Frankfurter Allgemeine Zeitung
17. März 2008 

Oper Frankfurt
Lucretia, Inbild der Reinheit

Es muss nicht immer Wagners „Parsifal" sein. Auch Benjamin Brittens Kammeroper „The Rape of Lucretia" taugt mit ihrer Parallele zwischen dem Martyrium einer unbescholtenen Ehefrau aus dem heidnischen Rom um 510 vor Christus und Christi Opfertod als Osteraufführung. Da sich aber das christliche Erlösungsdenken heute kaum noch vermitteln lässt, ist die von zwei Erzählern – dem Male und Female Chorus – getragene christologische Überhöhung schwer zu inszenieren.

Der Bariton Dale Duesing, der sich an der Frankfurter Oper bei seinem Regiedebüt in Rossinis „Viaggio a Reims" im Dezember 2004 sogleich als Regisseur von Rang erwiesen hatte, half sich sinnvoll mit der Erfahrung aus seiner amerikanischen Heimat: der Manipulation fundamentalistischer Evangelisierungsgemeinden durch eifernde Prediger. Während dort die Medienpräsenz der Überredungssteigerung dient, setzte sie Duesing diskret zur zusätzlichen Aufklärung ein.

Krieg im privaten und öffentlichen Raum

Auf Monitoren und Leinwänden an Boris Kudlickas antikisch klarem Halbrund-Raum mit Vorderbühne im Bockenheimer Depot war umso deutlicher zu verfolgen, wie das fassadenhafte Dauerlächeln des Predigerehepaares allmählich in existenzieller Betroffenheit zusammenbricht und wie Vergewaltigung und Traumatisierung Lucretias schöne Gesichtszüge zerstört. Und die Bildschirm-Silhouette des Gewaltherrschers Tarquinius Superbus erschien noch bedrohlicher als der Eindringling auf der Bühne. Doch in dieser Parabel von Liebe, unschuldig ertragener Schuld und Erlösungshoffnung vermied der Regisseur jeden Anflug von Exhibitionismus.

Stattdessen setzte Duesing, der als junger Sänger den Tarquinius noch unter Brittens Leitung verkörpert hatte, mit minutiöser, erhellender Personenführung auf die Verstörungen, die ein Krieg im privaten wie öffentlichen Raum anrichtet. Denn Lucretias Vergewaltigung ist ja auch Teil der Gewaltherrschaft über Rom, mit der Britten, der Pazifist, 1946 auf die Opfer nicht allein des Zweiten Weltkriegs verweist. In jeder Geste, Bewegung und Mimik ließ sich nachvollziehen, wie Tarquinius’ sexuelle Eroberungsgier eine Haus- und Lebensgemeinschaft zerstört – als Pars pro Toto einer ganzen Nation. Solchen, ohne jede Äußerlichkeit mitbedachten und mitinszenierten Hintergründen, aber auch dem psychologischen Tiefenblick des Menschenkenners Duesing verdankte die Premiere ihren dramatischen Sog und ihre Aktualität, die sich auch in Nicky Shaws Kostümen niederschlug.

Gleichwertigen Anteil am Erfolg hatten das von Maurizio Barbacini dirigierte Instrumentalensemble an der linken Flanke der Vorderbühne und ein ausgezeichnetes Sängerteam vorwiegend aus dem Frankfurter Opernensemble. Kaum überbietbar waren die Plastizität und die Farbigkeit, mit denen das Kammerorchester aus Mitgliedern des Frankfurter Museumsorchesters Brittens äußerst dichte, oft klangmalerische, aus zahlreichen musikgeschichtlichen Quellen gespeiste Partitur auslotete.

Vertreibung aus dem Paradies

Peter Marsh war in der Peter-Pears-Rolle des Male Chorus mit markantem, flexiblem Tenor ein fanatischer Kommentator und Prediger, der seine christlichen Überzeugungen geradezu ins Publikum, seine „Gemeinde", schleuderte. Eine mehrdeutige Glanznummer war seine Pantomime von Tarquinius’ Höllenritt zu Lucretia. Anja Fidelia Ulrich assistierte ihm mit flexiblem Sopran als Female Chorus.

