant zu erleben. Täuscht mich mein Eindruck, dass das Nur-Konzertante dieser Oper keinen großen Schaden zufügen muss?

Es ist ein ziemlich abstraktes Stück, das bei der szenischen Uraufführung in Paris visuell aufgeladen wurde. Die Musik ist in ihrem Charakter dagegen eher feinstofflich. Konzertant kann man das Stück nun nochmals überprüfen. Ich bin sehr glücklich, dass das Werk jetzt so vorgeführt wird. Ich möchte das selbst auch sehr gern erleben. Und ich möchte jetzt auch erst einmal keine Oper mehr schreiben.

Interview: Hans-Jürgen Linke

[ document info ]
Copyright © FR-online.de 2008
Dokument erstellt am 14.05.2008 um 16:36:01 Uhr
Letzte Änderung am 14.05.2008 um 17:04:55 Uhr
Erscheinungsdatum 15.05.2008

Zur Person

Matthias Pintscher, geboren 1971 in Marl, gehört international zu den meist gespielten Komponisten seiner Generation und ist zunehmend auch als Dirigent gefragt.

Das Musiktheater-Werk "L’Espace dernier" wurde 2004 in Paris uraufgeführt. Es handelt vom Leben und vor allem Sterben des französischen Dichters Arthur Rimbaud. Als deutsche Erstaufführung ist "L’Espace dernier" am 17. Mai konzertant in der Alten Oper Frankfurt zu hören. www.alteoper.de