Frankfurter Rundschau
5. Oktober 2007

Kampf gegen Sandburgen
Der katalanische Regisseur Calixto Bieito zeigt seinen neuesten Streich "Tirant lo Blanc" am Schauspiel Frankfurt

VON HENDRIK JUNG

Calixto Bieito ist wieder in der Stadt. Vier Jahre, nachdem er an der Oper Frankfurt "Manon" inszenierte, bringt er dieses Mal seine Adaption des großen katalanischen RitterRomans "Tirant lo Blanc" auf die große Bühne des Schauspielhauses.

Das weckt beim Publikum die Erwartung nach einem handfesten Skandal unter verschwenderischer Hinzufügung von Körperflüssigkeiten, so wie bei seiner Inszenierung der "Madame Butterfly" in Berlin, die er in ein asiatisches Zentrum für modernen Sextourismus verlegte. Oder wie bei seiner "Entführung aus dem Serail" an gleicher Stelle, in der er sehr eindringlich die Folter thematisierte. Oder wie bei seiner "La Traviata" in Hannover, bei der Beate Uhse für Kostüme und Requisite hätte verantwortlich zeichnen können. Und tatsächlich: Beim Pressegespräch im Schauspiel Frankfurt verweist Bieito auf ein Zitat des Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels - Mario Vargas Llosa -, der über die Romanvorlage äußerte: "Man lebt, um zu genießen, und man genießt, indem man tötet, sich herausputzt und vögelt, in dieser Rangfolge."

Wen wundert es da, dass auf den Probenfotos nackte, zum Teil mit blutroten Flecken übersäte Oberkörper zu sehen sind. Doch Calixto Bieito nimmt für sich in Anspruch, was wohl jeder Regisseur für sich in Anspruch nehmen würde: "Ich habe nichts gegen klassische Aufführungen, aber ich habe auch das Recht, so zu inszenieren, wie ich das möchte." Und dazu gehören für ihn in diesem Fall zahlreiche Anspielungen auf das moderne Katalonien, etwa in Person von Salvador Dalí, genauso wie ausgelassene Feste und der Verzicht auf die religiösen Aspekte des im 15. Jahrhundert entstandenen Romans, der zu Zeiten der früheren Kreuzzüge spielt.

"Tirants Zeit in Afrika, wo er tausend blutige Schlachten schlägt, wird in den vergangenen Jahren neu interpretiert, nämlich als Verlust seines Verstandes. Das wäre auch ein ganz falsches Signal, das so auf die Bühne zu bringen. Wir haben als Metapher den Kampf gegen Sandburgen gewählt." Bieito ist sich also der besonderen Brisanz des religiösen Aspekts sehr wohl bewusst.

Außerdem legt er natürlich wert darauf, dass seine Inszenierung kein Ersatz für die Lektüre des umfangreichen Romanwerks sein kann. Immerhin habe er mit seinem Ensemble, der Companya Teatre Romea, fast zwei Jahre lang gebraucht, um die Inszenierung zu erarbeiten. Wie so oft hat Alfons Flores für die Bühne gesorgt und Carles Santos hat eigens Musik dazu komponiert. "Die Frage war ja auch, was ist das eigentlich für ein Stück? Theater, Kantate, Oper oder Installation?" Die Antwort, die er mit seinem Ensemble darauf gefunden hat, ist eine Collage, in der die für die Handlung wichtigsten Szenen berücksichtigt werden. "Das Ergebnis ist ein sehr sinnliches Erlebnis. Ich empfehle deshalb nicht immer nur die Übertitelung zu lesen, sondern einfach mal dem zu lauschen, was auf der Bühne passiert", fordert Bieito die Zuschauer auf.

Schließlich spiegele der Roman unser modernes Leben durchaus wieder, weil es sich um ein sehr hedonistisches Werk handele. "Damals hat das die Menschen befreit mit den blutigen und den erotischen Szenen. Sinnlichkeit ist ja von entscheidender Bedeutung. Erotik ist etwas sehr Positives. Nicht die Erotik der Werbung, sondern jene, die Grundlage des Lebens ist. Und was ist schon dagegen einzuwenden, eine hübsche Brust auf der Bühne zu zeigen. Das ist doch keine Pornografie, oder?"

So weit der Einblick in sein Seelenleben, respektive in seine rhetorischen Fähigkeiten. Wie dem auch sei, eines ist klar: Man lebt, um zu genießen - auch Calixto Bieito.