Claudia Mahnke bot mit leuchtkräftigem, überaus nuanciertem Mezzo eine packende Charakterstudie der Titelheldin zwischen Eheglück, Verzweiflung und Selbstmord auf blumengeschmückter, von innen leuchtender Treppe – ein lichtumflutetes Inbild der Reinheit trotz Schändung. An Lucretias stimmlich wie darstellerisch anmutigen Gefährtinnen Bianca (Arlene Rolph) und Lucia (Krenare Gashi) war die Vertreibung aus dem Paradies nachzuvollziehen – als Echo auf Lucretias Fall und Sühne, indem sie wie Christus schuldlos ihre vorgebliche Schuld auf sich nimmt.

Die soldatischen Kollegen Collatinus und Tarquinius, ergänzt von Andrew Ashwins frischbaritonalem Junius, legte Duesing als Kontrasttypen an: Lucretias Ehemann als einen menschlich integren Friedensstifter beim Streit der Soldaten im ersten Bild des ersten Akts und als wahrhaft Liebenden, deshalb Verzeihenden im vierten und letzten Bild, wozu Simon Baileys runder, klangschöner Bariton exakt passte; den Eroberer als rücksichtslosen Heißsporn mit Nathaniel Websters entsprechend metallischerem Bariton, der aber auch über die Schmeicheltöne des Verführers verfügt. Insgesamt erwies sich diese überzeugende Neuinszenierung als wertvoller Baustein im Frankfurter Britten-Zyklus.

ELLEN KOHLHAAS

 

Frankfurter Rundschau
13.03.2008

Oper Frankfurt
Der Schrecken der Sanftheit
VON HANS-KLAUS JUNGHEINRICH

Unmöglich, den Schrecken frontal anzugehen. Kurz nach Kriegsende von einem Deutschlandbesuch, der Bergen-Belsen und die Begegnung mit displaced persons einschloss, nach England zurückkehrend, war der junge Benjamin Britten mit der Adornofrage konfrontiert, wie man nach den Erfahrungen des planvollen Massenmords noch eine ästhetische Produktivität betreiben könne. Eine - provisorische, gebrochene, hinfällige, in ihrer Hinfälligkeit aber auch gerade eindrückliche und haltbare - Antwort gab der Komponist mit der 1946 in Glyndebourne uraufgeführten zweiaktigen Oper "The Rape of Lucretia".

Sie behandelt einen vielfach bearbeiteten (und damit gleichsam mythisch gewordenen) Stoff um eine tugendhafte Frau, die sich nach ihrer Vergewaltigung durch den etruskischen Tyrannen Tarquinius in unbeirrbarem Stolz (und trotz eines verständig reagierenden Gatten) selbst tötet. Brittens Textdichter greifen eine Tendenz altkirchlicher Interpreten (wie Augustinus) auf und schieben eine christliche Kommentarebene ein, die in einer scheinbar hilfslosen, künstlich naiven Weise das Gewaltgeschehen begleitet. Ein zu zwei Einzelpersonen individualisierter "Chor" hat diese zwischen Beschwichtigung, Ironisierung und Verfremdung schillernde Aufgabe. Dramentheoretisch bedeutet das eine raffinierte Melange von epischen und dramatischen Theaterelementen, weniger im Sinne Brechts (oder der Strawinsky'schen "Histoire du Soldat", an die man als musikalische Anregungsquelle manchmal denken muss) als in der etwas betulichen englischen Art, mit der alte Damen unter Spitzendeckchen und -häubchen mörderischen Verrichtungen nachgehen.

