Der neue Merker
24.11.2007

München Tristan und Isolde
Die Wagner-Oper wurde am Uraufführungsort neu geboren

Das passiert immer wieder, wenn in einer stimmigen Inszenierung eine Besetzung zusammenkommt, die das Werk bis in seine Tiefen auslotet und so beglückend darbietet, dass man es zum ersten Mal zu erleben meint.

Kent Nagano machte mit dem Vorspiel bereits klar, dass er sich Wagners opus summum in dieser seiner 4. Münchner „Tristan"-Aufführung bereits einverleibt hat. Prachtvoll spielende Streicher ließen die Wagnersche Gefühlswelt schon hier in berückender Fülle sich öffnen, bestens assistiert von den Holzbläsern, die Trauer und Sehnen klangschön versinnbildlichten, und dem kurz, aber Höhepunkt-trächtig eingesetzten, machtvollen Blech, das für heroisches Aufbäumen zuständig war. Eine unheimliche Lebensintensität, die uns immer wieder aufrüttelte und emotionell überwältigte, prägte den ganzen Abend. Rauschhafte orchestrale Aufschwünge lieferte das Bayerische Staatsorchester, jedoch herrschte eine so wunderbare Homogenität zwischen Graben und Bühne, dass auch die Singstimmen optimal zur Geltung kamen. Eine ganz offenbare Freude am gemeinsamen Singen und Musizieren ließ alle Schwierigkeiten der Partitur vergessen. Die subtilsten Momente kamen ebenso berührend wie die prometheischen Höhepunkte.

Anfänglich – vor allem mit blöden Schlagzeilen - viel gescholten, gilt die Inszenierung von Peter Konwitschny unter Insidern längst als eine seiner besten Arbeiten. Sie ist - in der durchwegs ästhetischen Ausstattung von Johannes Leiacker - ungemein einfühlsam und ideenreich. Grundbedingung für ihre Wirksamkeit ist jedoch ein Sänger-Team, das die Intentionen des Regisseurs umsetzen kann.

Ein tagheller 1. Aufzug, der sogar wirklich auf einem Schiff spielt, ermöglichte es dem Zuschauer, mit freiem Auge alle Gefühlsbewegungen allein schon von den Gesichtern der Darsteller abzulesen, was jedoch auch in den etwas dunkler gehaltenen, aber stimmungsvoll ausgeleuchteten Folge-Akten der Fall ist. Die leichte Wolkenbewegung am blauen Himmel deutet auf die innere Unruhe der agierenden Personen. Die Liegestühle, in denen Isolde und Brangäne ruhen, und der junge Seemann, der den beiden Damen Getränke serviert, repräsentieren die reale Welt. In Akt II und III gibt es nur mehr „Räume", von Farbe und Musik erfüllt. Konwitschniys wohl schönste Idee ist die optische Gegenüberstellung zweier Welten: die erhöhte Spielfläche für die „normale" Handlung, die sich durch starke Farbigkeit auszeichnet, und davor und darunter das dunkel-nächt’ge Land, in welches die Liebenden im 2. und 3. Akt eintreten: Sie legen ihre „Tagesgewänder" ab und schreiten in einfachen, bodenlangen schwarzen Kleidern über eine schwarze Treppe herab in den halbdunklen Vordergrund, wohin ihnen – der Gang in die Unterwelt? – als einziger König Marke folgt, um die beiden wieder hinaufzuholen ins irdische Leben. Am Schluss der Oper tritt der tote Tristan mit Isolde vor den Hauptvorhang heraus, kniet zu ihren Füßen und blickt lächelnd zu ihr auf ("Mild und leise, wie er…"), während sie ihren „Liebestod" singt. Zu den Schlusstakten öffnet sich der Vorhang nochmals, um die Gräber der beiden zu zeigen, vor denen trauernd Brängäne und Marke stehen. Doch die Liebenden sind inzwischen ja unsterblich geworden …

Eine tolle Idee ist auch, dass beim Auftritt Melots, Markes etc.im 2.Akt plötzlich das Licht im Zuschauerraum angeht und ein greller blauer Spot uns blendet – der „Tag".

Entbehrlich wäre der Rasierschaum auf Tristans Gesicht, zumal, wenn er dann vor Isolde tritt. Kurios: Das zugehörige Messer wird zum Schwert-Ersatz und dient am Ende des 2. Akts sogar als die Waffe, mit der Tristan sich selbst die tödliche Wunde zufügt. Überflüssig sind auch im 3.Akt die an die Rückwand des kahlen Innenraums projizierten Dias, vor allem, wenn man so starke Sängerpersönlichkeiten zur Verfügung hat, deren Stimmen und Körper weit, weit mehr aussagen.