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Dokument erstellt am 05.10.2007 um 00:04:02 Uhr
Erscheinungsdatum 05.10.2007 | Ausgabe: R2NO | Seite: 13

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung
08. Oktober 2007

„Tirant lo blanc"
Wenn der Tölpel grunzend über den Laufsteg rennt

Von Tilman Spreckelsen

Dass der Anschein von Transzendenz in manchen Köpfen unter Generalverdacht steht, ist kein Grund, die Besitzer der Köpfe zu beneiden. Eher steht man ein bisschen erstaunt angesichts des Furors, der sie packt, wenn es darum geht, vermeintlich festgefügte Vorstellungen zu unterminieren. Nehmen wir nur das Mittelalter: Weil frühere Generationen mutmaßlich zu einem idyllisierten Bild der Epoche neigten, präsentiert man seit einigen Jahrzehnten ein dezidiert hartes, stinkendes, grausames Mittelalter mit Rittern, die im Blut waten und im Winter in ihren ungeheizten Burgen frösteln, mit Jauchegruben an jeder Straßenecke und finsterster Willkür, ausgeübt von geistlichen wie weltlichen Herren.

Vielleicht muss man die Dramatisierung, die Calixto Bieito an dem spätmittelalterlichen Ritterroman „Tirant lo Blanc" unternahm und jetzt in Frankfurt präsentierte, in diesem Licht sehen. Bloß keine Romantik, bloß keine Helden stand als unausgesprochenes Motto über dem Versuch, den 1800 Seiten schweren katalanischen Klassiker, den schon Cervantes aufs höchste lobte, in eine dreistündige Aufführung zu pressen.

Dem Kaiser gegen den Sultan helfen

Zum Glück liegt das kurz vor der Entdeckung Amerikas beendete Werk von Joanot Martorell seit diesem Herbst in der Übersetzung von Fritz Vogelsang auf Deutsch vor, wir können uns also, rechtzeitig zum Buchmessenschwerpunkt, ein Bild von diesem großartigen, kühnen, raffinierten und ausgesprochen witzigen Roman machen. Kurzgefasst ist es die Geschichte des Ritters Tirant lo Blanc, der nach Konstantinopel eilt, um dem Kaiser gegen den Sultan zu helfen. Dabei verliebt er sich in des Kaisers Tochter Karmesina, es wird sogar geheiratet, dann aber kommt der Ritter zu Tode, und die bekümmerte Karmesina folgt ihm nach.

In Bieitos Version wird daraus eine muntere Revue, es wird geprügelt, gebrüllt, ausdauernd geliebt, die Damen entblößen sich eher unmotiviert, die Herren auch, ein paar eingespielte Videos verfremden angestrengt das Geschehen auf der schmalen Bühne, die ins Publikum ragt wie ein Laufsteg, und weil das offenbar noch nicht reicht, sitzt oben am Rand eine Blinde hinter der Hammondorgel, die singt und sich dann ebenfalls auszieht. Dann zerteilt einer mit bloßen Händen ein abgehäutetes Kaninchen, und dass es mit der Transzendenz an diesem Abend wieder nichts werden wird, deutet sich an.

Es fehlen Glanz und Pracht

Und der Glanz des Mittelalters? Konstantinopels Pracht? Das darf nur mattes Zitat sein, wenn nämlich zur prächtig angelegten Hochzeit der Bühnenlaufsteg zum wirklichen wird, das Motto heißt Modenschau, man schreitet, dreht sich zum Publikum und am Ende fängt der Kaiser neckisch den Brautstrauß.

Tirant aber ist hier wie in jeder Szene der Erztölpel, zu dem die Regie ihn lustvoll macht. Sein allererster Kampf mit der schönen Flor de Cavalleria, der immerhin glücklich von Bieito dazuerfundenen Verkörperung ritterlicher Ideale, geht verloren, und sonderlich viel an Siegen kommt nicht nach, für große Sprüche aber ist er jederzeit gut. Der eine oder andere im Publikum mag feixen, wenn der Lockenkopf mit offenem Hemd, den Schuh baumelnd um den Hals, grunzend über den Laufsteg rennt, wenn das Stück immer wieder zur Oper wird, in der die Schauspieler zeigen, dass sie ihre Stimme wie ihren Körper beherrschen - an ihnen liegt es nicht.

Text: F.A.Z., 08.10.2007, Nr. 233 / Seite 50
Bildmaterial: David Ruano

 

Frankfurter Neue Presse
08.10.2007

Ein Kollege von Don Quijote

Im Schauspiel Frankfurt stimmte ein Gastspiel des Ritterstücks „Tirant lo Blanc" unter der Regie von Calixto Bieito) auf das Buchmesse-Land Katalonien ein.

Von Marcus Hladek

Was hat ein Ritter in seiner Rüstung zwischen Badenixen verloren? Immerhin handelt es sich bei Tirant dem Weißen um eine Gestalt vor historischem Hintergrund. Im 13.–14. Jahrhundert griff Katalonien, Schwerpunktregion der Buchmesse, in die Levante aus. Katalanen bekämpftendie Türken vor Konstantinopel, was dessen Fall (1453) und anhaltende Besetzung verzögern half. Joanot MartorellsRoman (1490), der den amourösen Ruhm seines Kriegshelden eher untergräbt, galt Cervantes („Don Quijote") als schönstes Buch der Welt und bis heute als erster, vielleicht bester Roman in Katalanisch.