Glaube ans tonale Material

Der sanfte Schrecken, der indirekte Blick auf das namenlose Entsetzen: eine Annäherung, die irgendwie sich auch mit der realen Banalität des Bösen trifft und eine erste Lösung der vor dem Holocaust kapitulierenden Wahrnehmungsblockade bedeutet. Es ist genau der Weg, der dem fest an die Sprachfähigkeit des tonalen Materials und seine eigene Eloquenz glaubende Musiker Britten noch offen schien. Damit zeigt sich der Autor auf der Höhe eines künstlerischen (und politisch-moralischen) Reflexionsvermögens, das von späteren Katastrophenmusikern nicht übertroffen wurde.

Die Vergewaltigung einer Frau im Zentrum des Stückes demonstriert den Akt in tödlicher Konsequenz. Der Horror dieses Vollzugs scheint für Britten nur dadurch erträglich, dass er konterkariert und "gemildert" wird durch vom Chorpaar unisono intonierte fromme Choralmelodik. Wie wenig Trost die geistlichen Überhöhungs- und Sinngebungsversuche dennoch zu spenden fähig sind, zeigt freilich auch die den Choristen vorbehaltene Finalpassage, in deren Ratlosigkeit die gespenstischen Motive der Verstörung unüberhörbar hineinklingen. Der konziliante Schrecken der Musik wird in Brittens hintersinniger Diktion zu einer schrecklichen Sanftheit, in der noch das Harmlose vom Grauen tangiert wird. So bei dem den ersten Akt beendenden "Good Night" im Schlafgemach Lucretias, einer vermeintlich konventionellen Geste, die überdeutlich die Gewissheit des Kommenden enthält, so dass dem Hörer das Blut in den Adern gefriert. Brittens kammerorchestrale Konzeption (mit 13 teils vehement solistisch-virtuos agierenden Instrumentalisten) war ursprünglich Resultat aufführungspraktischer Beschränkung, erwies sich aber auch als ein tragfähiges Stilprinzip, das Britten noch für seine beiden folgenden Opern "The Turn of the Screw" und "Alobert Herring" anwendete und in sechs formidablen Kirchenopern modifizierte.

Leise bedrohlich

Dale Duesings Inszenierung im Bockenheimer Depot entwickelte den Impakt des Sujets glaubhaft aus der Diskretion eines Abstands, der dennoch die Mitte der existentiellen Verstörung nicht verfehlte. Das Chorpaar (subtil sängerdarstellerisch gewichtend: Peter March und Anja Fidelia Ulrich) kam in der versicherten Fröhlichkeit angelsächsischer Bibeleiferer daher, doch schon bald verlor es die den Stückverlauf womöglich irritierenden lächerlichen Facetten.

Die Dynamik der Vergewaltigungsszene modellierte die Regie auch mit zärtlichen Momenten des erotischen Vorspiels, dessen Drastik der ephebenhafte Tarquiniuas von Nathaniel Webster nicht überzog. Mit dem militärisch akzentuierten Männerterzett (Simon Bailay als zurückhaltender Ehemann Collatinus, Andrew Ashwin draufgängerischer als Junius) korrespondierten die ätherischen Frauenensembles (mit dem Klangzauber von Arlene Rolph und Krenare Gashi). Weit ausschwingend zwischen zart-verletzlicher Lyrik und großer vokaler Expressivität die Lucretia von Claudia Mahnke. Die Kostüme von Nicky Shaw und das Boudoir-Bühnenbild von Boris Kudlicka markierten Gegenwart. Maurizio Barbacini brachte die Partitur, auch mit jähen Einschüssen schroffer Klanggebungen, zu differenziert-dezenter Beredtheit. Und noch die leisesten Töne enthielten die Keime einer Bedrohlichkeit, die immer da war, auch wenn sie sich hinter den Schleiern des Unsagbaren zu verbergen schien.

Oper Frankfurt: 19., 21., 23., 26., 28., 30. März.