Im Mittelpunkt stand ein – auch optisch - neues „Traumpaar" für die Titelrollen. Nachdem die erkrankte Waltraud Meier bereits bei der 2. Vorstellung der Serie nach dem 1. Akt die Walstatt hatte verlassen müssen, kam Linda Watson 2 Akte und eine ganze Vorstellung vor ihrem geplanten Münchner Isolden-Debut zum Einsatz. Dass das ihre absolute Lieblingsrolle ist, brauchte sie nicht erst nach der Vorstellung verbal zu bekräftigen – sie war in Erscheinung, Spiel und Gesang „dies wundervolle Weib", das nicht nur Tristan begehrenswert erscheinen muss - eine sowohl königliche als auch liebevolle Isolde, ohne die mindesten stimmlichen Probleme, mit vielsagender Gestik, Wort- und Tonvermittlung. Sie vermochte, zusammen mit dem wunderbaren, ganz in der Rolle aufgehenden John Treleaven als Tristan, ganz klar Konwitschnys Idee zu realisieren, dass die beiden ja schon lange vor dem Genuss des Liebes-/Todestranks eins sind. „Todgeweihtes Haupt, todgeweihtes Herz" oder „Er sah mir in die Augen" wurde ebenso zur indirekten Liebeserklärung wie Isoldes Morold- und Marke-Erzählung; seine Ausflüchte in die „Sitte" und ins „Schweigen" desgleichen. Das doppelbödige „Hart am Ziel" heißt beiderseits -: „Wir haben es geschafft!" – die beiden kommen sich körperlich ganz nahe, küssen einander sogar schon vor dem Trank, und der wird tatsächlich, unter großem emotionellem Aufwand, zum „Sühneakt" für ihre unerlaubten Gefühle. Wie sich da, gemeinsam mit dem Orchester, die Spannung aufbaute, das war schon ein Liebeserlebnis für sich – auch für die Zuschauer und Zuhörer, mit einer prächtigen musikalischen „Entladung", neuem Atemholen und einem atemberaubenden 1. Akt-Finale.

Wohltuend auch, mit wie viel physischer Bewegung das Liebepaar einander im 2. Aufzug wieder begegnet. Er schiebt ein Sofa herein, beide schmeißen in Wegwerflaune mit Polstern um sich, spielen dabei die ganze Bühne aus. Zuerst zündet Isolde zwei Liebeskerzen an, die sie dann singend in Händen halten, später stellt Brangäne noch einige mehr rund um das Liebessofa auf. Auch bei der allmählichen äußeren Beruhigung bis zum „O sink hernieder, Nacht der Liebe" tritt kein Nachlassen der inneren Erregtheit ein, wie sie vokal und mimisch vermittelt wird. Man singt exklusiv auf Linie, es gibt keinen forcierten Ton, dafür aber immer wieder herrlich crescendierte, mit Höhenglanz und scheinbarem Endlos-Atem sich öffnende Phrasen („Wie wäre seinen Streichen die Liebe selbst zu erreichen", „So stürben wir, um ungetrennt…). Fabelhaft!

Nicht vergessen werden darf allerdings, in welchem Ausmaß die beiden „Begleitpersonen" am Drama beteiligt sind. Eine bildhübsche, schlanke jungfräuliche Brangäne stellte sich vor: Daniela Sindram, die mit geschmeidigem, schön timbriertem, mühelos sich in Höhen und Tiefen bewegendem Mezzosopran beinah spielerisch ihre Herrin betreut, Schützenhilfe leistet, Angst hat um sie und unter großer Selbstüberwindung den vermeintlichen Todestrank durch den – vermeintlichen - Liebestrank ersetzt. Auch Michael Volles Kurwenal ist ein Prachtkerl. Mit ganzkörperlichem Einsatz und saft- und kraftvoller, ausladender Stimme bringt er Freundschaft, Ergebenheit, Ritterlichkeit, Ironie, Spott, Angst und Verzweiflung, kurz: lebendiges Leben mitreißend zum Ausdruck. In ihrer beider Reaktionen spielt sich immer noch ein zusätzliches Stück Drama ab.

