DER TAGESSPIEGEL
13. März 2008

FESTTAGE
Tödliches Spiel
Barenboim dirigiert Prokofjews „Der Spieler"

FREDERIK HANSSEN

In den Jahren 1916/1917 war der junge Sergej Prokofjew unglaublich produktiv: Während sich draußen auf den Straßen die russische Revolution zusammenbraute, komponiert er erst die „Skythische Suite", die das Publikum durch wüste Dissonanzen und rhythmische Motorik verschreckte, dann seine „Sinfonie Classique", ein Meisterwerk des Neoklassizismus im Geiste Joseph Haydns, bis heute ein Konzertsaal-Renner. Dazwischen entstand eine Oper, „Der Spieler" nach der Erzählung von Dostojewski. Ein Werk, mit dem er die verkrusteten Strukturen der zaristischen Gesellschaftsordnung bloßlegen wollte, das dann aber in die Strudel der Zeitläufte geriet.

In St. Petersburg interessierte man sich sehr für Prokofjews Oper um eine degenerierte Adelsfamilie, die der Spielsucht zum Opfer fällt, doch die Proben mussten bald wegen der Unruhen abgebrochen werden. Nachdem sich das Sowjetsystem etabliert hatte, scheiterte auch der Plan, das Werk am Moskauer Bolschoi herauszubringen. Erst 1929 fand die Uraufführung statt – in Brüssel. Als Koproduktion mit der Mailänder Scala kommt nun „Der Spieler" an der Staatsoper heraus, dirigiert von Daniel Barenboim – und unter weitgehendem Ausschluss der hauptstädtischen Musiktheaterfans, da die Premiere im Rahmen der österlichen „Festtage" zu Preisen von bis zu 260 Euro stattfindet. Man kann es allerdings auch so sehen: Die gut betuchten Besucher aus dem Ausland sind die Vorkoster, und die Berliner können die Kritiken abwarten und sich dann entscheiden, ob sie sich diese Rarität aus dem russischen Repertoire in der kommenden Spielzeit anschauen mögen.

 

DER TAGESSPIEGEL
erschienen in der Spielzeit-Beilage

Der Dostojewski-Trip
Staatsoper Dmitri Tcherniakov wagt sich an Prokofjews Selten aufgeführte Oper "Der Spieler"

UWE FRIEDRICH


Dmitri Tcherniakov

Vormittags probt der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov auf der Hauptbühne der Staatsoper. Dann wird der Orchestergraben hochgefahren, wo sonst die Musiker der Staatskapelle sitzen, werden Tische für das Regieteam aufgebaut. Statt des Orchesters sorgt eine einsame Pianistin für die musikalische Untermalung.

Am Nachmittag zieht der ganze Tross dann in die Probebühne am Hauptbahnhof, denn auf der Bühne werden nun die Kulissen für die abendliche Vorstellung aufgebaut. Das richtige Gefühl für die Dimensionen der Bühne, für die Akustik des Zuschauerraums stellt sich aber nur auf der Bühne ein und nicht auf dem Provisorium einer Industriehalle, deshalb der tagtägliche Umzug des gesamten Teams mit Assistenten, Statisten und Solisten.

Die kostbare Zeit auf der großen Bühne muss möglichst effizient genutzt werden, und so treibt der Regisseur die ansonsten unsichtbaren Helfer freundlich an, wenn auf der Bühne die Requisiten fehlen, wenn auf der Seitenbühne noch ein Monitor aufgestellt werden muss, ohne den der Solist seinen Einsatz nicht finden kann.

Es gibt zwei Arten von Regisseuren, die „Reder" und die „Zeiger". Tcherniakov gehört zu den „Zeigern". Immer wieder spielt er den Statisten detailliert vor, wie sie auf die merkwürdigen Handlungen der Solisten reagieren sollen. Sergej Prokofjew entwirft in seiner Oper „Der Spieler" kurze, prägnante Motive, die sich an der hypernervösen Atmosphäre in Dostojewskis gleichnamiger Erzählung orientieren. In dem fiktiven Ort Roulettenburg ist eine kleine Gesellschaft verkrachter Existenzen um den Spieltisch versammelt und heillos verstrickt in Liebe, Hass und Ehrenhändel. Für den Regisseur ist dies eine zeitlose Geschichte. „Alles geschieht in einer Art Labyrinth, das an ein Hotel erinnert, wo sich alle unsere Helden treffen. Sie kommen hierher, um ihre Wünsche zu erfüllen. Alle werden von ihren Leidenschaften geführt."

Da ist der General, der verzweifelt auf den Tod seiner reichen Tante hofft, um sich finanziell zu sanieren. Doch die Tante ist quicklebendig und verjubelt ihr Geld am Spieltisch. Da ist der junge Alexej, unsterblich verliebt in Polina, aber er will sich erst erklären, wenn er mit eigenem Geld ein Vermögen gewonnen hat. „Alle Figuren sind davon überzeugt, dass sie das Leben meistern können", erläutert Tcherniakov, „sie möchten mit einer Bewegung die ganze Welt verändern. Aber in Wirklichkeit befinden sich alle in einem Abhängigkeitssystem. Alle sind schutzlos, sowohl von außen als auch von innen – Schutzlosigkeit bei einem sichtbar guten Leben."

Eingesunken in ihre klobigen Sessel sitzen die Menschen im türkisgrünen Hotelfoyer, dessen Gänge ins Ungewisse führen. Sie haben sich eingerichtet in ihrem Unglück und hoffen doch darauf, dass alles einmal besser wird, wenn sie nur sehr viel Geld gewinnen. Das Glücksspiel ist selbstverständlich eine Chiffre für das Leben, das alle Spieler im Griff zu haben glauben. Dabei handelt es sich beim gesamten Personal der Oper um gescheiterte Existenzen.

Wir sehen Alexej, Polina, den General, die Babulen’ka, jeden in einem Hotelzimmer, das auch gleichzeitig ein innerer Keller ist. Niemand ist imstande, die ganze Fläche zu erkennen, das komplette Labyrinth. Alle sind verschlossen, es ist wie in einer geschlossenen Welt, die vom Schicksal gelenkt wird."

Weil Tcherniakov nur Russisch spricht, folgt ihm bei den Proben seine Dolmetscherin wie ein Schatten. Die russischen Solisten verstehen ihn natürlich direkt und lachen noch vor den Deutschen auf der Bühne, die erst auf die Übersetzung warten müssen. Überhaupt wird viel gelacht bei der Arbeit an dieser traurigen Geschichte. Denn Tcherniakov freut sich über jedes gelingende Detail in seiner penibel geprobten Studie über das Leben, und so kann man sein Fazit auch als Selbsteinschätzung verstehen: „Niemand beherrscht irgendetwas. Niemand ist in Wirklichkeit frei.