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Dokument erstellt am 17.03.2008 um 16:40:02 Uhr
Letzte Änderung am 17.03.2008 um 17:02:24 Uhr
Erscheinungsdatum 18.03.2008

 

Darmstaedter Echo
18.3.2008

Atemloser Ritt zur Schandtat
Musiktheater: Frankfurter Oper zeigt Fanatismus einst und heute: „The Rape of Lucretia" von Benjamin Britten erweist sich im Bockenheimer Depot als erstaunlich aktuell

Von Klaus Trapp

FRANKFURT. Als wollten sie einen Gottesdienst besuchen, so betreten die beiden Erzähler mit Bibeln in der Hand, von Orgelklängen umrauscht, den Zuschauerraum und die Bühne des Bockenheimer Depots in Frankfurt. Damit verweisen sie darauf, dass Benjamin Britten und sein Librettist Ronald Duncan der in heidnischer Zeit spielenden Geschichte um die Schändung der Lucretia einen christlichen Aspekt hinzugefügt haben: Gibt es eine Erlösung durch Christus, der die Sünden der Menschen auf sich nimmt?

Im Bockenheimer Depot hat der amerikanische Sänger und Regisseur Dale Duesing die Handlung um die schöne, tugendhafte Lucretia, die durch den lüsternen Tyrannen Tarquinius Sextus vergewaltigt wird, worauf sie sich selber den Tod gibt, in unaufdringlicher Weise in die Gegenwart verlegt. Denn Fanatismus, Schändung und Unterwerfung des anderen sind Themen, die heute genauso an der Tagesordnung sind wie in römischer Zeit. Bühnenbildner Boris Kudlicka hat dazu eine weiße Rotunde nach antikem Vorbild entworfen, in deren Mitte der Diwan steht, auf dem sich die Vergewaltigungsszene abspielt. Dass die Gegenwart uns trotz des althergebrachten Stoffes einholt, verdeutlichen Monitore, auf denen das Geschehen, manchmal zum Standbild erstarrt, gleichsam in medialer Vervielfältigung mitzuerleben ist.

Trotz aller Deutlichkeit der heiklen Szenen betont Duesings Regie das Gleichnishafte der Vorgänge um Lucretia und Tarquinius. Die – manchmal etwas moralinsauren – Kommentare der beiden Erzähler tragen zur Distanzierung bei. Die Aufführung geht in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln über die Bühne, so dass auch verschlungene Gedankengänge gut zu verfolgen sind.

Benjamin Brittens Musik aus dem Jahr 1946 ist von erstaunlicher Aktualität. Dem kleinen Kammerorchester, das mit je fünf Streichern und Bläsern, Harfe, Schlagzeug und Klavier besetzt ist, ringt der Komponist neben impressionistischen Farben auch dramatische, kühne Attacken ab wie etwa die Schilderung des atemlosen Ritts, der Tarquinius ans Ziel seiner verbotenen Wünsche bringt. Anleihen bei barocken Vorbildern gibt es für die trockenen, vom Klavier begleiteten Rezitative und für geschlossene Musiknummern wie die vom Englischhorn begleitete Abschiedsszene der Lucretia oder die eindrucksvoll gesteigerte Passacaglia, die auf ihren Selbstmord folgt und die Handlung künstlerisch überhöht.

Maurizio Barbacini am Pult setzt die diffizile Partitur mit Musikern des Frankfurter Museumsorchesters genau und hellhörig um, dabei die Sänger geschickt führend. Die Sopranistin Claudia Mahnke zeichnet mit biegsamer Stimme und wandlungsfähigem Spiel ein bewegendes Porträt der missbrauchten und um ihre Ehre gebrachten Titelheldin. Bariton Nathaniel Webster verleiht dem Prinzen Tarquinius stimmlich und darstellerisch unheimliche Präsenz. Als Erzähler, die das Geschehen teils berichtend, teils deutend begleiten, wirken die Sopranistin Anja Fidelia Ulrich und der Tenor Peter Marsh prägnant und doch unaufdringlich. Auch die weiteren Partien der Offiziere und Mägde sind überzeugend und stimmig besetzt. Beifall mit Bravos nach zweieinviertel Stunden: Beweis dafür, dass der Oper Frankfurt eine lohnende Wiederbelebung gelungen ist.