Der 2.Akt war zunächst musikalisch ein einziges Eintauchen in Liebesseligkeit und erwies sich im weiteren Verlauf als unsäglich aufregende und ergreifende Psycho-Tragödie. Der noble König Marke von René Pape führte sie ihrem Höhepunkt zu. Nachdem er, immer leiser werdend und immer noch schöner singend, seinem sonoren Bass Töne tiefen menschlichen Verständnisses abgewonnen hat, kniet er vor Isolde nieder, sie zeigt sich beschämt, er hält ihre Hände fest, sie geht jedoch auf Tristan zu. Beim „unerforschlich tief geheimnisvollen Grund" legt er seine Hand auf Tristans Schulter, der zuckt zusammen, erwidert aber dann den Händedruck. Dass gerade jetzt, nach so viel Einsicht, als Marke die beiden zusammenführen will, Tristan Isolde den Weg in den Tod als einzige konsequente Lösung anbietet, wird zu einer unsäglich noblen Geste: Er kann Markes großzügiges Angebot jetzt weniger denn je annehmen.

Brangäne und Kurwenal haben, nebeneinander auf besagtem Sofa sitzend, alles mit angesehen, mitgedacht, miterlebt. Alle sind peinlich berührt von Melots brutalem Eingreifen. Melot (Francesco Petrozzi) kriegt schließlich Angst vor seiner eigenen Courage, möchte entweichen, wird aber von Tristan daran gehindert. Der tötet jedoch nicht den Verräter, sondern sich selbst. So etwas von feinfühliger Personenregie muss einem erst einmal einfallen – egal, von wem es kommt, vom Regisseur oder zusätzlich von den Sängern. Und dann noch ein 3.Akt – Tristans Abrechnung mit sich selbst. Früher, vor dem „Trank", stumm in sich hineinbrütend, jetzt sich laut artikulierend – eine Art Eigentherapie. Aber Treleaven ist kein wirklich kranker Tristan. Nicht nur blüht sein so angenehm ebenmäßig geführter Tenor, der in allen Lagen gleich gut und sicher anspricht, in den weit gespannten Sehnsuchts- und Leidensphrasen nochmals groß auf – dieser Tristan genießt seine Gefühle samt der imaginären Wiedervereinigung mit Isolde, lebt sie voll aus und bringt sie zu einem krönenden Abschluss, wie ich ihn noch nie gesehen habe: Stehend erstarrt er mit weit aufgerissenen Augen im Angesicht der auf ihn zutretenden leiblichen Isolde, sie artikuliert seinen Namen, erschrickt, weil sie nicht weiß, ob er sie noch hören kann oder nicht, und während er dann langsam niedersinkt, trotzt er sich noch ein unendlich ergreifendes letztes Lächeln und ein wunderschönes, klangreich crescendiertes „Isolde!" ab, ehe er tot umfällt. Sehr gut in den Nebenrollen noch Ulrich Ress (Seemann), Kevin Conners (Hirt) und Christian Rieger (Steuermann). Von gewaltiger „Schlagkraft" der von Andrés Maspero einstudierte Männerchor.

Einen unheimlichen Anti-Climax hat sich Konwitschny noch mit dem Schlachtgetümmel der hereindrängenden Matrosen einfallen lassen, die zuletzt alle als Leichen die Bühne bedecken. Und dann: „Mild und leise…" und Isoldes glaubwürdiges Einswerden mit Wagners „Weltatem" - in „höchster Lust". Es war irr schön!

Was für eine Macht über die Gemüter eine derart beglückende „Tristan"-Aufführung haben kann, zeigte nicht nur der Publikumsjubel nach allen 3 Akten, gerechtermaßen gleich verteilt auf alle Solisten, Dirigent und Orchester, sondern auch das Verhalten der Leute nach Vorstellungsende. Ich habe noch nie so viele Personen Hand in Hand, Arm in Arm, Arm um die Schulter des Partners, einander wohlwollend anlächelnd, der Garderobe zustreben gesehen. Ein Herr, mit dem ich zusammenstieß, „nomalerweise" ein Anlass zum Fluchen, legte mir liebevoll den Arm um die Hüfte und schob mich sanft in die richtige Richtung…Ich hatte das Gefühl, dass es nur noch Liebende im Haus gab. Das passiert eben, wenn man Wagner Wagner sein lässt, oder Mozart Mozart bleiben darf, oder …

Die neue Direktion der Bayerischen Staatsoper täte gut daran, sich das durch den Kopf gehen zu lassen. Und manche andere Intendanz auch.

Sieglinde Pfabigan

PS: In derselben Besetzung ist „Tristan und Isolde" nochmals am 30.11. (statt Heiki Siukola singt nochmals Treleaven!), und mit Waltraud Meier, Michelle de Young und Rootering als Alternativen am 30.6. und 4.7. 2008 zu erleben.