Wozu also die Bikinis?In Calixto Bieitos Dramatisierung haben sie durchaus ihren Platz. Er und Marc Rosich verwandeln die 1200 Seiten des Romans in eine Spielfassung von gut drei Stunden. Bieito setzt das Ergebnis auf einem T-förmigen Laufsteg mit rotem Teppich, Projektionswand, Monitoren und Orgelbegleitung durch eine „Blinde" (eine von vier Erzählfiguren) als monumental-surreales Bühnen- und Singspiel um. Neben Schauspielern beteiligen sich Opernsänger daran, die kräftig-dissonante bis atonale Bühnenmusik von Carles Santos darbieten. Den heiteren und blutigen, individuell-realistischen und fantastischen Geist des Romansspiegelt Bieieto, indem er manche Episoden mit Elementen aus Barcelonas heutigem Alltagsleben versetzt. Das können neben lukullischen Lüsten wie vom Markt (Tirants Hochzeit mit der byzantinischen Prinzessin Carmesina entwickelt sich mit Hilfe von Cateringwagen) auch Anzugträger oder Damen im Bikini sein.

Wenn Bieito den im maurischen Nordafrika strandenden Tirant (Joan Negrié) so bebildert, geht es sogleich auf der Bühne weiter, wo er siegreich Heiden bekehrt. Die junge Schönheit Beth Rodergas als Carmesina wiederum trägt Tattoos und Rastazöpfe, Belén Fabra führt ihre Beinpanzer als „Blume des Rittertums" gar hochhackig spazieren. Bei allen Anachronismen bringt die Regie die Fülle der Figuren in Schlachten, Duellen, Banketten, Liebeshändeln in eine lineare Ordnung, die das Ritterpathos mal hoch zu Ross bedient, mal mit Seitenblick aufs Schaukelpferd bricht.

Tirants Vorbild war übrigens ein deutschstämmiger Ritter, und Calixto Bieitos Frankfurter Schlussbild mit der Altarrückwand erinnert an Dürers „Ehrenpforte". Schöner Ausblick auf Katalonien, dessen Leichtigkeit bedeutungsvoll verzaubert.

 

 

Il giornale della musica
8 ottobre 2007

Catalani sul Meno

Da una realtà culturale fra le più vivaci ed innovative nel panorama europeo, la colorata carovana dei teatranti catalani arriva a Francoforte e dintorni in occasione della Fiera Internazionale del libro. A Darmstadt, Enric Palomar ripropone la raffinata "Juana" e Carles Santos presenta l'iconoclasta performance "El fervor de la perseverança". A Francoforte successo per la barocca e vitale trasposizione teatrale di Bieito del "Tirant Lo Blanc".


Dall'alto in senso orario: Ursula Hesse von den Steinen in "Juana"; Claudia Schneider e Anna Ycobalzeta in "El fervor de la perseverança"; una scena di "Tirant Lo Blanc".

L'opera da camera "Juana" inaugura la piccola ma significativa rassegna di teatro musicale catalano contemporaneo allo Staatstheater di Darmstadt. Lo spettacolo è ripreso nell'allestimento originale di Halle coprodotto col Liceu di Barcellona di un paio di stagioni fa. Composta per un piccolo organico di sei strumenti e sei cantanti, la raffinata partitura di Palomar combina elementi di modernità e la tradizione delle forme chiuse e dei discreti folclorismi. Carlos Wagner illustra con semplicità ed eleganza il libretto in castigliano di solido impianto narrativo scritto da Rebecca Simpson, da anni attratta dalla figura di Giovanna la Pazza.

Barocca e vitalissima la trasposizione teatrale di Calixto Bieito e Marc Rosich del romanzo cavalleresco "Tirant Lo Blanc" del valenciano Joanot Martorell ospitato dallo Schauspiel di Francoforte. Per raccontare le picaresche vicende del cavaliere Tirant, Bieito costruisce una sacra rappresentazione oscena e blasfema sui corpi e con le voci dei formidabili attori del suo Teatre Romea, fra eccessi visionari e crudeltà gastronomiche alla Rodrigo García. Fondamentale l'apporto dell'eteroclita partitura per voci (bellissime) e organo composta dal valenciano Carles Santos, sberleffo grottesco alla follia del mondo.

Santos è anche l'autore di "El fervor de la perseverança", soirée dada fra performance e concerto liederistico. Con la complicità di due cantanti e un'attrice, Santos contamina classici per una riflessione divertita e iconoclasta che sorprende e diverte per il continuo cambio di prospettiva e di senso.

Si continua con la prima assoluta dell'opera da camera "La Cuzzoni" di Agustí Charles su libretto di Marc Rosich e con "El saló d'Anubis", grande spettacolo di opera e magia di Toni Rumbau con musiche di Joan Albert Amargós.

Stefano Nardelli