Die nächsten Vorstellungen sind am Mittwoch (19.), 21., 23., 26., 28. und 30. März, jeweils um 20 Uhr. Karten: 069 1340400.

 

OFFENBACH POST
18.3.2008

Fanal wider die Gewalt
Benjamin Brittens Kammeroper "The Rape of Lucretia" im Bockenheimer Depot


Eine kurze Geschichte der Gewalt: Claudia Mahnke
als unbeugsame Lucretia auf der Depot-Bühne.
Foto: Aumüller

So flüchtig ist Schönheit, heißt es harmlos auf einem Video im Bockenheimer Depot, wo eine grausame Geschichte mit Spannung verhandelt und christlich ummantelt wird. "The Rape of Lucretia" macht Frankfurt nach gründlichem Vorlauf endgültig zur Hauptstadt der Benjamin-Britten-Pflege.

Einen originellen Ansatz fürs zeitlose Fanal wider die Gewalt fand US-Bariton Dale Duesing in seiner zweiten Regiearbeit für die Oper Frankfurt, wohl von der ehemaligen Trambahnhalle inspiriert. Wie eine Predigt bigotter Menschenfänger mutet die aktionsreiche Kammeroper an, deren Musik, bei Mauricio Barbacini und einem Kammerensemble des Opernorchesters in besten Händen, die sakrale Sphäre stützt und einem die Kehle zuschnürt. Zumal dem Team um die herausragenden Claudia Mahnke als unbeugsame Lucretia und Peter Marsh, ein aalglatter Spielmacher, die schnellen Übergänge zwischen harter Aktion und schier atemloser Kommentierung ideal, weil nahezu unmerklich gelingen.

Sie wird nicht geraubt, die treue römische Generalsfrau Lucretia wird geschändet. Vergewaltigt von dem triebhaften etruskischen Prinzen Tarquinius. Ob dieser Untat in ihrem eigenen Hause bringt sie sich vor den Augen ihres Mannes um. Der Text zu Brittens Oper stammt von Roland Fredereck Duncan, der wiederum auf André Obeys Tragödie "Le Viol de Lucrèce" von 1931 basiert. Obwohl in vorchristlicher Zeit handelnd, gibt es bei Britten Hoffnung auf Erlösung durch christliche Gnade. Ein Glaube, den Duesing angesichts vieler zweifelhafter Propheten unserer Zeit durchaus kritisch bis ironisch hinterfragt.

Ein Vorhang verdeckt das unschuldsweiße Schlafzimmer mit antiken Büsten und dem Bett zentral wie ein Altar (Ausstattung: Boris Kudlicka). Er in Anzug und Krawatte, sie im Kostüm, lockt ein Paar mit scheinheilig-zuckersüßem Lächeln in die Kirche, das Gesangbuch in der Hand, auch auf den Monitoren am Rande der Zuschauertribüne präsent, die ein Kameramann füttert. Ein Gottesdienst der etwas anderen Art, man kennt sich, man begrüßt sich, während die Orgelklänge in ostinate Bewegungen des Kammerorchesters aus 13 Solisten übergehen, die den Schleier der Barmherzigkeit noch verdichten.

Brechts episches Theater ist nahe, wenn Peter Marsh, als tenoraler Drahtzieher auch stimmlich eine Idealbesetzung, die Barhocker arrangiert, auf denen die als aktuelle Militärjunta gekennzeichneten Generäle (Kostüme: Nicky Shaw) samt Prinz Tarquinius Platz nehmen, um im Alkoholdunst über ihre Frauen herzuziehen, Ausgangspunkt der schlimmen Geschichte. Allerdings ohne Verfremdungseffekt und Belehrung nur durch den christlichen Überbau. Eher versuchen Marsh und die mitfühlende Sopranistin Anja Fidelia Ulrich, jene von Brecht verlangte Distanz zur Szene zu überwinden. Durch intensive gesangliche Berichterstattung, die in vom Klavier begleiteten Rezitativen auch im rhythmischen Sprechgesang einen Rap vorwegnimmt und den Akteuren auf die Pelle rückt.

Das mündet musikalisch in ein polterndes Trinklied der willigen Generäle, die erst nach Lucretias Freitod zum Aufstand bitten. In Freud und Leid stimmlich stark präsent und typengenau: die Baritone Andrew Ashwin als Junius, der den Prinzen zur schnöden Tat anstachelt, und Simon Bailey als Lucretias um Haltung ringender Ehemann.

Das große Orchester wird nicht vermisst, so Legato-innig agieren Streicher und Bläser, wobei das Bedrohliche in dem wie in Auflösung begriffenen Akkord-Chroma selbst pianissimo noch greifbar scheint. Das Gute-Nacht-Lied der vor Ankunft des Prinzen noch fröhlich palavernden Frauen spiegelt bange wie erwartungsvolle Gefühle. Barbarisches Schlagwerk, wenn die Szene außer Kontrolle gerät, wobei die Vergewaltigung nicht ausgeblendet wird. Der Wandel vom süßen Mädel zur tief verletzten Frau rührt bei Lucretia zutiefst, der Claudia Mahnke einen bis in die Spitzentöne hoch emotionalen Mezzosopran leiht. Das ungeheuerliche Geschehen versucht ein milder a-capella-Gesang zu bannen, in den auch Tarquinius einstimmt, den Bariton Nathaniel Webster als Haudrauf gibt, der nichts anbrennen lässt, einzig zögernd, wenn er die schöne Frau im Schlaf betrachtet.

Eine barocke Passacaglia tönt nach Lucretias Selbstmord. Aus dem Purpurgewand fließt Blut, ebenso aus den Handflächen. Während die Unselige auf den mit Blumensträußen geschmückten Stufen Christi Passion wie in einer Pieta erleidet, tönt ein wundersamer Choralhymnus, in den auch Freundinnen, die Sopranistinnen Arlene Rolph und Krenare Gashi, empfindsam einstimmen. So griffig und immer spannend kann moderne Oper sein. Und so doppelbödig ihre Botschaft, wenn man die richtigen Leute ranlässt.

KL. ACKERMANN

Noch am 19., 21., 23., 26., 28. und 30. März.

 

Wiesbadener Kurier
18.03.2008

Packende Vergegenwärtigung eines problematischen Werks
Benjamin Brittens Oper "Rape of Lucretia" in Dale Duesings Sicht im Bockenheimer Depot / Dirigent: Maurizio Barbacini

Von Siegfried Kienzle

FRANKFURT Für die Regie wird "The Rape of Lucretia", Benjamin Brittens zweite Oper aus dem Jahr 1946, oft zum Problemfall. Diese Mischung aus Oratorium mit zwei singenden Kommentatoren und epischem Musiktheater, dieses Ineinander von römischer Frühgeschichte und christlicher Verheißung lässt sich kaum zu einer schlüssigen Konzeption fügen.

Für die Oper Frankfurt, mittlerweile das Zentrum der Britten-Rezeption in Deutschland, hat der Regisseur Dale Duesing, im Bockenheimer Depot das Werk so packend vergegenwärtigt, dass er noch aus den Widersprüchen dramatische Funken schlägt. Zentrum der Aufführung ist der Tenor Peter Marsh als Chorist. In der Partitur vorgesehen ist da ein Beobachter, der distanziert die Vorgänge kommentiert. Marsh hingegen zeigt unerwartete Facetten. Er vermittelt den anrührenden Klageton über das Verbrechen, das der Etruskerprinz Tarquinius an Lucretia begeht. Er ist aber auch der Einflüsterer, der Treue und Standhaftigkeit der Frau auf die Probe stellen will, und gleich darauf ein fanatischer Prediger, der erregt über die Szene flitzt und Lucretias Vergewaltigung durch Anklagen ins Publikum politisch instrumentalisiert. Als weibliche Choristin ist Anja Fidelia Ulrich die beschwichtigende Gegenstimme.

Boris Kudlicka hat ein weißes Podium mit Stufenbau hingestellt. Wie auf einem Parteitag kann man die Protagonisten in Großaufnahme auf Monitor beobachten. Die eigentliche Handlung konzentriert Duesing, der als Bariton noch selbst mit Britten zusammengearbeitet hat, wie ein fernes Zitat auf die durch einen Vorhang abgetrennte Hinterbühne.

Die Römer der Antike sind Militärs von heute in englischer Uniform und rotem Barett. Am Tresen einer Bar entwickelt sich die Männerkumpanei zwischen dem Macho Tarquinius (Nathaniel Webster in geflecktem Kampfanzug), dem Zyniker Junius (Andrew Ashwin) und dem General Collatinus (Simon Bailey), der so stolz ist auf die Treue seiner Frau Lucretia. Junius, selbst betrogener Ehemann, treibt Tarquinius an, Lucretia mit ihrer gerühmten Standhaftigkeit zu testen. Dass dieser Junius, Urheber der Vergewaltigung, später das Verbrechen zum Volksaufstand gegen die Etrusker und zum eigenen Aufstieg nutzt, ist eine zusätzliche Pointe im politischen Tagesgeschäft.

Nach dem vom Dirigenten Maurizio Barbacini prachtvoll gesteigerten "Ritt nach Rom" erreicht Tarquinius die Sphäre der Frauen. Mit Harfenklang und hohen Streichern schafft Britten hier ein völlig neues Klangbild. Lucretia (Claudia Mahnke) nimmt Tarquinius als Überraschungsgast auf. Nachts fällt der Mann über die Wehrlose her. Raffiniert und bewundernswert subtil setzt Britten in diesem Schlussstück immer neue Klangkontraste. Zunächst ein Hymnus der Dienerinnen (Arlene Rolph, Krenare Gashi), die arglos dem Tag entgegenjauchzen. Dann Lucretias Bekenntnis: Wie Mahnke die starre Monotonie zur Verzweiflungsszene steigert und in einer Blumenarie den Entschluss zum Selbstmord fasst, hat die Wucht einer antiken Tragödie. Dass sie in der Haltung des Gekreuzigten auf den Stufen hingestreckt stirbt, ist allzu plakativ.

Exzellent sorgt Barbacini mit dem Dutzend Instrumentalisten für rhythmische Feinzeichnung und eine expressive Schluss-Passacaglia. Stürmischer Beifall.

 

Der neue Merker
16. März 2008

Frankfurt:"BRITTENS LUCRETIA" bestens „gerapt"

Eine wunderschöne „Vergewaltigung" der attraktiven „Lucretia" bietet das Bockenheimer Depot. Ästhetisches, geschicktes Bühnenbild. Mit Geschmack auch die Requisiten wie Bar, Stühle und Blumenmeer. Passende Kostüme, noch passenderer Gesang. Spannung, Farbenreichtum, Sprachseligkeit der vierzehn Musiker sowie der Mini-Chöre unter dem spezialisierten Dirigenten Maurizio Barbacini. Alles Bravi- und Rarissimo!

Ulrich Springsguth

Der neue Merker
Bockenheimer Depot am 16.3.2008

Oper Frankfurt
Benjamin Britten The Rape of Lucretia

Unerträglich didaktisch kommt einem heutzutage Benjamin Brittens Kammeroper The Rape of Luctretia vor. Dramaturgisch so einfach wie altbacken und inhaltlich mehr als fragwürdig konstruiert Textdichter Duncan den historischen Lucretiastoff um Keuschheit, Vergewaltigung, Selbstmord und Schuld mit merkwürdig strengen Moralkommentaren. Ein prächristlicher Tragödienstoff wird mit religiöser Rhetorik heillos überfrachtet und entstellt; kommentierende Chorführer flüstern überflüssige Regieanweisungen. Warum soll man dieses qualitativ bessere Schultheaterstück 2008 noch in Szene setzen? Immerhin ist da Meister Brittens Musik, die aber auch ihrerseits – inzwischen 62jährig- sehr in die Jahre gekommen und in ihrer korsettstrengen Anordnung unterleibslos und zahnlos geworden klingt. Erotische Stimmungszeichnungen und dionysischer Klangrausch- beides wäre hier gefordert- sind nie die Stärken des großen Briten gewesen. Stattdessen mahnt er kunstgebildet Didos Abschiedspassacaglia aus der Oper Purcells an, ohne die barocke Fleischlichkeit und Tonlust des 500 Jahre älteren Einakters zu erreichen.

Die Oper Frankfurt stellt dieses Werk, offenbar in einer riesigen löblichen „Gesamtwerkschau" des Komponisten, jetzt im reizvollen Raum des Bockenheimer Depots vor.

Dale Duesing als Regisseur gelingt mit Hilfe eines strategisch glücklichen Griffs, die Rahmenhandlung in die Evangelikalen Kirchen Amerikas zu verlegen, dem ständigen Zeigefinger einen fragwürdigen Unterton zu geben. Kirche, Glaube und Moral erscheinen dadurch im Zwielicht, sodass Unsäglichkeiten im Text nicht platt transportiert werden müssen. Boris Kudlickas kaltes, neo-klerikales Ambiente, das aus Bibelhalle und Schlaftempel besteht, und Nicky Shaws klare Kostümsprache unterstützen dabei bestens die Regieidee. Einzig die Vergewaltigungs- Schlüsselszene gerät zu keusch stilisiert, fast als interaktives Liebesspiel, so dass man geneigt ist, dem Täter mildernde Umstände einzuräumen. Zu sanft und romantisch lässt sich Lucretia im Schlaf überrumpeln, bestraft den fast zärtlichen „Eindringling", der sich zudem abends zuvor brav angekündigt hat, lediglich mit einer Ohrfeige. Da damals, wie im Text berichtet, alle anderen Frauen Roms untreu waren, ist ihr Suizid nach diesem Erlebnis in der Inszenierung schwer nachvollziehbar.

Frankfurts Sängerriege kann sich auch diesmal wieder hören und sehen lassen: Höchstes Niveau bietet in darstellerisch großartiger Hingabe sowie in vollmundiger Mezzosopranfülle Claudia Mahnke als Lucretia. Ihre Ausdruckspalette von der verspielten, den Gatten erwartenden Frau bis hin zur in Todeskrämpfen zuckenden Selbsttötung ist grandios. Aber auch „Prediger" Peter Marshs absolut sicher geführter heller Tenor (Male Chorus) lässt in seiner feinen Nuancierkunst mehr als aufhorchen. Simon Bailey gibt dem Collatinus bassbaritonale Solidität, während Nathaniel Webster eher einen allzu empfindsamen Machtmann Tarquinius spielt. Sein hoher lyrischer Bariton punktet souverän. Und es überzeugen auch alle anderen Partien: Anja Fidelia Ulrich als Female Chorus mit dunkel-lyrischem Gewicht und glattem Gattinnencharme, Andrew Ashwin als draufgängerisch- jungenhafter Junius mit kräftiger, etwas erdiger Stimme, Alrene Rolph als abgeklärte, geradeheraus-singende Dienerin Bianca und Krenare Gashi als höhensichere, bisweilen eigenwillig timbrierte Lucia.

Maurizio Barbacini leitet ein konzentriert spielendes Kammerensemble des Frankfurter Museumsorchesters mit etwas zu bedeutsamem Schlag für die filigranen Klangentfaltungen.

Die Oper Frankfurt gibt das Bestmögliche, diesem Opern-„Eunuchen" Leben einzuhauchen, aber wenn die potente Substanz eines tragfähigen Stückes fehlt, nützen alle Erregungsversuche nur bedingt.

Damian Kern